Wie die Justiz nachträglich DDR-Unrecht legitimiert
Karl Alich wollte fliehen und kam in den Stasi-Knast. Er wurde freigekauft, kämpfte dann als Anwalt im Westen gegen DDR-Unrecht. Sein Fazit: "Die Gerichte legitimieren nachträglich Mauer und Todesstreifen." Sogar der Europäische Gerichtshof für Menschrechte...
Die Geschichten, die das Leben erzählt, gehen nicht immer gut aus. Ein halbes Leben hat Karl Alich gegen das Unrechtsregime der DDR aufbegehrt, die andere Hälfte kämpfte er als Anwalt gegen Urteile des wiedervereinigten Deutschland zum DDR-Unrecht, ist für die Rückgabe der einst von der DDR für den Todesstreifen und den Bau der Mauer enteigneten Privatgrundstücke von Gericht zu Gericht gezogen. Er hat sich von keiner Niederlage entmutigen lassen und scheute im März 2009 auch nicht davor zurück, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anzurufen. Ganze drei Jahre lag seine über dreißigseitige Beschwerde samt einer hundertseitigen Dokumentation des „erschöpften Rechtsweges“unter der Nr. 14844/09 in Straßburg. Drei Jahre der Hoffnung und des Wartens. Schließlich war der Gerichtshof für Menschenrechte war die letzte Instanz – und die größte Enttäuschung.
Mit einem knapp eine Seite langen Brief und einer lapidaren Erklärung wies eine Richterin seine Beschwerde jetzt ab. Zwischen dem 10. und 24. Januar 2013 hatte Helen Keller, unterstützt von einem Berichterstatter, die Beschwerde geprüft und für unzulässig erklärt. Es war jene Juristin Keller, die noch wenige Jahre zuvor als Professorin an der Universität Zürich in einem bemerkenswerten Aufsatz feststellte, dass sich die Belastung des Gerichtshofes „drastisch verschärft“ habe. Nun entschied sie im Januar 2013 in nur zwei Wochen ganz allein über Recht oder Unrecht von Todesstreifen und Mauerbau.
Justiz und Politik
„Sie hat wohl nicht ganz zu Unrecht angenommen, dass die von politischen Interessen geleitete deutsche Justiz bloßgestellt werden könnte“, sagt Alich. „Darum könnte sie das Verfahren auch ohne jeden Ansatz einer Begründung als unzulässig zu den Akten gelegt haben.“ Jedenfalls sei er mit seinem Bemühen juristisch gescheitert, „die Wechselwirkungen zwischen Justiz und Politik bei der Behandlung der Mauergrundstücke offenzulegen“. Alich vertritt die Ansicht, dass die deutsche Justiz mit ihrer Weigerung, die Enteignungen der Mauergrundstücke in Berlin nach dem anwendbaren entmilitarisierten Status zu prüfen, nachträglich DDR-Unrecht in Ost-Berlin legitimierte.
„Das hätte ich mir 1961 niemals träumen lassen“, sagt er. „Die Anklage des Unrechts des Mauerbaus durch Willy Brandt, das Bekenntnis Kennedys als Präsident der Schutzmacht USA vom Balkon des Schöneberger Rathauses, und nach dem Fall der Mauer: Verrat“, sagt Alich.
Riskante Flucht
Mit 23 konnte er das System, in dem er aufgewachsen war, nicht mehr ertragen. Dabei gehörte er noch zu den Privilegierteren. Sein Vater arbeitete als freier Architekt in Potsdam, sie besaßen ein Haus in der Innenstadt. „Dort hatte ich trotz widriger politischer Verhältnisse eine schöne Kindheit. Einmal die Woche zur Tante nach West-Berlin und bis zum 13. August 1961 die Aussicht auf freie Ausreise“, sagt er. Doch dann baute der SED-Staat die Mauer. Und nach dem Abitur und dem Dienst bei der Nationalen Volksarmee hatte sich Alichs Sicht auf die DDR grundlegend verändert.
Er fasste einen einsamen Entschluss, kaufte eine Bahnfahrkarte nach in die bulgarische Hauptstadt Sofia in der festen Absicht, nie zurückzukehren. In Sofia nahm er sich ein Zimmer in einer Pension, wo er immer wieder seinen Fluchtplan durchging. Er deckte sich gerade mit Konserven ein, als ihm ein Mann aus Westberlin über den Weg lief. Die beiden kamen ins Gespräch. „Der wollte seine Freundin über Bulgarien aus der DDR holen“, erinnert sich Alich. Sollten sie die Flucht gemeinsam wagen? Sie entschieden sich dagegen, verabredeten aber, im Westen sofort Kontakt mit den Ausreiseanwälten Jürgen Stange und Wolf-Egbert Näumann aufzunehmen und dem anderen zu helfen, falls etwas schief laufen sollte, zu helfen.
Scharfe Hunde und eine Kalaschnikow
In der Abenddämmerung eines warmen Sommertages Mitte Juni 1971 machte sich Alich auf den Weg. Mit Verpflegung für mehrere Tage im Rucksack marschierte er parallel zur Fernstraße von Sofia über Belgrad nach Zagreb querfeldein auf die jugoslawische Grenze zu. „Ich ging immer bei untergehender und aufgehender Sonne “, sagt er. Am dritten Tag erreichte er abends tatsächlich die Grenze. „Ich liefe immer bei untergehender und aufgehender Sonne. Tagsüber hatte ich mich im Unterholz versteckt.“ Er mied jeden Kontakt, bemühte sich, nicht gesehen zu werden, auch nicht von Zivilisten.
Am dritten Tag erreichte er abends tatsächlich die Grenze zwischen Bulgarien und Jugoslawien. In der Abenddämmerung überwand er die Stolperdrähte in unmittelbarer Grenznähe und glaubte sich fast schon in Freiheit. „Dann hörte ich einen lauten Ruf und zwei Feuerstöße aus einer Kalaschnikow“, erinnert er sich. Die scharfen Hunde der Grenzer hatten ihn gewittert.
Sofort wusste er, dass es vorbei war. Sollte er aufgeben oder sein Leben riskieren? Blitzschnell er entschied sich für sein Leben. „Ich wurde dann in das berüchtigte Hochhaus-Gefängnis nach Sofia gebracht“, sagt er. „Ich war froh, überhaupt noch am Leben zu sein.“ Drei Wochen hauste er dort zusammen mit anderen Gefangenen unter katastrophalen hygienischen Bedingungen. Die Bulgaren verhörten ihn Tag und Nacht, bis die Stasi ihn abholte.
Tag und Nacht Verhöre
Sie fuhren zum Flughafen und setzten Alich in ein kleines Stasi-Flugzeug. „Da waren außer den drei Offizieren, die mich abgeholt hatten, nur noch ein Pärchen, dessen Flucht ebenfalls gescheitert war“, sagt Alich. Nach der Landung in Berlin-Schönefeld schoben sie ihn einen als Kühlwagen für Fische getarnten Gefangenentransporter, der Alich nach Hohenschönhausen brachte. Hier wiederholte sich die Tortur aus Sofia. Wieder gab es für ihn weder Tag noch Nacht. Die Verhöre wurden so gelegt, dass er keine Ruhe, keinen Schlaf finden konnte. „Die wollten Namen, Namen, nichts als Namen“, sagt Alich. Aber sie bekamen keinen Namen, denn er hatte niemanden in der DDR in seinen Plan eingeweiht.
Nach einigen Wochen in Hohenschönhausen verlegte ihn der Geheimdienst ins Stasi-Untersuchungsgefängnis in der Potsdamer Lindenstraße. Gut drei Monate ließen sie dort schmoren, bevor ihm das Kreisgericht Potsdam den Prozess machte.
In der Zwischenzeit hatte der West-Berliner, der Alich in Sofia über den Weg gelaufen war, den West-Berliner Anwalt Wolf-Egbert Näumann eingeschaltet. Der wiederum hatte sich, noch bevor Alich aus Bulgarien in die DDR überführt wurde, an den Ost-Berliner Kollegen Wolfgang Vogel gewandt mit der Bitte, Alich vor dem DDR-Gericht zu vertreten. Vogel war als Organisator des ersten Agentenaustausches 1962 an der Glienicker Brücke und Unterhändler der DDR beim so genannten Häftlingsfreikauf weithin bekannt geworden. Vogel übernahm auch Alichs Fall. Davon erfuhr der Häftling jedoch erst viel später. „Die Stasi hat mich darüber mit keinem Wort informiert, sie haben mir nicht gesagt, dass ich den Verteidiger Dr. Vogel habe.“
40.000 West-Mark Kopfgeld
Das Kreisgericht Potsdam verurteilte Alich nach drei Verhandlungstagen im November 1971 schließlich wegen „versuchten Grenzübertritts in besonders schwerem Fall“ zu zwei Jahren und vier Monaten Gefängnis. Vogel schrieb seinem westdeutschen Kollegen: „Auf ausdrücklichen Wunsch des Mandanten läuft Berufung, von der ich mir aber wenig verspreche.“ Alich folgte dem Rat seines Anwalts und nahm seine Berufung zurück.
Nun begann in der Haftanstalt Cottbus das Warten auf die Ausreise in den Teil Deutschlands, in dem Willy Brand zwischenzeitlich Bundeskanzler geworden war und in dem Mauer und Todesstreifen noch als Unrecht angesehen wurden. „Eines Tages holten sie mich aus der Zelle und fuhren mich nach Chemnitz“, sagt Alich. „Dort war das Essen wieder halbwegs genießbar, und der Hofrundgang wurde ausgedehnt.“ Der Häftling sollte bei seiner Ankunft im Westen einen physisch gesunden Eindruck machen.
„Der Akt der Entlassung aus der DDR-Staatsbürgerschaft, wie es damals hieß, wurde von der Stasi in Chemnitz relativ unbürokratisch abgehandelt“, sagt Alich. „Immerhin winkte für jedes der verkauften Landeskinder ein Kopfgeld von durchschnittlich 40.000 West-Mark.“ Nach zwei Wochen in Chemnitz setzten sie ihn in einen Reisebus und fuhren ihn gemeinsam mit weiteren 40 „Freigekauften“ über die Grenze ins Notaufnahmelager Gießen. Sein neues Leben im Westen, da ist sich Alich sicher, hatte er „einem oder mehreren Schutzengeln zu verdanken, einer davon war Dr. Vogel“.
Jurist im Westen
Alich ging nach Berlin, studierte Jura an der FU, wurde Rechtsanwalt und rückte das DDR-Unrecht ins Zentrum seiner Arbeit. Es sollte eine Lebensaufgabe werden. Nach der Einheit klagte er als erstes auf Rückgabe des enteigneten Elternhauses in Potsdam. Weil er unerwartet schnell Erfolg hatte, meldeten sich zahlreiche Mandanten, die ihre ebenfalls enteigneten Grundstücke zurückerstreiten wollten. Viele davon lagen im ehemaligen Bereich von Mauer und Todesstreifen. Alich nahm die Fälle an, nicht ahnend, was da auf ihn zukommen würde.
Im Mauergesetz hätten alle juristischen Laster und Untugenden der deutschen Justiz eine Heimat gefunden, sagt er rückblickend: „Es ist ein Gesetz, das Unrecht von Mauer und Todesstreifen nicht beseitigt, sondern mit dem Feigenblatt einer Rückkaufoption mit Ewigkeitsstatut für immer aufrecht erhält.“ Und in diesem Zusammenfang führt er die Zeilen von Kurt Tucholsky an, der 1921 im Vorausblick auf die Nazi-Justiz schrieb: „Wo sich euch Rechte beugen, ist euer Vaterland!“
Eines der ersten Urteile zum Mauergesetz sprach das Verwaltungsgericht Berlin am 14. Februar 1994. Unter dem Aktenzeichen VG 31 A 11.93 stellte das Gericht fest, die Rückgabe enteigneter Mauergrundstücke wäre das „Einfallstor für die vom Vermögensgesetz im Einklang mit Art. 19 Einigungsvertrag gerade nicht gewollte Totalrevision des Verwaltungshandelns der DDR im Bereich der Enteignungen“. Alich kann das bis heute nicht nachvollziehen. „Die Richter sahen also im Einigungsvertrag die Enteignungen der DDR-Diktatur für den Bau von Tötungsanlagen, die sich gegen das eigene Volk richteten, als Rechtens an“, sagt er. Im Einigungsvertrag war der Grundsatz „Rückgabe vor Entschädigung“ festgeschrieben worden.
Gericht bestätigt SED-Regime
In dem Verfahren hatte sich die Klägerin von dem aus großen DDR-Schauprozessen bekannten Rechtsanwalt Dr. Friedrich Wolff vertreten lassen, der nach der Wende unter anderen Erich Honecker und Hans Modrow verteidigte. „Wie sehr muss es Wolff überrascht haben, als das Verwaltungsgericht Berlin ihm bestätigte, dass die Grenzziehung und alle damit im Zusammenhang stehenden Maßnahmen zwar als Teilungsunrecht, jedoch nicht als unlautere Machenschaften der DDR anzusehen wären“, sagt Alich. Später vertrat das Kammergericht im Beschluss vom 23. Dezember 1994 (4 W 7933/94) die Ansicht, mit dem Bau der Mauer sei der Vier-Mächte-Status des geteilten Berlin aufgehoben worden.
„Damit bestätigte das Gericht die Darstellung des SED-Regimes, wonach der Todesstreifen im Sinne des Gemeinwohls der DDR gewesen war und damit nicht verfassungswidrig“, sagt Alich. Mit seiner Auffassung stand er vor allen Gerichten, die nun anrief, allerdings alleine da: vor den Verwaltungsgerichten von Berlin und Potsdam, vor den Landgerichten von Berlin und Potsdam, vor dem Kammergericht und dem Brandenburgischen OLG, dem Bundesverwaltungsgericht in Leipzig, vor dem Bundesgerichtshof und vor dem Verfassungsgericht in Karlsruhe. Nach der Niederlage in Karlsruhe trat er den Gang nach Straßburg an. „Ich war überzeugt davon, dass das Recht dem Unrecht nicht weichen darf“, sagt Alich. „Am Ende musste ich einsehen, dass es nicht so ist.“
Er ist sich sicher, dass die von der Straßburger Richterin Helen Keller einst beklagte Arbeitsüberlastung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bei der Abweisung seiner Beschwerde eine Rolle spielte. „Niemand will hören, was alle wissen: Die Justiz des wiedervereinigten Deutschland hat den Zugriff der DDR auf Grundstücke zum Zweck des Mauerbaus letztlich aus finanzpolitischen Interessen heraus legalisiert“, sagt er. Bei so viel Überlastung sei dann auch wohl keine Zeit mehr für eine einziges Wort der Begründung gewesen.
Geschrieben für „Die Welt„