Die leeren Versprechen des Peter Hartz
Beinahe täglich war er im Fernsehen zu sehen. Doch inzwischen schwindet die Erinnerung an sein Gesicht. Seit jenem Samstag im Frühling 2005, als die „Bild“-Zeitung mit der Schlagzeile „Hartz und das Liebesmädchen“ erschien und dazu das Foto einer brasilianischen Prostituierten zeigte, mied er die Kameras. Denn von diesem Tag an stand sein Name nämlich auch für einen der größten Unternehmensskandale Europas, dem Schmiergeld- und Rotlichtsumpf bei Volkswagen. Auch heute noch lehnt er Talk-Showangebote ab. Denn wer weiß, ob die Moderatoren auch die richtigen Fragen stellen? Dabei hätte er zur Rekordarbeitslosigkeit in Europa als Folge der Schulden- und Wirtschaftskrise bestimmt einiges zu sagen.
An Ideen mangelte es ihm nämlich nie. Mit seinen Einfällen begeisterte Hartz Vorstände und Gewerkschaften gleichermaßen. Fast zweieinhalb Jahrzehnte war so etwas wie ein Magier der Arbeitswelt. Seine Vorschläge schienen der Wirklichkeit am Arbeitsmarkt eine zweite Dimension zu verleihen.
Als der internationale Wettbewerb zu Beginn der achtziger Jahre den Bergbau und die Stahlindustrie in seiner saarländischen Heimat dahinraffte, griff Hartz zum ersten Mal in seine Trickkiste. „Da wurde in ganzer Instrumentenkasten entwickelt, von der Umschulung bis hin zur Frühpensionierung“, sagte er einmal über sich selbst. Weil klar war, dass es für einen Großteil der Beschäftigten keine Zukunft in der Stahlindustrie und damit faktisch keinen Arbeitsplatz mehr gab, gründete er die Stahlstiftung. Er sammelte Geld und flocht ein Netz, dass die Arbeitslosen in Umschulungs- und Weiterbildungsmaßnahmen auffing. „Er hat Tausende Arbeitnehmer vor der Arbeitslosigkeit gerettet“, attestiert ihm der frühere IG-Metall-Chef Franz Steinkühler.
Arbeit geschaffen hatte er allerdings nicht. Hartz ersparte den Betroffenen den Gang zum Arbeitsamt und finanzierte ihnen über die Stiftung die Illusion, doch noch irgendwie zur bundesrepublikanischen Arbeitswelt dazuzugehören. Er verdrehte die öffentliche Wahrnehmung so, dass die Selbsttäuschung die Wirklichkeit besiegte.
„Meine Mutter hat ihre Söhne und Enkel immer gefragt: ,Bub, hast du Arbeit?’“, erzählt Hartz in Lutz Hachmeisters TV-Dokumentation. Und weiter: „Gerade in der arbeitenden Bevölkerung war dieses Gut, das Würde und Stolz gibt, dass man Arbeit hat, die bezahlt wird, Grundlage der Erziehung.“
Hartz wurde 1941 als jüngster von drei Söhnen als saarländischen Hüttenarbeiters geboren. Zu den Erinnerungen an seine Kindheit zählt auch die unmittelbare Erfahrung existenzieller Bedeutung bezahlter Arbeit. Er lernte Industriekaufmann, wurde auf dem zweiten Bildungsweg Betriebswirt. Gesellschaftlich entrückte er seiner Herkunft, doch auch wenn er schon bald Maßanzüge trug und einen VW-Phaeton fuhr, blieb die Kindheit im Milieu saarländischer Hüttenarbeiter Teil seiner Persönlichkeit. Diesem Peter Hartz mussten Gewerkschafter die Sorgen und Nöte der Arbeitnehmer nicht erst rational verständlich machen. Auf der anderen Seite fanden die Vorstandschefs beim Manager Hartz einen verständnisvollen Zuhörer.
So wurde Hartz auch bei VW zum Scharnier zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Renditeerwartungen und Beschäftigung. Als der damalige Vorstandschef Ferdinand Piëch ihm 1993 erklärte, das Unternehmen beschäftige 30.000 Arbeitnehmer zu viel, soll Hartz geantwortete haben, er sei nicht der Typ Manager, der 30.000 Mitarbeiter entlasse. Stattdessen erfand er die Vier-Tage-Woche. Damit ersparte dem Unternehmen rund zwei Milliarden Mark an Abfindungen und sicherte tatsächlich Arbeitsplätze – allerdings nur im Unternehmen selbst.
Was bei den Zulieferer-Betrieben passierte, darüber wurde in diesem Zusammenhang nicht gesprochen. Bei ihnen setzte der von Piëch aus Spanien importierte Manager José Ignacio López de Arriortúa die Daumenschrauben an. Tausende Mitarbeiter wurden Opfer seines Preisdrucks und verloren ihren Job, viele Firmen hielten dem nicht Stand.
Hartz hatte also nur den Bandarbeitern bei VW geholfen. Bundesweit verschärfte sich die Lage auf dem Arbeitsmarkt dramatisch. Ende der neunziger Jahre waren fünf Millionen Menschen ohne Arbeit, so viele wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. Daran änderte auch die von den Gewerkschaften durchgeboxte Arbeitszeitverkürzung nichts.
Die Politik war ratlos – und holte Peter Hartz, den Kanzler Schröder bereits aus seiner Zeit als niedersächsischer Ministerpräsident kannte. Wieder einmal sollte er die Wirklichkeit verbiegen, diesmal um das politische Versprechen auf Arbeit und gesellschaftliche Teilhabe als Illusion neu zu beleben.
Und als er dann im August 2002 Französischen Dom am Berliner Gendarmenmarkt seine Wundertüte mit den Hartz-Reformen ausschüttete, wollte er die Menschen Glauben machen, dass es auch unter den Bedingungen einer globalisierten Arbeitswelt und den exorbitanten Renditeerwartungen der Aktionäre und Finanzmärkte in den alten Industriegesellschaften Arbeit für alle gebe. Vollbeschäftigung sei einzig und allein eine Frage der richtigen Arbeitsvermittlung und des Drucks auf den Suchenden, lautete seine Botschaft. Das Publikum applaudierte.
Seine Wundertüte enthielt unter anderem Ich-AG’s, Mini-Jobs, Jobzentren, Personal-Service-Agenturen oder auch Bildungsgutscheine. Er erfand die „Schnellvermittlung“ durch Mobilitätszwang, weitete die Leiharbeit massiv aus und zementierte auf diese Weise Niedriglöhne in vielen Branchen zum Teil deutlich dem Existenzminimum.
In der öffentlichen Wahrnehmung spielte es keine Rolle, dass all die Mini-Jobber, Ich-AG’s und Leiharbeiter von ihrem Verdienst nicht leben konnten. Auch heute spricht kaum jemand darüber, dass die Zahl derer, die auf staatliche Sozialleistungen angewiesen sind, seither um 1,5 Millionen angestiegen ist. Allein wichtig ist, dass sie nicht mehr in der Arbeitslosenstatistik auftauchen. Das wollte Schröder erreichen, und das ist auch den nachfolgenden Regierungen wichtig gewesen.
Und Hartz hatte ihnen verschafft, was sie wollten. So wie er heimlich auch dem VW-Betriebsratsvorsitzenden Klaus Volkert einen Bonus von insgesamt zwei Millionen Euro gezahlt und eine brasilianische Hure finanziert hatte, damit der keinen Ärger machte, wenn Piëch für viel Geld Luxusmarken wie Bentley oder Bughatti kaufte. Hartz wollte die Illusion um jeden Preis, bis er sich selbst darin verlor und seine brasilianische Prostituierte die Geschichte der beiden an die Medien verkaufte.
Als er an jenem Freitagabend im Frühling 2005 erfuhr, dass „Bild“ die Story am nächsten Tag bringen würde, saß er noch gegen 23 Uhr im 13. Stock des VW-Bürogebäudes in Wolfsburg. Er war allein. Es müssen zutiefst einsame Stunden gewesen sein, bis der Sicherheitschef kam und ihm die alte Schweizer Armeepistole abnahm, die er seit einiger Zeit dort aufbewahrte.
*Peter Hartz lebt heute wieder im Saarland und entwickelt neue Arbeitsmarktkonzepte.