Schröders Botschaft von der selbstbewussten deutschen Nation
Nicht erst die Euro-Krise wirft die Frage auf: Ist Deutschland sich seiner selbst sicher? Ist es eine selbstbewusste Nation? Dieser Tage erscheint ein Buch über die rot-grünen Regierungsjahre mit erstaunlichen Passagen zum nationalen Selbstverständnis.
Sieben Jahre regierte Rot-Grün in Deutschland. Lang ist es noch nicht her, und doch gerät vieles von dem, was damals geschah, schon in Vergessenheit. Es versinkt in einer Gegenwart, die von einem Krisengipfel zum nächsten eilt und nur ungern zurückschaut.
Der Heidelberger Historiker Edgar Wolfrum hat es dennoch getan und diese rot-grünen Jahre in seinem Buch „Rot-Grün an der Macht – Deutschland 1998 – 2005“ auf über 800 Seiten wiederbelebt. Aus historischer Sicht kommt das Buch sicher ein wenig früh. Schließlich sind die Implikationen jener Jahre auf die aktuelle Politik in Deutschland und Europa enorm.
Finanzpolitischer Umbau
Der Euro, der in den rot-grünen Regierungsjahren mit viel Tamtam eingeführt wurde, droht zu scheitern. Die weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 und der ökonomische Niedergang Südeuropas sind Folgen der von der rot-grünen Regierung mitbetrieben Liberalisierung der Finanzmärkte. Insofern fällt eine Abgrenzung zwischen damals und heute schwer.
Vielleicht hat Edgar Wolfrum gerade deshalb nur wenige Zeilen auf den wirtschafts- und finanzpolitischen Umbau der Bundesrepublik verwendet. Flüchtig streift er die umfangreiche Steuerreform aus dem Jahr 2000 zugunsten der Wirtschaft und die zahllosen Gesetze zur Liberalisierung der Finanzindustrie. Und weil er sich bei diesen Fragen so kurz fast, ist es geradezu unverständlich, wie der Autor, der auf den 800 Seiten nur wenig analysiert und bewertet, ausgerechnet hier zu dem Urteil kommt, Rot-Grün habe den „weltweiten Trend in Richtung umfänglicher Deregulierung der Finanzmärkte […] eher gebremst“.
Als der Krieg nach Europa zurückkehrt
Stark ist das Buch in seiner Detail-Fülle und Dichte. Mit der Akribie des leidenschaftlichen Chronisten führt Wolfrum den Leser durch die durchweg aufregenden Jahre, voller äußerer und innerer, sprich hausgemachter Katastrophen. Es war die Zeit des Übergangs vom 20. ins 21. Jahrhundert, des politischen Aufbruchs und der Umwälzungen, die zu einer „Verwandlung Europas von historischem Ausmaß innerhalb eines nur sehr kurzen Zeitraums“ führte, wie Wolfrum schreibt.
Es sind Jahre, in denen der Krieg nach Europa zurückkehrt, al-Qaida die westliche Welt terrorisiert, und die „Globalisierung in vielfältigen Formen in die Lebenswelt der Menschen“ eindringt, so Wolfrum. Und weiter: „Insgesamt waren die Jahre zwischen 1998 und 2005 Schlüsseljahre für die weitere Entwicklung des Landes, das stärker als zuvor seiner globalen Verflechtungen gewahr wurde, sich unter dem Druck gesellschaftlicher Modernisierung befand und einen politischen Generationenwechsel durchlebte.“
Lafontaine will das Spielcasino schließen
Den Anfang macht ein fulminanter Wahlsieg Gerhard Schröders. Zum zweiten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik erringt die SPD mit 40,9 Prozent der Stimmen den ersten Platz in der Wählergunst.
Doch die Freude über den Sieg währt nicht lange. Bald schon wird sie von der Rivalität zwischen Schröder und Oskar Lafontaine überstrahlt. Lafontaine ist damals SPD-Vorsitzender und Finanzminister. Auch er wäre gerne Kanzler geworden. Jetzt führt er ein um zahlreiche Kompetenzen erweitertes Finanzministerium und will „die Architektur des Weltfinanzsystems“ erneuern und so dem „weltweiten Spielcasino entgegentreten“.
Mit diesem Ansinnen steht er allerdings nicht nur in der Bundesregierung, sondern weltweit allein da. Er bringt die Finanzindustrie, die US-Regierung und die Medien gegen sich auf. „Deutliche Rufe nach Regeln und staatlicher Steuerung sind viel jüngeren Datums; so gesehen kann sich Oskar Lafontaine durchaus als Vordenker bezeichnen. Doch in der Zeit selbst glaubte man, dass an den Börsen alles machbar sei und nur Minderbemittelte oder Gestrige nicht die Chancen ergriffen, ihr Geld schnell zu vermehren“, schreibt Wolfrum.
Auch Schröder vertritt grundsätzliche andere Ansichten in der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Wolfrum zeichnet den Kampf zwischen den beiden sehr genau nach, wie aus internen Sitzungen Informationen an die Medien gespielt werden, die Lafontaine schaden und schließlich nach nur sechs Monaten Regierungszeit zu Lafontaines Rücktritt am 11. März 1999 von allen Ämtern führen.
Schröder verkündet den Kampfeinsatz
Lafontaines Rückzug fällt in jene Wochen, in denen sich der Jugoslawien-Konflikt dramatisch zuspitzt. Die Nato beschließt einen Militärschlag. „Bleich wie ein Gespenst“ so Wolfrum, verkündet Schröder am 24. März 1999 in einer Fernsehansprache, dass sich erstmals seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wieder deutsche Soldaten in einem Kampfeinsatz befänden.
Die New York Times schreibt vom „Ende der Nachkriegszeit in Deutschland“. Die Koalition belastet der Krieg, die pazifistisch verwurzelten Grünen drohen gar daran zu zerbrechen. Auf der Sonderbundesdelegiertenkonferenz am 13. Mai 1993 wird Außenminister Joschka Fischer Opfer einer Farbbeutel-Attacke.
„Hier steht ein Kriegstreiber…
Wolfrum schreibt: „Das Bild vom scheinbar blutüberströmten Außenminister ist schnell zu einer bundesdeutschen Ikone geworden. Symbolhafter und medienwirksamer hätte das Ganze gar nicht inszeniert werden können.“
Zu den eindrucksvollsten Passagen des Buches zählt das Kapitel zum Irakkrieg und dem von Schröder postulierten „deutschen Weg“ in der Außenpolitik. Hier wird eine kaum bekannte Seite der rot-grünen Regierungszeit beleuchtet. Wolfrum legt offen, wie Schröder über sein erstmals beim Wahlkampfauftakt am 5. August 2002 in Hannover ausgesprochenes „Nein zum Irakkrieg“ das Selbstverständnis der Deutschen als internationaler Bündnispartner verändert.
Im Bundestag hatte er bereits in seiner Regierungserklärung 1998 gesagt: „Unser Nationalbewusstsein basiert eben nicht auf den Traditionen eines wilhelminischen Abstammungsrechts, sondern auch der Selbstgewissheit unserer Demokratie. Wir sind stolz au dieses Land, auf seine Landschaft, auf seine Kultur, auf die Kreativität und den Leistungswillen seiner Menschen. Wir sind stolz auf die Älteren, dieses Land nach dem Krieg aufgebaut haben. Wir sind stolz auf die Menschen im Osten unseres Landes, die das Zwangssystem der SED-Diktatur abgeschüttelt und die Mauer zum Einsturz gebracht haben.“ Und weiter: „Was ich hier formuliere, ist das Selbstbewusstsein einer erwachsenen Nation, die sich niemandem über-, aber auch niemandem unterlegen fühlen muss“, sagt Schröder. An anderer Stelle spricht er von einer „Nation des wohlverstandenen Eigeninteresses“.
Leider ordnet Wolfrum diese Aussagen, die stark auf die heutige Europolitik ausstrahlen, historisch nicht ein. So unterbleibt denn auch der Versuch einer Analyse, wie Schröder dieses neue Selbstbild der Deutschen entwirft und wie es in jener Zeit gesellschaftlich wahrgenommen wird. Auch an dieser Stelle bleibt der Heidelberger Historiker vor allem Chronist. Das gilt im Übrigen auch für die Hartz-Reformen.
Hartzund die Arbeitslosen
Wolfrum schildert zwar sehr den wirtschaftlichen Kontext mit 4,8 Millionen Arbeitslosen und nur 0,2 Prozent Wachstum. Die gesellschaftlichen und politischen Implikationen aber bleiben im Ungefähren.
Dennoch ist das Buch eine gelungene Darstellung der rot-grünen Regierungsjahre als umfassendes Reformprojekt, von dem bis heute nicht nur Hartz IV, sondern etwa auch die Ökosteuer, das Erneuerbare-Energien-Gesetz und der Posten des Kulturstaatsministers geblieben sind.
Zum Buch: Edgar Wolfrum, Rot-Grün an der Macht – Deutschland 1998 – 2005; 848 Seiten mit 37 Abbildungen. Erschienen bei C. H. Beck, ISBN 978-3-406-65437-4