Sozialdemokraten wollen wieder liberal sein
Kaum hat die FDP eine neue Führung und geht auf Konfrontationskurs zur Union, da melden sich aus Hamburg 100 zumeist junge Sozialdemokraten, die sich dem Liberalismus verschrieben haben. Sie nennen sich „Kreis Liberaler Sozialdemokraten“, sehen sich in der Tradition des 1959 beschlossenen Godesberger Programms und haben als Redner für ihre Auftaktveranstaltung am 23. Juni in der Hamburger „Bucerius Law School“ Manfred Lahnstein gewonnen, der bekanntlich Wirtschaftsminister in der letzten von Alt-Kanzler Helmut Schmidt geführten sozial-liberalen Koalition war.
Ein Positionspapier haben die Sozial-Liberalen auch gleich verfasst. Darin fordern sie eine Rückbesinnung auf die Ära Willy Brandts und Schmidts. Spätestens seit Godesberg sei die SPD vom „liberalen Geist“ erfüllt. „Wir plädieren dafür, uns dessen wieder bewusst zu werden und unsere Leistung anzuerkennen und fortzusetzen“, schreiben sie.
Mit ihrem Papier wollen sie den „gesellschaftlichen und innerparteilichen Diskurs“ anregen. Dabei hofft die Gruppe auf eine „offene und kritische Auseinandersetzung“. Ihre Mitglieder wollen etwas bewegen, sie wollen gestalten und fürchten offenbar, dass die SPD diesen Antrieb gar nicht mehr verspürt. So sei der von ihnen erhoffte Diskurs „kein Selbstzweck“. „Statt gedankenreicher Tatenlosigkeit wollen wir auf der Grundlage unseres Selbstverständnisses mit Tatendrang und Mut neue Lösungen für eine sich wandelnde Gesellschaft erarbeiten und unsere Ziele verwirklichen“, schreiben sie.
Zu den „Liberalen Sozialdemokraten“ zählen Bürgerschaftsabgeordnete, Bezirksabgeordnete und Gewerkschafter wie der Landesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei in Hamburg, Uwe Kossel. Sprecher der Gruppe sind die beiden Jura-Studenten Frédéric Schneider und Danial Ilkhanipour.
Ungewöhnlich sind solche Kreise innerhalb demokratischer Parteien nicht. In ihnen kanalisiert sich das in den Organisationen vorhandene breite Meinungsspektrum. Bei der SPD etwa gibt es bereits den „Seeheimer Kreis“, der als rechte Parteiflügel gilt. Ihm gegenüber steht das „Forum Demokratische Linke“ als linker Parteiflügel, der sich in der Bundestagsfraktion „Parlamentarische Linke“ nennt. Zwischen „Seeheimern“ und „Linken“ haben sich die „Netzwerker“ zusammengetan.
In der CDU gründete sich jüngst erst als Pendant zum „Evangelischen Arbeitskreis“ ein „Arbeitskreis engagierter Katholiken“. Die meisten Strömungen und Flügel aber dürften in der Partei „Die Linke“ zu finden sein. Ihre bekanntesten sind die „Antikapitalistische Linke“, die „Kommunistische Plattform“ oder etwa das „Forum demokratischer Sozialismus“.
Es ist purer Zufall, dass die personellen Neuordnung der FDP und die Bildung der Liberalen Sozialdemokraten nun zeitlich zusammenfallen. Die Idee entstand schon nach der verheerenden Niederlage bei der Bundestagswahl 2009, als sich die Partei insgesamt neu erfinden wollte. „Das haben wir ernst genommen“, sagt Ilkhanipour.
Aber es passt halt gut, dass nun auch die FDP dabei ist, sich neu zu erfinden und wieder eine Partei sein will, die in der liberalen Idee mehr sieht als die ökonomische Spielart des Neoliberalismus. „Die FDP muss sich grundlegend ändern“, sagt Ilkhanipour. „Möglicherweise ist sie schon dabei.“
Wie sehr sich das Politikverständnis der Liberalen in den vergangenen Jahrzehnte geändert hat, zeigt ein Blick zurück auf jene Zeit, als der führe SPD-Chef und Bundeskanzler Willy Brandt zusammen mit dem liberalen Außenminister Walter Scheel seine Ostpolitik umsetzte. In ihren Freiburger Thesen aus dem Jahr 1971 etwa forderte die FDP eine Reform des Kapitalismus. Wörtlich heißt es dort: „Der Kapitalismus hat, gestützt auf Wettbewerb und Leistungswillen des Einzelnen, zu großen wirtschaftlichen Erfolgen, aber auch zu gesellschaftlicher Ungerechtigkeit geführt. Die liberale Reform des Kapitalismus erstrebt die Aufhebung der Ungleichgewichte (…) Liberalismus fordert Demokratisierung der Gesellschaft. Nach dem Grundsatz: Die Gesellschaft sind wir alle! erstrebt der Liberalismus die Demokratisierung der Gesellschaft durch größtmögliche und gleichberechtigte Teilhabe aller an der durch Arbeitsteilung ermöglichten Befriedigung der individuellen Bedürfnisse und Entfaltung der persönlichen Fähigkeiten.“
In dem Positionspapier der Liberalen Sozialdemokraten finden sich heute Sätze, die vermutlich auch der neu gewählte FDP-Chef Philipp Rösler unterschreiben könnte: „Sozialdemokratische Politik kämpft für Menschenwürde und Freiheit des Einzelnen, der als verantwortungsbewusstes Mitglied der Gemeinschaft in der Pflicht für seine Mitmenschen steht. Toleranz, Bürgerrechte und Partizipation für alle schaffen sozialen Frieden.“
Demokratietheoretisch gelten Liberalismus und der von Sozialdemokratie angestrebte demokratische Sozialismus gemeinhin als unvereinbar. Diese Argumentation vergisst aber nicht nur die oft erfolgreiche parlamentarische Zusammenarbeit von Sozialdemokraten und Liberalen, sondern auch, dass die soziale Idee historisch aus dem Liberalismus erwuchs. An dieser Stelle sei an einen Brief von Friedrich Engels an den sozialdemokratischen Politiker und Denker Karl Kautsky erinnert. „Der Liberalismus ist die Wurzel des Sozialismus, will man also radikal verfahren, so muss man den Liberalismus kaputtmachen, dann verdorrt der Sozialismus von selbst“, schrieb Engels am 5. März 1892.
In den Wirren des 19. Jahrhunderts war der Liberalismus lange Zeit fester ideeller und politischer Bestandteil der Arbeiterbewegung. So gründete die im Nationalverein zusammengeschlossene liberale und demokratische Bewegung den Vereinstags Deutscher Arbeitervereine (VDAV). Sie reagierten damit auf Ferdinand Lasalle, der zuvor den „Allgemeinen deutschen Arbeiterverein“ ins Leben gerufen hatte. Anfangs führten vor allem Linksliberale die Geschäfte des VDAV. Das änderte sich, als August Bebel zum Vorsitzenden gewählt wurde. Von da an nahm zeitweilig auch Karl Marx Einfluss auf die Organisation. Schließlich provozierten die Linken unter Bebels Führung die Trennung von den Liberalen und Demokraten und gingen getrennte Wege. Das hinderte Sozialdemokraten, Liberale und die Zentrumspartei 1919 jedoch nicht darin, die sogenannte „Weimarer Koalition“ zu bilden. Sie galt als „Vernunftregierung der linken Mitte“.
In der linken Mitte verorteten sich auch die sozial-liberalen Koaltionen Brandts und Schmidts in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ein. Nach deren Bruch am 1. Oktober 1982 durch die FDP entfernten sich SPD und Liberale inhaltlich immer weiter voneinander. Auch als die Sozialdemokraten später unter der Führung von Gerhard Schröder eng an das Arbeitgeberlager heranrückten und einen gemäßigten marktliberalen Kurs einschlugen, blieb die Kluft zu den Liberalen groß, die bereits in den neunziger Jahren den Weg zur reinen Klientel- und Steuersenkungspartei eingeschlagen hatten.
In seiner Antrittsrede als neuer Parteichef versicherte Rösler am Wochenende, dies rasch wieder ändern zu wollen. Seine Partei müsse sich auf ihren „klaren liberalen Kompass“ besinnen und sich wieder den Problemen der „ganz normalen Menschen“ im Alltag zuwenden, sagte er. Die Liberalen Sozialdemokraten aus Hamburg hörten diese Botschaft gern. Im Netz sind sie unter www.liberale-sozialdemokraten.de zu finden.
Günther Lachmann am 16. Mai für Welt Online