„Kann man von einem Selbsthass der Deutschen sprechen?“
Im Oktober vor 50 Jahren unterschrieben die Bundesrepublik und die Türkei das Anwerbeabkommen für Gastarbeiter. Aus diesem Anlass bat mich die türkische Tageszeitung "Zaman" nun um ein Interview. "Zaman" zählt zu den auflagenstärksten Zeitungen in der Türkei, und hat nach eigenen Angaben unter in Deutschland lebenden Türken und türkischstämmigen Deutschen die höchste Abo-Auflage. Die Zeitung gehört zur "World Media Group" und damit zur Bewegung des türkischen Predigers Fethullah Gülen, über den ich an anderer Stelle hier schon berichtet habe.
Zaman: Sie sind im Jahr 1961, in dem auch das deutsch-türkische Anwerbeabkommen abgeschlossen ist, geboren. Wie haben Sie die Veränderung in Deutschland persönlich wahrgenommen?
Günther Lachmann: Ich habe den Wandel gar nicht als solchen wahrgenommen. Man wächst ja als Kind in eine Welt, so wie sie ist, hinein. Da ich in einer Kleinstadt aufgewachsen bin, waren in meinem Umfeld kaum Ausländer. Und die wenigen, die ich in der Schule kennenlernte, hatten keine Integrationsprobleme. Sie sprachen alle bereits gut Deutsch und wurden aufgenommen wie alle anderen auch. Dass das Zusammenleben von Deutschen und aus dem Ausland zugereisten Mitbürgern ein Problem sein kann, erfuhr ich erst viel später in der Großstadt. Aber so richtig beschäftigt habe ich mich mit dem Thema erst als Journalist.
Was waren Ihre ersten Beobachtungen?
Günther Lachmann: Zuerst fiel ins Auge, dass Zuwanderer immer dort wohnten, wo sie unter sich sein konnten. Aber das ist ja in allen Ländern der Welt so. Also habe ich mir nichts weiter dabei gedacht. Dann kam es Anfang der 90’er Jahre zu den Mordanschlägen in Mölln und Solingen. Ich beobachtete, dass Ausländer oder Deutsche ausländischer Herkunft zum Feindbild von Rechtsradikalen wurden. Rechtsradikalismus hatte es zwar in der alten Bundesrepublik auch gegeben. Aber nach der Deutschen Einheit verstärkte sich das Problem zunehmend. In Ostdeutschland offenbarten sich nun die verheerenden Folgen einer jahrzehntelangen DDR-Diktatur unter anderem als gewaltbereiter Rechtsradikalismus.
Von den etablierten Politikern war es ja der sozialdemokratischer Kanzler Helmut Schmidt, der vor der „Türkengefahr“ gewarnt hat.
Günther Lachmann: Das stimmt so nicht. Kein deutscher Politiker hat jemals von einer „Türkengefahr“ gesprochen. Als Schmidt regierte, wurde den Deutschen erstmals bewusst, dass die Ausländer, die sie selbst als Gastarbeiter ins Land geholt hatten, länger blieben als erwartet oder gar nicht mehr gehen wollten. Das war für alle eine ernüchternde Erkenntnis. So entstand in den 70`er Jahren eine Debatte darüber, wie viele Ausländer Deutschland verträgt. Dahinter verbarg sich vor allem die Sorge, Ausländer könnten Deutschen die Arbeitsplätze wegnehmen. Es waren die Jahre der Ölkrise, in deren Folge die Konjunktur in Deutschland erstmals ernstlich einbrach. Die Zahl der Arbeitslosen stieg stetig an, der Bedarf an Arbeitskräften sank. Schmidt war dann der erste Kanzler, der die gesellschaftliche Herausforderung einer notwendigen Integration erkannte und schuf Ende der 70er Jahre das Amt des Ausländerbeauftragten.
Das Problem wollte Helmut Kohl dann, der den Vorschlägen des Ausländerbeauftragten Kuhn kein Interesse zeigte, über die Förderung der Rückkehr von türkischen Arbeitnehmern in Ihre Heimat lösen.
Günther Lachmann: Das war zweifellos ein Rückschritt. Und schon gar keine Lösung.
Sie nannten die Morde von Mölln und Solingen Pogrome. Welche Rolle hat den die Politik damals gespielt?
Günther Lachmann: Die Politik schien überfordert zu sein. Damals kam eine große Zahl von Asylbewerbern nach Deutschland, denn Deutschland hatte das liberalste Asylgesetz der Welt. Irgendwann aber waren die Aufnahmekapazitäten erschöpft, die Asylheime überbelegt. Um der Lage Herr zu werden, wurden die Asylbewerber in Turnhallen, Schulgebäuden und sogar Zelten untergebracht. Das änderte vor allem die Wahrnehmung in den ländlichen Gebieten und vor allem in Ostdeutschland, wo die Bürger bis dahin noch nie mit Ausländern zusammengelebt hatten. Plötzlich aber begegneten sie ihnen tagtäglich auf der Straße, denn Asylbewerber dürfen nicht arbeiten. Die Wahrnehmung in der Gesellschaft war: „Wir müssen arbeiten, und die bekommen Geld fürs Nichtstun.“ Den verantwortlichen Politikern ist es zunächst nicht gelungen, Antworten auf die Asylfrage zu geben. In den Medien debattierten man darüber, ob die Flüchtlinge Lebensmittelmarken statt Geld bekommen sollten und eine Verschärfung der Asylgesetze. Die Atmosphäre war insgesamt aufgeladen. Vor Ort kam es immer wieder zu Konflikten.
Die Ausländerfrage war doch bis vor einigen Jahren ein negativ besetztes Dauerthema der Politik, insbesondere vor den Wahlen. Ein Beispiel waren hessischen Landtagswahlen 1999.
Günther Lachmann: Das würde ich so nicht für die gesamte politische Klasse sagen. Zweifellos hat der damalige hessische Spitzenkandidat Roland Koch die Debatte um die doppelte Staatsbürgerschaft erfolgreich für seine Zwecke instrumentalisiert. Aber das war ein Einzelfall.
Seine Haltung zeugt nicht gerade von Weltoffenheit und Toleranz. Warum tun es sich die Deutschen so schwer mit den Ausländern?
Günther Lachmann: Die Deutschen sind schon weltoffen und tolerant. Die Gastarbeiter, von denen viele mittlerweile eingebürgert sind, können hier leben wie sie wollen. In ihrer Religionsausübung haben etwa Muslime in Deutschland mehr Freiheiten als in vielen ihrer Heimatländer. Ich würde uns Deutschen am ehesten Ignoranz vorwerfen, eine Gleichgültigkeit in Bezug auf das Leben der Zuwanderer. Die Botschaft der Mehrheitsgesellschaft an die Ausländer war: „Richtet euch ein wie ihr wollt, aber lasst uns in Ruhe.“ Und die Ausländer haben sich genauso verhalten. Die Folge ist, dass es mehr Nebeneinander als Miteinander gibt.
Wie viele deutsche freuen sich denn, dass es seit 50 Jahren fast 3 Millionen Türken in Deutschland leben?
Günther Lachmann: Die überwältigende Mehrheit. Die Türken und all die anderen Gastarbeiter haben Deutschland kulturell bereichert. Deutschland wäre ärmer ohne sie.
Mit den Gastarbeitern kam ja auch der Islam nach Deutschland. Hatten die Deutschen damit ein Problem?
Günther Lachmann: Mit dem Islam als Religion hatte kein Mensch ein Problem. Man hat die türkischen Arbeiter als Türken angesehen und nicht als Muslime. Bis zu den schrecklichen Ereignissen des 11. Septembers 2001 war der Islam auch kein gesamtgesellschaftlich relevantes Thema. Erst als Al Qaida den Islam für ihren Terror instrumentalisiert hat, begann die Diskussion über den Islam.
Und der Westen hat den Blick auf dem Islam von Al Qaida übernommen?
Günther Lachmann: Das würde ich so nicht stehen lassen. Es gibt Rechtspopulisten, die den Menschen einreden wollen, der Islam bringe Terroristen hervor. Das ist eine Besorgnis erregende Entwicklung. Aber in Deutschland ist immer klar gesagt worden: Terroristen missbrauchen den Islam für ihre Zwecke. Was der Westen vermist hat, war eine deutliche Distanzierung der muslimischen Vertreter vom Al-Qaida-Terror.
Oder man hat diese Stimmen nicht hören wollen. Fethullah Gülen zum Beispiel hat das sofort nach dem Anschlag auf die Zwilling-Tower gemacht. Und er war nicht der einzige.
Günther Lachmann: Das ist wahr. Vielleicht ist er deshalb nicht wahrgenommen worden, weil ihn kaum jemand im Westen kannte. Vielleicht waren westlichen Medien unmittelbar nach den Terroranschlägen 2001 auch zu sehr damit beschäftigt, einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Islam und dem Terror zu suchen. Schließlich stellten sie aber doch fest, dass es ihn nicht gibt. Einsseitig haben aber auch bestimmte muslimische Gruppen auf den Westen reagiert. Ich erinnere mich an eine Begegnung mit einem Lehramtstudenten in der Mannheimer DITIB-Moschee. Er vertrat die Position, dass Muslime und Christen grundsätzlich anders seien und sagte mir: „Wir sind nicht wie ihr. Wir trinken beispielsweise keinen Alkohol.“ Es gab also eine Konfrontation zwischen orthodoxen Muslimen, die sich als etwas Besseres ansahen, und den deutschen Mitbürgern. In Diskussionsrunden musste mir sehr oft Vorwürfe und unberechtigte Beschuldigungen anhören.
Welche denn?
Günther Lachmann: Ich sei ein Islamhasser und würde schlechte Artikel über die Religion schreiben, von der ich keine Ahnung hätte. Ich glaube in den letzen 10 Jahren haben beide Seiten sehr viel Luft abgelassen. Das war vielleicht auch notwendig. Jetzt haben wir all das aber hinter uns.
Wie würden Sie die Beziehung der Deutschen zu sich selbst beschreiben. Kann man von einem Selbsthass der Deutschen sprechen?
Günther Lachmann: Nein, dass glaube ich nicht. Warum denn auch?
Die Tatsache, Angehöriger einer Nation zu sein, die zwei Weltkriege verursacht hat, beide verlor und zudem die Schuld des Genozids an den Juden mit sich trägt, müsste doch Auswirkungen auf das Selbstbild haben?
Günther Lachmann: Die Deutschen sind sich ihrer Schuld bewusst, und die beiden Weltkriege und der Genozid haben die Identität der Deutschen geprägt. All dies ist tief im Bewusstsein der Gesellschaft verwurzelt. Die Politik aller Bundesregierungen hat dem in jeder Hinsicht Rechnung getragen und geht auch heute verantwortungsvoll mit diesem schweren Erbe um.
Hat die Last der Geschichte auch Auswirkung auf die Beziehung zu den Ausländern?
Günther Lachmann: Nein, ich glaube nicht. Die Suche nach einer neuen Identität hat die Deutschen auch neugierig auf andere Kulturen gemacht. Es sind ja nicht nur Arbeiter aus dem Ausland nach Deutschland gekommen, Millionen Deutsche sind ins Ausland gegangen.