Idris von Libyen: Erster und letzter König des Wüstenstaats
BOULEVARD ROYAL
König Idris gilt als Schöpfer des libyschen Nationalstaats, war das Oberhaupt eines Sufi-Ordens und steuerte sein Reich erfolgreich durch die Untiefen der Weltkriege. Vor 40 Jahren starb der Monarch in Kairo.
Sein Ende als König ereilte Idris in den sprudelnden Thermalbädern im türkischen Bursa während einer Kur Anfang September 1969. Der greise Herrscher schenkte den umstürzlerischen Nachrichten aus Tripolis anfangs keinen Glauben. Für den nächsten Tag war ohnehin die Amtsübergabe an den Kronprinzen vorgesehen. Doch ein charismatischer Hauptmann der libyschen Armee machte den royalen Plänen einen Strich durch die Rechnung.
Vertrackte Verhältnisse
Inhaltsverzeichnis
Sidi Mohammed Idris el-Mahdi el-Senussi, wie er mit vollem Namen hieß, war es nicht an der Wiege gesungen, Staatschef eines einigen Libyens zu werden, geschweige denn als König zu herrschen. In seinem Geburtsjahr 1890 stand der europäische Kolonialismus in Afrika auf dem Zenit. In Nordafrika rangen Briten, Franzosen und Osmanen um die Vorherrschaft. Die Macht der Türken über Ägypten und die angrenzenden libyschen Gebiete wie die Cyrenaika, aus der Idris stammte, zerbröselte zusehends.
Großbritannien wollte das Machtvakuum füllen und nahm die Rolle als neuer Hegemon ein. London versuchte das zersplitterte Libyen unter seine Kontrolle zu bringen. Allerdings mischte sich dort ein Land ein, mit dem weder Türken noch Engländer gerechnet hatten: Das Königreich Italien suchte nach imperialer Größe, und Libyen sollte dafür ein Dreh- und Angelpunkt sein.
Sufi-Adel und Cousin-Wirtschaft
Idris entstammte einer einflussreichen Familie, die den Sanussiya-Orden gründete. Für Sunniten wie Schiiten sind solche Sufi-Gemeinschaften Ketzerei, die brutal unterdrückt werden. Libyen entzog sich traditionell den orthodoxen Lehren der beiden großen islamischen Strömungen, was zu einer gewissen Liberalität in den Küstenregionen zwischen Tripolis und Tobruk führte.
Idris erhielt eine geistliche Ausbildung, die ihn zu Studien in die heiligen Städte Jerusalem und natürlich nach Medina und Mekka führte. Die Osmanen versuchten, das künftige Ordensoberhaupt für sich zu gewinnen und unterstützten die Bildungsreise des jungen Sufi 1913 tatkräftig. Doch die Hoffnungen Istanbuls waren auf Sand gebaut.
Zwar verbündete der Sanussiya-Orden 1916 mit Idris an der Spitze sich mit den Mittelmächten inklusive Osmanisches Reich, doch deren Niederlage 1918 ließen Idris und seine zahlreichen Anhänger in der Cyrenaika umdenken. Sein Ziel, mithilfe vor allem des Deutschen Reichs die kolonialen Ambitionen Großbritanniens zu beenden, war gescheitert. Italien hatte sich inzwischen jenseits des Herrschaftsgebietes der Sanussiya eine Kolonie zurechtgezimmert. Idris versuchte nun, die Briten gegen die Italiener in Stellung zu bringen, was jedoch misslang. Auch im eigenen Clan musste er unter seinen zahlreichen Cousins sich behaupten, was dem geschickten Strategen letztlich gelang.
Seinen Orden kann man als eine Art Familienbetrieb bezeichnen, in dem Idris lernte zu taktieren, zu intrigieren und zu versöhnen. Eine unverzichtbare Grundlage für die in Libyen bis heute alles bestimmenden Clan-Strukturen. Der geschickte Diplomat erreichte eine Einigung mit Briten und Italienern unter der Zusicherung, mit beiden Mächten zu kooperieren.
Idris ließ sich auf einen politischen Spagat ein, der ihm 1921 den Titel des Emirs der Cyrenaika einbrachte – aber keine Stabilität. Weder in seinem Herrschaftsgebiet noch in seinem Cousin-Clan, der Widerstand gegen Italien einforderte. Wie sollte der junge Emir die Quadratur des Kreises schaffen?
Ein Tod ebnet Idris‘ Weg zur Krone
Erst einmal durch eine als Kur in Ägypten getarnte Exilzeit ab 1923. Der wahrscheinlich längste Kuraufenthalt der Weltgeschichte endete mit der italienischen Niederlage gegen die Alliierten 1943. In der Zwischenzeit leitete den Widerstand der Sanussiya der charismatischen Prediger Omar Mukhtar, der ausnahmsweise kein Cousin von Idris war. Das machte ihn für den im Exil lebenden Idris umso gefährlicher, da es zwischen beiden Männern keine Familien-Loyalität gab.
Mukhtar wurde von den Sanussiya als Held gefeiert, da er die Italiener zur Verzweiflung brachte. Erst mit seiner Verhaftung und Hinrichtung durch italienische Truppen endete der Guerillakrieg. Idris hatte Glück, dass sich das Blatt durch den Tod des Rivalen und die Niederlage der Achsenmächte zu seinen Gunsten wendete. Clan-Blut ist eben doch dicker als Widerstands-Wasser, was dem in die Heimat zurückgekehrten Emir mit seinem diplomatischen Können die Gunst der siegreichen Alliierten einbrachte.
Mit dem Segen und der Hilfe Großbritanniens sowie der Vereinten Nationen vereinigte Idris 1951 die drei großen Provinzen Cyrenaika, Tripolitanien sowie Fessan zum ersten libyschen Nationalstaat mit ihm als König an der Spitze. Idris I. setzte auf einen paternalistischen Zentralstaat, den er rigoros gegen alle Widerstände durchzusetzen suchte. Doch ein Parteien- und Demonstrationsverbot, die Unterdrückung von oppositionellen Gruppen, und die mangelhafte Infrastruktur ließen die Unzufriedenheit in der Bevölkerung anwachsen.
Sanfter Autokrat in neuen Zeiten
Als für Libyen das Erdölzeitalter Anfang der 1960er anbrach, investierte der bereits greise Monarch in die Modernisierung seines Landes. Doch zu spät! Denn von den Exilanten in Ägypten drangen neue Ideen in Idris‘ Wüstenreich. Präsident Nassers Panarabismus gespickt mit sozialistischen Ideen begeisterte junge Libyer und unter ihnen etliche Offiziere in der Armee. Idris wollte am Ende allen wohl und niemand wehe, insbesondere im Ausland. Auch mit Nasser suchte er den Schulterschluss gegen die kolonialen Reste in Afrika und die Bevormundung durch den Westen. Dem Panarabismus jedoch stand er skeptisch gegenüber. Dem Druck der Arabischen Liga, die Beziehungen zur Bundesrepublik wegen deren Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Israel abzubrechen, hielt er Stand.
Seine bescheidene Lebensführung und Volkstümlichkeit sollten ihn letztlich aber nicht mehr retten. Dem König entglitt mehr und mehr seine autoritäre Politik, was einer seiner jungen Offiziere machtbewusst nutzte: Muammar al-Gaddafi setzte Idris in einem unblutigen Staatsstreich ab. Idris versuchte die Briten zu überzeugen gegen das Putschregime in Tripolis vorzugehen, aber als der Kronprinz Gaddafi seine Unterstützung zusicherte, gab Idris rasch auf.
Nach Jahrzehnten der Krisen, Kämpfe und Triumpfe endete das Königreich Libyen 1969 überraschend schnell und schmerzlos. Idris „kurte“ über Athen, Rom und Kairo weiter und hielt sich mit öffentlichen Äußerungen zu seiner Amtszeit und seinem Nachfolger sehr zurück.
Strafende Gerechtigkeit
Idris‘ Widersacher aus der Zeit der italienischen Okkupation, Omar Mukhtar, gilt bis heute als Volksheld, angefacht durch Gaddafis Kult um ihn. Jener heftete sich bei einem Staatsbesuch in Rom gut sichtbar ein Foto an die Tunika, auf dem Mukhtar in Ketten mit italienischen Soldaten zu sehen ist. Sinn für Inszenierungen hatte Gaddafi, vielleicht fehlte es bei Idris auch daran, der das politische Geschäft nicht mochte und sich lieber mit der Exegese des Korans beschäftigte.
Gaddafi ließ dem Ex-König in den frühen 1970er Jahren in Abwesenheit den Prozess machen und wegen angeblicher Korruption zum Tode verurteilen. Ein drastischer symbolischer Akt, der Gaddafis Image schadete. Idris hingegen galt vielen weithin als integer. Der Revolutionsführer nahm Idris vieles übel, so dass jener auf einem Tiefpunkt der Beziehungen zwischen Kairo und Tripolis die ägyptische Staatsbürgerschaft geschenkt bekam und annahm. Gaddafi rächte sich und bekämpfte den Sanussiya-Orden bis aufs Blut.
Der Begründer des libyschen Nationalstaats starb friedlich 1983 in Kairo – sein Nachfolger als Staatschef endete brutal und blutig 2011 in den Wirren des libyschen Bürgerkriegs, der bis heute andauert. Gaddafis Grab liegt namenlos in den Weiten der libyschen Wüste. Idris‘ letzte Ruhestätte befindet sich in Medina auf dem Friedhof des Propheten Mohammed – Ironie der Geschichte.