Hundert Jahre Türkei: Erdoğan beerdigt Atatürks Werk

Mustafa Kemal Pascha (rechts) / Atatürk / Quelle: Pixabay, lizenzfreie Bilder, open librarty: wikilmages; https://pixabay.com/de/photos/politiker-schwarz-weiß-60629/ Mustafa Kemal Pascha (rechts) / Atatürk / Quelle: Pixabay, lizenzfreie Bilder, open librarty: wikilmages; https://pixabay.com/de/photos/politiker-schwarz-weiß-60629/

Am 29. Oktober 1923 hob Mustafa Kemal Pascha in Ankara den türkischen Nationalstaat aus der Taufe. 100 Jahre später greift sein Nachfolger nach den Sternen.

Es gibt verschiedene Kulturen, aber nur eine Zivilisation, die europäische“, soll der 1881 im damals zum Osmanischen Reich gehörenden Saloniki geborene Mustafa Kemal Pascha ausgerufen haben. Mit diesem Diktum beschrieb der Gründer des türkischen Nationalstaats sein politisches Programm für die junge türkische Republik. Es war gänzlich auf Europa ausgerichtet, in dem Kemal Pascha die Zukunft für sein Land sah. Seine Politik war nichts weniger als eine Revolution für die türkische Gesellschaft, die eine neue Identität auf den Trümmern des Osmanischen Reichs suchte.

Glanz und Elend der Osmanen

Wie muss es sich für Sultan Mehmed VI. angefühlt haben, als ihn im Juli 1918 in der Istanbuler Eyüp-Sultan-Moschee die hohen Würdenträger mit dem Schwert des Dynastie-Gründers Osman umgürteten und er damit offiziell Herrscher des Reichs war? Sein Thron wankte bereits bedenklich, nicht allein durch die sich abzeichnenden Niederlage im Ersten Weltkrieg.

Die Hohe Pforte, wie der Sitz des osmanischen Sultanats hieß, hatte ihre jahrhundertelange Macht eingebüßt. Die europäischen Großmächte hatten vor dem Osmanischen Reich keine Angst mehr, anders als noch bei Mehmeds Vorfahren und Namensvetter Mehmed II. Jener war 1453 der Eroberer Konstantinopels und legte den Grundstein für die Großmacht am Bosporus. Welche Ironie der Geschichte, dass gut 450 Jahre später sein Namensvetter die Schlüssel zur Hohen Pforte abgeben musste.

Das Reich war ausgeblutet: überdehnt durch Provinzen auf der Arabischen Halbinsel und Nordafrikas, technisch und sozial rückständig und nicht zuletzt von Unruhen seiner Minderheiten wie den Arabern erschüttert. Die Sultane ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ruhten sich auf den verwelkenden Lorbeeren ruhmreicher Tage aus.

Während in Europa die industrielle Revolution Staaten wie Großbritannien und das Deutsche Reich an die Spitze des Fortschritts hoben, versanken die Osmanen in Agonie. Herrscher wie Abdülhamid II. und Mehmed V. bauten lieber neue, immer prunkvollere Paläste, statt sich um Reformen zu kümmern. Sie liebten alles Europäische, insbesondere dessen Luxus- und Kulturprodukte wie Champagner und die Oper.  Soziologen nennen so etwas die Abkopplung einer Elite von der Lebenswirklichkeit ihrer Beherrschten.

Die letzten Osmanen narkotisierten sich wie Süchtige mit überbordendem Prunk einer untergehenden Ära.  Oder frei nach Bismarck: „Die erste Generation schafft Vermögen, die zweite verwaltet Vermögen, die dritte studiert Kunstgeschichte, und die vierte verkommt.“ Mit den Jungtürken aus dem Bildungsbürgertum und ihren Ideen für Reformen sollte das Reich gerettet werden. Doch es war zu spät, selbst ihr Putsch verpuffte, denn sie griffen nicht nach der ganzen Macht. Das Sultanat mit dem Kalifat blieb unangetastet und so schleppte sich das Osmanische Reich bis zu seinem bitteren Ende weiter.

Kometen am Himmel

Victor Hugo antwortete während eines Besuchs bei Hortense Bonaparte auf ihre Frage, wie es um die Zukunft ihres Sprösslings, dem späteren Napoleon III., stehe sinngemäß: Madame, es gibt in der Geschichte selten große Männer. Aber wenn, dann erscheinen sie wie Kometen am Himmel und heben die Welt aus den Angeln. Ihr Sohn gehört nicht dazu. Mit dem Kometen meinte der Schriftsteller natürlich Napoleon, und wenn dieser Vergleich auf einen anderen Kometen passt, dann auf Mustafa Kemal Pascha.

Er hob nach der Niederlage des Osmanischen Reichs 1918 und den damit einhergegangenen großen Gebietsverlusten sowie der Emanzipation der arabischen Völker und dem Bedeutungsverlust als Großmacht die türkische Welt aus den Angeln. Er war der blitzgescheite General, der in den Wirren der Türkischen Befreiungskriege von 1919-1923 gegen die Besatzer siegreich hervorging.

Mit seiner großen Popularität setzte er sich gegen die Besitzstandswahrer der alten Ordnung durch und beendete sie mit der Ausrufung der Republik im Oktober 1923. Anschließend setzte er das Sinnbild des letzten Überbleibsels des versunkenen Reichs ab. Abdülmecid II. amtierte von 1922 nach der Absetzung seines glücklosen Cousins als Sultan Mehmet VI. bis 1924 als Kalif. Früher mit dem Sultanat in Personalunion verbunden, versuchten monarchietreue Kreise den Anspruch der Dynastie Osman auf den Thron, wenigstens im religiösen Sinne als Alleinvertretung aller sunnitischen Muslime, aufrecht zu erhalten.

Revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft

Kemal Pascha entschied sich dagegen – zum einen, um seinen Machtanspruch umfassend durchzusetzen, zum anderen, um seine Revolution von oben ungestört gestalten zu können. Über die Religiosität Kemal Paschas sind sich Historiker uneins: Die Bewertungen reichen von areligiös bis zu formal fromm. Er soll Mitglied einer Freimaurer-Loge gewesen sein, was sicherlich seinem Weltbild mehr entsprach als die Religion Mohammeds, aber gesichert ist das nicht. Für Kemal Pascha war der Islam eine arabische Schöpfung und damit nicht türkisch. Und türkisch sollte ab sofort alles sein.

Der Staatsgründer verordnete seinem Land eine beispiellose Verwestlichung, die weit über vergleichbare Ansätze für Russland unter Peter dem Großen hinausreichten: Laizistisches Prinzip mit klarer Trennung von Staat und Religion, Abschaffung des arabischen und Einführung des lateinischen Alphabets, Übernahme westlicher Gesetzbücher, wie beispielsweise aus der Schweiz und Deutschland, Schulpflicht mit koedukativem Unterricht, Wahlrecht für Frauen, Kleidervorschriften wie das Kopftuchverbot und die Anweisung an Männer wie Frauen, sich wie in London, Paris oder Berlin zu kleiden.

Ab 1934 erreichte der Personenkult um ihn im Zuge von Reformen des Familiennamens den Höhepunkt. Von der Nationalversammlung erhielt er den Namenszusatz Atatürk, Vater der Türken, verliehen. Er inszenierte sich als oberster Lehrer des Landes, der einen autoritären, paternalistischen, weltlichen Staat als Ideal betrachtete. Seine Ideale rieben sich allerdings bei ihm privat. Mit seiner emanzipierten Frau Latife geriet er regelmäßig politisch und wegen seines Alkoholkonsums in Konflikte – und nicht zuletzt durch seine paschahaften Attitüden. Latife forderte von ihm die völlige Gleichstellung der Frauen mit den Männern und eine liberale Demokratie. Atatürk erlitt  Nervenzusammenbrüche und konnte sich von seinem persönlichen paschahaften Verhalten nicht lösen. Also wie so oft, Wasser predigen und Wein trinken?

Zwei türkische Halbgötter

Mehrere adoptierte Kinder halfen nicht, die Ehe zu retten. Und sie retteten ihn auch nicht vor seinen alkoholgeschwängerten Abstürzen. Die Quittung dafür erhielt er am 10. November 1938: Atatürk starb an den Folgen seiner Alkoholsucht in einem Istanbuler Krankenhaus mit nur 57 Jahren. Sein Volk versank in kollektiver Trauer. Um den Aufbahrungsort im Dolmabahçe-Palast spielten sich tumultartige Szenen ab. Klageweiber schrien sich die Seele aus dem Leib, Männer drängten tränenüberströmt in den Palast, Kinder wurden regelrecht zum einbalsamierten Leichnam gezerrt. Bilder, die an nordkoreanische Verhältnisse erinnern.

Bis heute ist die Uhr mit der Sterbezeit im Aufbahrungszimmer des Palasts konserviert und jahrzehntelang legten die Türken zur Sterbestunde eine Gedenkminute ein. Der Verlust des Vaters des Vaterlandes wog schwer. Doch 16 Jahre nach Atatürks Tods erblickte in Istanbul ein kommender Hoffnungsträger das Licht der Welt: Recep Tayyip Erdoğan. Er stieg nach Atatürk zum mächtigsten Politiker der modernen Türkei auf. Doch ist er auch ein Komet wie der Staatsgründer?

Erdoğan nahm sich seinen berühmten Vorgänger zum Vorbild, erkor ihn aber gleichzeitig auch zum Gegenbild. Als Vorbild diente Atatürk ihm für den Personenkult, der unter Erdoğan heute einen neuen Höhepunkt erreicht hat: Sein Konterfei ist praktisch überall und seine Medienpräsenz ebenfalls. Erdoğan lässt es wie Atatürk auch menscheln. Er geht auf die Leute beherzt zu, ist mit ihnen auf Tuchfühlung und inszeniert sich als neuer Vater der Türken. Wie Atatürk hat er seine Partei, die AKP, im Griff und regiert das Land genauso autoritär und paternalistisch wie der Republik-Gründer.

Die obligatorischen Besuche von Staatsgästen und Gedenkzeremonien am Atatürk-Mausoleum in Ankara finden zwar weiterhin statt, aber sie stehen nicht mehr im Zentrum der Staats-Repräsentation. Im Mittelpunkt steht nun vor allem Erdoğan, der über den Staatsgründer nicht von Atatürk, sondern vom ehrenwerten Veteran Kemal Pascha spricht. Ein Schurke, der Schlechtes dabei denkt.   

Als Gegenbild sieht Erdogan Atatürk vor allem bei zwei Themen: Religion und Außenpolitik. Ersteres ist für ihn eine Herzensangelegenheit, die ihn regelmäßig zu den wichtigsten islamischen Kultstätten führt. Seine Frau Emine trägt züchtig und sicherlich freiwillig das Kopftuch. Sie ist, anders als Atatürks Gattin, nicht politisch – zumindest nicht nach außen.

Die religiösen Kreise der AKP und der Gläubigen insgesamt nehmen Atatürk seine laizistische und säkulare Politik immer noch übel. Auch die Abschaffung der islamischen Bruderschaften und des Kalifats, als einigendes Band aller Sunniten, schmerzen die Konservativen im Land immer noch. Negativ wirkt sich zudem Atatürks westlicher, also für diese Kreise dekadenter Lebensstil aus: Lebemann, Frauenheld, Zecher!

Griff nach der Großmacht

Außenpolitisch hat Erdoğan den Kurs der Zurückhaltung aufgebeben, den die Türkei bis auf die Zypern-Episode seit ihrer Staatsgründung auszeichnete. Der Machthaber in Ankara greift nach den Sternen: Die Türkei soll wie einst das Osmanische Reich eine Großmacht sein. Mit seinen Aktivitäten in Syrien, im Irak oder in Nord- und Westafrika, seinen guten Kontakten zum Kreml und nicht zuletzt der Türkei als Mitglied der Nato mit der zweitgrößten Armee nach den USA erhebt er den Anspruch auf Weltgeltung.

Atatürk wollte nach den Erfahrungen im Ersten Weltkrieg eine neutrale Türkei, die langfristig Teil der europäischen Ordnung wird. Ob das Erdoğan noch will, ist fraglich. Ihn wie Atatürk eint die Ablehnung des Liberalismus und Individualismus, die sich aus der Aufklärung entwickelt haben. Für beide sind eine autoritär geführte Gesellschaft und der Nationalismus der Kitt für die Türkei.

1923 wie auch heute suchen die Türken nach ihrem Platz im internationalen Machtgefüge. Atatürk hat ihnen mit seiner Politik eine neue Identität verordnet. Erdoğan will sie neu ausrichten. Und was will Europa, was die EU? Auf beiden Seiten herrscht eine gewisse Ratlosigkeit, die dazu führen kann, dass Erdoğan sein Land letztlich als zentrales Scharnier zwischen Okzident und Orient dauerhaft positionieren möchte. Doch ohne Mitgliedschaft in der EU?

Die Türkei in ihrem aktuellen Zustand darf nicht beitreten. Selbst wenn das Land mehr den liberalen Vorstellungen Brüssels entspräche, passte es nicht dazu: kulturell, ideell, politisch. Ein Beitritt zerstörte wahrscheinlich die Gemeinschaft, denn zu schwer wiegt die diffuse Suche nach türkischer Identität mit ihren ethnischen Konflikten etwa mit den Kurden und ihrem verklärten bis verzerrten Blick auf die eigene Geschichte. Atatürk wollte mit seinem Akt am 29. Oktober 1923 eine fortschrittliche Türkei schaffen – Erdoğan beerdigt sie einhundert Jahre später.      

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fufu
fufu
1 Jahr her

Wir sind am Ende des „langen 19. Jahrhundert“, dem Uebergang zur Industriegesellschaft, der Bildung von Nationalstaaten, dem Fortschrittsglauben, insofern war Atatuerk ein Gefangener seiner Zeit und der Autor taete gut daran diese Periode im Blick auf die neue Zeit einzuordnen.

Ketzerlehrling
Ketzerlehrling
1 Jahr her

Er beerdigt nicht nur den letzten Rest Modernität, er hetzt gegen den Westen, wo er kann und spielt ein falsches Spiel. Bekommt dafür Milliarden geschenkt. Besonders Deutschland hat im Grunde schon ein Eigentumsrecht an der Türkei, hat bereits Wilhelm 2 die Türken auf die Beine gestellt mit Abermillionen, weil sie sonst nie den Anschluss in das 20. Jahrhundert geschafft hätten. Andere hätten ihr Recht längst an Anspruch genommen, Dummland verschenkt sich an die Türken und faselt von Teilhabe.

Wolfgang Wirth
Wolfgang Wirth
1 Jahr her

Ein lohnender Artikel, der das umfangreiche Thema recht gut skizziert. Ohne dass Herr West das jetzt als Kritik verstehen sollte, hier noch zwei kleine Ergänzungen: Den Regierungen des späten Osmanischen Reiches war insbesondere die technische und militärische Rückständigkeit ihres Staates gegenüber Europa spätestens ab den 1830er Jahren sehr wohl bewusst und sie bemühten sich durchaus – und auch keineswegs ganz erfolglos – um eine Modernisierung der Armee, der Verwaltung, der Justiz, des Bildungssystems und auch der Wirtschaft. Hier kann man als Stichwort die Tanzimat-Reformen nennen, die 1839 einsetzten. Mit dem noch schnelleren Fortschritt der mittel- und westeuropäischen Mächte konnten sie… Read more »

fufu
fufu
1 Jahr her

Das westliche System ist im Zerfall begriffen, die Narrative zieht nicht mehr. Erdogan waere dumm sich die Zwangsjacke der EU ueberstuelpen zu lasen.

Nathan
Nathan
1 Jahr her

Es zeigt sich eben, daß „gelebtes“ islamisches Leben nicht mit europäischem Leben kompatibel ist. Da mag man noch so oft behaupten, der Islam gehöre zu Deutschland. Diese Behauptung soll allein doch nur äußerlich friedenstiftend sein, bleibt dennoch innerlich wirklichkeitsfremd. Nur in den Großstädten wurde die Türkei im Erscheinungsbild „europäisiert“, die Seele aber bleibt durch die Religion orientalisch. Die reichen arabischen Öl-Staaten haben sich durch Sklaven eine seelenlose Supermodernität geschaffen. Ist alles nur Schau. Die Türkei ist aber ein industrialisierter Staat und muß seine „orientalische Seelen“-Bevölkerung mitnehmen. Erdogan kann gar nicht so mit dem Volk umspringen wie Atatürk, der den osmanischen… Read more »

fufu
fufu
1 Jahr her

Am 16. Oktober begann im Mittelmeer ein grosses NATO- Manoever etwa zeitgleich mit dem Angriff der Hamas auf Israel unter Fuehrung Italiens und natuerlich deutscher Beteiligung. Man wird wohl gleitend das „Manoever“ in eine „Friedensmission“ im Nahen Osten umwandeln. Wie man wieder sieht gibt es in der Politik keine Zufaelle. Der Zusammenhang mit dem Scheitern in der Ukraine, das Wiederaufflammen der antiislamischen Propaganda, sind natuerlich auch kein Zufall.