Minarette vor leeren Kirchen
Das Thema ist zu brisant, um es auf die leichte Schulter zu nehmen. Immerhin geht es um das religiöse Leben in Deutschland, das in aller Stille einen historischen Wandel vollzieht. Und wer wüßte das besser als eine alte Ordensfrau. Während katholische und protestantische Kirchen schließen, weil die Zahl der Gläubigen abnimmt, werden vielerorts Moscheen gebaut.
Jetzt erst, nach gut 40 Jahren Zuwanderung, verläßt der Islam endgültig die Hinterhöfe. Er wagt den Weg in die Öffentlichkeit, heraus aus dem Verborgenen, das ihn immer auch dem Verdacht des Zwielichtigen aussetzte. Zu Beginn des neuen Jahrtausends zieht die Religion des Propheten Mohammed mit der ihr eigenen Architektur in deutsche Städte und wird deren Gesicht dauerhaft verändern.
Leichten Fußes schwebt Schwester Simone voran über eine knarrende Holztreppe, vorbei an verblichenen Wänden mit schweren Schränken, die sich bei jedem Antiquar spielend leicht unterbringen ließen. Alles hier atmet den Geist einer anderen Zeit, die mehr als ein Menschenleben weit zurückliegt und nun durch diese Räume und Möbel wieder Gestalt annimmt, und durch die Worte, die Schwester Simone mit Bedacht wählt.
Sie erzählt davon, wie sie zu den „Schwestern vom göttlichen Erlöser“ kam. Sie erzählt von der Armut der Landbevölkerung, die in die Stadt zog, und daß die Nonnen in die Familien gingen und dort soziale Arbeit leisteten. Schwester Simone sitzt jetzt aufrecht an einem schweren Holztisch. Ihre Hände ruhen auf der Tischplatte, sie sind wie zum Gebet gefaltet.
Über 180 Ordensschwestern waren sie früher einmal in Mannheim. Heute sind sie noch acht. Der Orden hat seinen Schwerpunkt nach Indien verlagert. Dort gibt es genügend Nachwuchs. Schwester Simone sagt das alles ohne jeden Unterton. Sie bezeugt das Geschehene. Urteile maßt sie sich nicht an. Auch nicht darüber, daß die Türken ihre Yavuz-Sultan-Selim-Moschee der stolzen, neugotischen Liebfrauenkirche direkt vor die Tür setzten. Obwohl das damals viele Kirchenobere ziemlich unverfroren fanden, bis der Pfarrer der Liebfrauenkirche über Nacht seinen Widerstand aufgab. Warum?
Schwester Simone tut so, als habe sie die Frage überhört. „Wir kommen gut mit denen aus“, sagt sie. Vor zwanzig Jahren schickte sie der Orden in diese Gemeinde. Damals habe es immer wieder Kontakte „mit denen“ gegeben. „Aber die hatten meistens Angst, daß sie vereinnahmt werden“, erinnert sie sich, wobei sie die Muslime in der dritten Person Plural selbst deutlich auf Distanz hält.
Vielleicht, weil sich das Leben in dem Viertel rund um die Liebfrauenkirche grundlegend gewandelt hat. Bis zu dreitausend Muslime strömen jedes Wochenende zum Gebet in die Moschee. Gerade mal 150 der insgesamt noch in Jungbusch lebenden 2000 Katholiken besuchen sonntags die Heilige Messe. Die ehemals ethnische und religiöse Mehrheit ist über die Jahre zur Minderheit geschrumpft.
Bei „denen dort drüben“, wie Schwester Simone sagt, sieht auch alles ganz anders aus als in dem alten Pfarrgebäude. Kaum 20 Meter weiter also, am Luisenring 28 bis 30, strahlt die weiß getünchte Moschee im gleißenden Sonnenlicht, das sich durch viele kleine Fenster in den Gebetsraum ergießt, dort zunächst die schweren Kronleuchter umspielt und von den mit Koran-Suren verzierten Wänden reflektiert wird, bevor es in dem staubfreien blauen Teppich versinkt.
Faruk Sahin empfängt in der Moschee-Bibliothek eine Besuchergruppe der Konrad-Adenauer-Stiftung. Aus respektvollem Abstand starren die jungen Frauen und Männer auf die Regale füllenden Bücher hinter Sahin. Bis auf eine Handvoll Koranausgaben in deutscher Übersetzung sind sie allesamt in Türkisch verfaßt. Sahin ist 28 Jahre alt und für sein Alter ziemlich füllig. Er trägt einen Vollbart ohne Schnauzer und eine verkehrt herum aufgesetzte Baseball-Kappe. „Zu uns kommen jede Woche vier bis fünf Besuchergruppen“, sagt er und legt seinen neuen Taschencomputer beiseite. Entweder seien es Schüler, Lions-Club-Mitglieder oder die Bundeswehr. Alle wollten sie den Islam kennenlernen.
Die Yavuz-Sultan-Selim-Moschee gehört zur Türkisch Islamischen Union der Anstalt für Religion e.V., kurz DITIB genannt. Die DITIB ist dem türkischen Religionsministerium in Ankara angegliedert. Sie wird bundesweit durch 860 Moscheevereine repräsentiert. Bis heute ist die Yavuz-Sultan-Selim-Moschee die größte Deutschlands. „Wir sind politisch fest mit unserem Heimatland verbunden“, sagt Sahin, dessen Staatsbürgerschaft die deutsche ist.
Derzeit sind elf neue DITIB-Moscheen in Bau. Pläne für eine neue Zentrale in Köln liegen fertig in der Schublade. Längst nicht allen gefällt, was die Türken da vorhaben. Auf einer Informationsveranstaltung in Köln-Ehrenfeld skandierten empörte Bürger: „Wir sind das Volk.“ Und als es hieß, daß rund 120 000 Muslime in der Stadt leben, rief einer: „Das sind hunderttausend zu viel.“ Einigen wird jetzt erst bewußt, daß inzwischen 15 Millionen Menschen in Deutschland leben, die einen Einwandererhintergrund haben. Mindestens 3,5 Millionen davon sind Muslime.
Sahin setzt eine trotzige Miene auf. „Wir haben unser Leben in Deutschland eingerichtet. Wir sind ein Teil Deutschlands geworden. Jetzt wird auch der Islam ein sichtbarer Teil Deutschlands werden“, sagt er. Das bedeute aber nicht, daß sie nun auch wie die deutsche Mehrheitsgesellschaft würden. „Wir sind anders“, sagt Sahin, der Lehrer für Mathematik, Physik und Chemie werden will und in einem Atemzug zwischen akzentfreiem Deutsch und Türkisch wechselt. An der Uni geht er zu keiner Party. „Alkohol ist unrein“, sagt er. „Da bleibe ich lieber für mich.“ Er geht in die Teestube und zündet sich eine Zigarette an. In der Nikotinsucht sieht er ein läßliches Laster. Nur wenige hier, unter ihnen die Jungs und Mädels von der Konrad-Adenauer-Stiftung, rauchen nicht.
An diesen jungen Leuten hätte Schwester Simone drüben im Pfarrheim wohl ihre Freude. Mit ihren Sandaletten und Sommerkleidern, den hellen Baumwollhosen und Manschettenknöpfen erinnern sie an das Bürgerlichkeitsideal der frühen 60er Jahre. Aber das sind eben nur Äußerlichkeiten.
Denn damals saßen die Bürgerlichen noch jeden Sonntag in der Kirche. „Das war eine andere Zeit“, sagt Schwester Simone mit einem Hauch von Wehmut in der Stimme, der sie noch weiter zurückträgt. „Vor über hundert Jahren ließ der Bischof gleichzeitig sechs Kirchen bauen“, sagt sie. Heute gibt es im Zentrum noch vier katholische Gotteshäuser. Sie werden von einem Jesuiten-Pater und einem Dekan betreut. Und drei dieser Kirchen wären eigentlich überflüssig.
Wie brisant die Lage zuweilen ist, zeigen die von den Bistümern beschlossenen Maßnahmen. Bei den Protestanten sind vor allem die Nordelbische Landeskirche und Berlin betroffen. Seit 2002 seien in Hamburg und Schleswig-Holstein von 1000 Kirchen 20 „außer Nutzung genommen“ worden, schreibt die Nordelbische Kirche. Die Zahl der Kirchengebäude, über deren Fortbestand „mehr oder weniger intensiv diskutiert“ werde, könne ungefähr „ebenso hoch“ angesetzt werden. „Die Veränderung von Bevölkerungsstrukturen in manchen städtischen Wohngebieten führt dazu, daß der christliche nicht nur gegenüber dem kirchlich nicht gebundenen Bevölkerungsanteil, sondern auch gegenüber dem nichtchristlichen Religionen angehörenden Bevölkerungsanteil in den Hintergrund tritt.“
Auf katholischer Seite mußte das Erzbistum Köln bereits 21 Gotteshäuser etwa orthodoxen Kirchen und drei den Protestanten überlassen. Zehn Kirchen wurden verkauft und zu Wohnungen umgebaut, für rund ein Dutzend blieb am Ende nur noch die Abrißbirne.
Im hohen Norden ist die Lage keineswegs entspannter. So gab das Erzbistum Hamburg in Schleswig-Holstein 17 Kirchen auf, in Mecklenburg-Vorpommern sechs. Die meisten wurden verkauft und beherbergen heute unter anderem eine Schlosserwerkstatt, ein Steinmuseum, ein Bestattungsunternehmen, ein Architekturbüro und Wohnungen. In Essen wagt Ruhrbischof Felix Genn den Radikalschnitt. Er läßt bis zum Jahr 2008 die bisher 259 Pfarrgemeinden zu 42 Pfarreien zusammenschließen, 96 Kirchen will er dabei „aufgeben“.
Dazu gehört auch St. Paul in Duisburg-Marxloh, ein Stadtteil mit über 50 Prozent Ausländeranteil, dessen Lebensader die Weseler Straße ist. In den vergangenen Jahren hat sie sich zu „der“ muslimischen Einkaufsmeile für Braut- und Abendmode gemausert. Die Kunden reisen aus Belgien, Holland und sogar aus England an.
Hier wundert es niemanden, daß nun in einer Seitenstraße jene Moschee entsteht, die der Yavuz-Sultan-Selim-Moschee in Mannheim bald Platz eins unter den größten muslimischen Bauten in Deutschland streitig machen wird. Der Bau in Marxloh ist schon bis hinauf zu den Kuppeln fortgeschritten. Ende des Jahres soll die Moschee fertig sein. Die Gemeinde nennt sie „Das Wunder von Marxloh“. Zum einen, weil sie darauf stolz sind, zum anderen, weil gegenüber, in der inzwischen abgerissenen Arbeitersiedlung, Szenen des Films „Das Wunder von Bern“ gedreht wurden.
„Unsere Moschee soll auch ein Zentrum für interkulturellen Dialog werden“, sagt Züfisiyah Kaykin. Dieser Dialog soll in einer Begegnungsstätte stattfinden, die in der Moschee untergebracht wird und deren Geschäftsführerin die zierliche Frau Kaykin ist. „Wir wollen nicht mehr Gast, sondern auch Gastgeber sein“, fügt Mehmet Özay, Vorsitzender der türkisch-islamischen Gemeinde, hinzu.
Mehrmals wöchentlich treffen sich die beiden auf einen Tee mit Vertretern der Stadt und der Muslime im Bau-Container auf dem Moschee-Gelände. Die Wände sind mit Bauplänen „tapeziert“. Der Entwurf stammt von einem Architekten in der Türkei, die Bauausführung haben sie einem deutschen Büro übertragen. Proteste wie in Köln oder andernorts gab es hier nicht. „Im Gegenteil, die christliche Gemeinde ist nach dem Karfreitagsgottesdienst zu uns gekommen und hat mit uns gemeinsam den ersten Spatenstich gefeiert“, betont Frau Kaykin in aufgekratztem niederrheinischem Singsang.
Hier und da gibt es wohl Ansätze für einen christlich-islamischen Dialog. Fast immer geht er von den christlichen Kirchen aus. Es sind vor allem die liberaleren Protestanten, die den Kontakt suchen.
Auch Schwester Simone in Mannheim nimmt gelegentlich an Gesprächsrunden mit Muslimen teil. Besonders interessiert war sie an jener, die in den Räumen der islamistischen Milli-Görüs-Organisation stattfand. „Die werden doch vom Verfassungsschutz beobachtet“, sagt Schwester Simone mit bedeutungsvollem Blick. „Da saßen vollständig verschleierte Frauen am Tisch, die haben die ganze Zeit nichts gesagt. Ich frage mich, was in solchen Frauen vorgeht.“
An diesem Abend wurde eine christlich-muslimische Reise nach Rom geplant. Außerdem ging es um den Bau einer weiteren Moschee. Denn auch Milli Görüs baut in vielen Orten, ebenso die Ahmadiyya-Bewegung und der Verein islamischer Kulturzentren. „Vielleicht ist es gar nicht schlecht, daß eine Moschee direkt neben der Liebfrauenkirche gebaut wurde“, sagt Schwester Simone, „wer weiß, ob unsere Kirche sonst nicht schon geschlossen wäre?“ Tja, wer weiß. Hatte nicht der damalige Pfarrer von einem Tag auf den anderen seinen Widerstand gegen den Moscheebau aufgegeben?
Günther Lachmann für die Welt am Sonntag. Der Beitrag erschien am 2. Juli 2006.