Der AfD-Chef in Petrys Schatten
Jörg Meuthen ist seit Juli 2015 Ko-Vorsitzender der AfD. Doch das Bild der Partei prägen andere wie Alexander Gauland, Frauke Petry oder Björn Höcke. Wer ist der Mann in Petrys Schatten?
Als AfD-Chef Jörg Meuthen neulich mal wieder in Berlin war, kam er mit einem Taxifahrer ins Gespräch. Sie plauderten über dies und das und freilich auch über die AfD. Meuthen kann das vollkommen unbefangen tun, denn kaum jemand weiß, dass er der Chef dieser von weiten Teilen der Bevölkerung als rechtspopulistisch eingestuften Partei ist. Entsprechend ahnungslos ging wohl auch der Taxifahrer in die Unterhaltung, der seinen Gast schließlich fragte, was er denn so von der AfD halte. Und als Meuthen sich nunmehr als Partei-Vorsitzender zu erkennen gab, antwortet der Fahrer lakonisch: „Ich hätte die AfD auch so gewählt.“
So etwas passiert ihm immer wieder. Alexander Gauland ist längst weithin bekannt, sogar der thüringische Landeschef Björn Höcke hat es mit der Deutschlandfahne bei Günther Jauch zu bundesweiter Bekanntheit gebracht. Meuthen selbst hat mit seiner Unbekanntheit kein Problem. „Ich kann unerkannt Taxi fahren, ich werde in Cafés oder am Flughafen nicht angesprochen: Einen unbekannteren Parteivorsitzenden als mich finden Sie so schnell nicht“, sagt er. Allerdings dürfe das nicht so bleiben, das weiß er schon. Schließlich will er bei der Wahl im März als Fraktionschef der AfD in den baden-württembergischen Landtag einziehen. Und dazu sollten zumindest die Wähler dort wissen, wer dieser Mann im Schatten von Frauke Petry eigentlich ist. Wo er herkommt, was ihn geprägt hat, und wofür er steht.
Irgendwo mittendrin im Mietshaus
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Wie nicht wenige Politiker der vergangenen Jahrzehnte, die es schließlich bis ganz nach oben gebracht haben, stammt auch Meuthen aus sogenannten kleinen Verhältnissen. Heiner Geißler war so einer, Norbert Blüm, Gerhard Schröder, Franz Müntefering oder Joschka Fischer. Meuthen wuchs in einem Essener Arbeiterviertel auf und erlebte dort eine Kindheit zwischen „Fußball, Zechen und sonst nichts“. Fußball, das waren Rot-Weiß Essen und der heimische TuS Holsterhausen. Sein Vater war Kaufmann, vermittelte für eine Mülheimer Firma betriebliche Altersvorsorgen. Mit seinem kleinen Bruder teilte er sich ein acht Quadratmeter großes Zimmer. Ihr Alltag war die kleine, überschaubare Welt des Arbeiterviertels, in dem sie aufwuchsen, wo ein neuer Putzanstrich nach einem Jahr schon wieder vergraute. „Aber das war eine prima Kindheit, davon profitiere ich noch heute“, sagt Meuthen.
„Wir waren nicht reich, wir waren nicht arm. Wir waren irgendwo mittendrin im Mietshaus“, sagt Meuthen. In nur drei Hauptsätzen konturiert er das bescheidene Glück von damals Mitte der siebziger Jahre im Ruhrpott. Nicht viele Politiker können solche Sätze formulieren. Auf den Punkt. Meuthen kann es.
Aber Pathos geht ihm ab, gänzlich. Auf dem jüngsten Parteitag in Hannover begrüßte er die Delegierten mit einer wirklich guten Rede, aber er hielt sie wie ein Lehrer, routiniert professoral-dozierend. Vor allem bei den westdeutschen AfD-Funktionären, die schon den früheren Vorsitzenden Bernd Lucke gern reden hörten, ist das einerlei. Aber all die anderen erreicht er so kaum. Als Lucke die Partei noch führte, hieß es, sie sei kalt. Mit Meuthen wirkt sie abgeklärt, seine Botschaft so nüchtern wie eine Arbeitsanweisung. Politik aber ist zu einem Gutteil auch Leidenschaft, wie Max Weber einst zur Recht feststellte. Meuthen besitzt sicher das nötige Verantwortungsgefühl, vielleicht das Augenmaß, aber ganz sich nicht das Feuer, das die Herzen seiner Zuhörer entflammt.
Der Kopfmensch und der Glaube
„Ich bin ein Kopfmensch“, sagt er denn auch über sich selbst. Als Schüler war er vor allem der Mathematik zugetan, obwohl er in fast jedem Fach eine Zwei hatte. „Ich war ein guter Schüler, zu faul für die Eins, zu klug um abzurutschen“, sagt er selbstbewusst und stupst die schmalrandige Brille wieder nach oben, die ihm ständig herunterrutscht. Sein Abitur hat er in Rheinland-Pfalz gemacht, wo die Familie später hingezogen ist.
Vielleicht hätte ihm der Katholizismus ein wenig mehr Emphase mit in die Wiege legen können. Schließlich ist zwischen Moralpredigten, zeremonieller Weihrauch-Ergriffenheit und tradiertem Volksglaube so ziemlich jede Spielart menschlicher Gefühlsduselei zuhause. Doch seine Eltern traten früh aus der Kirche aus. „In der Kirche war ich zum Kommunionunterricht bis zur Erstkommunion. Und das war’s“, sagt Meuthen.
Jahre später landete der analytische junge Mann auf der Suche nach seinem Glauben nach einem Umweg über die Freikirchler ausgerechnet bei jenem Josef Ratzinger, der die Theologie in den vergangenen Jahrzehnten wie kein anderer verkopfte. Erst bei Ratzinger spürte er, dass der katholische Glaube ihm in gewisser Weise auch ein Zuhause bietet. „Auf diesem intellektuellen Niveau bewege ich mich gern, und das ist auch meine Sozialisation“, sagt Meuthen. „Doch es ist mir bis heute ein Rätsel, wie ein brillanter Intellektueller wie Ratzinger sich trotzdem diesen tiefen bayerischen Volksglauben bewahrt hat. Es würde mich brennend interessieren, wie ein Mann diese intellektuelle Schärfe mit der Jungfrauengeburt zusammenbringt. Das ist etwas, das ich nie erreichen werde.“
Dabei hat er eigentlich eine ganze Menge erreicht. Er ist zum zweiten Mal verheiratet, Vater von insgesamt fünf Kindern. Und fast alles im Leben fiel ihm irgendwie zu. „Ich habe eigentlich nie etwas geplant.“ Nach der Dissertation an der Kölner Universität ging er ins hessische Finanzministerium. Von 126 Bewerbern bekam er den Job. „Ich war damals stolz wie Oskar.“ Aber er wusste schon bald: „Hier wirst Du nicht alt.“ Denn die Ministeriumsarbeit unterschied sich grundsätzlich von seiner Arbeit an der Uni und kollidierte heftig mit seinem Charakter.
Gruseln vor der Stechuhr
„Köln war traumhaft. Die Arbeit war völlig frei. Ich bin gekommen und gegangen, wann ich wollte und habe meine Arbeit gut gemacht. Was gibt es schöneres?“ Im Ministerium stand er dann jeden Morgen vor der Stechuhr. „Und dann gab es dort Zeitbeauftragte“, sagt er. „Da habe ich mich an die grauen Herren, an die Zeitdiebe in Michael Endes Roman Momo erinnert gefühlt.“ Damals fuhren sie regelmäßig mit Minister und Staatssekretär nach Bonn. „Und wenn wir zurückkamen, war die Stechuhr bereits abgeschaltet. Und dann musste ich am nächsten Tag zum Zeitbeauftragten gehen. Das war mir alles zutiefst zuwider.“
Außerdem kann er sich „nur ganz schlecht in Hierarchien einfügen“. Vor allem ließ er sich nicht vorschreiben, was er wie zu machen habe. „Ich sollte den Euro schönschreiben“, sagt Meuthen. Mit der Problematik hatte er sich schon in Köln intensiv beschäftigt. Er glaubte sich auszukennen, und der Euro entsprach nun ganz und gar nicht seiner Überzeugung.
Warum ist er überhaupt nach Hessen gegangen? „Im Grunde war es auch ein Sicherheitsmotiv. Drei Kinder wollten erstmal ernährt sein“, sagt er. Die Stelle im Ministerium erschien ihm sicherer als ein Zeitvertrag an der Uni. Doch nach den Erfahrungen in der Politik nutzte er die erstbeste Gelegenheit zum Wechsel. 1997 suchte die Hochschule für öffentliche Verwaltung in Kehl einen Volkswirt. Meuthen bewarb sich und wurde genommen. Da war er gerade mal 35 Jahre alt. Seither lehrt er dort. Und das hätte auch so bleiben können bis zur Pension, wenn ihm nicht die AfD dazwischengekommen wäre.
Den Entschluss, der Partei beizutreten, fasste er am Abend der Bundestagswahl 2013. Da sah er Bernd Lucke in den Zuschauerreihen bei Günther Jauch. Lucke durfte nicht bei den anderen Gästen sitzen. „Er wurde von Wolfgang Schäuble verspottet. Diese Arroganz der Macht hat mich zornig gemacht“, sagt Meuthen.
Ein rassistischer Hetzer?
Für Politik hatte er sich immer interessiert. Als Jugendlicher verteidigte er Franz-Josef Strauß gegen die Sprüche seiner Klassenkameraden. Auch auf seinem ersten Auto, einer Ente, prangte ein Strauß-Aufkleber. „Weil ich wusste, dass das einige Leute richtig aufregt.“ Heute sieht er sich als Liberalen. „Als Ökonom ist man liberal“, sagt er. Mit Ende 20 überlegte er kurz, ob er nicht vielleicht doch der FDP beitreten sollte. „Aber dann kam diese Geschichte mit der Pflegeversicherung, und das war mir alles zu etatistisch, zu sehr limitiert in eine Richtung, die ich gar nicht will.“ Gesellschaftspolitisch sei er allerdings heute noch „ein ganz schön konservatives Gemüt“.
Und darum passt er in die AfD, auch wenn er in seinem Auftreten eigentlich eine Spur zu grün ist, die Frisur zu sehr Heiner Geißler in jungen Jahren. Seit er dabei ist, hat er viel Neues über Politik gelernt. In der Bevölkerung fielen Hemmungen, das Diskursniveau sinke dramatisch, sagt er: „Die Radikalisierung der Bevölkerung macht mir allerdings viel mehr Sorge als die behauptete Radikalisierung der Partei.“ Darum dürften die politischen Parteien diese Radikalisierung nicht befeuern.
Sie täten es aber dennoch. Als Beispiel führt er Baden-Württembergs Wirtschafts- und Finanzminister Nils Schmid an. Der SPD-Politiker wolle sich nicht mit Meuthen an einen Tisch setzen. „Der sagt, ich sei ein rassistischer Hetzer. Ich weiß nicht, wie der dazu kommt. Da kann er lange nach Belegen suchen, er wird keine finden, weil ich keiner bin“, sagt Meuthen. Und: „Das ist Zündeln.“
Gleichzeitig erlebe er aber auch aus der eigenen Partei Äußerungen, die er als „zündeln“ bezeichnen würde. Damit meint er wohl derzeit vor allem den thüringischen Landesvorsitzenden Björn Höcke. Dessen Auftreten und Wortwahl sind ihm vollkommen fremd.
Zu seinen Erfahrungen in der Politik zählen auch jene über den zum Teil schäbigen Umgang miteinander. „In keinem Menschen in der Politik habe ich mich so sehr getäuscht wie in Hans-Olaf Henkel“, sagt er. Vor dem Essener Parteitag im Juli, der schließlich zum Sturz von Lucke und damit zur Gründung des AfD-Ablegers Alfa führte, schrieb Meuthen einen offenen Brief an Henkel und forderte ihn auf, aus der Partei auszutreten. Anlass war Henkels Kritik an AfD-Mitgliedern wie Konrad Adam.
„Ich hatte ihn immer für einen distinguierten älteren Herren gehalten. Ich musste aber feststellen, dass der Mann einfach rüpelhaft ist“, sagt Meuthen. Also habe er sich gesagt: „Der Spalter muss raus.“ Damit habe er sich gleich mit einer ganzen Reihe Leute überworfen. Verhindern konnte er die Spaltung nicht. Doch rückblickend findet er die Entwicklung nur folgerichtig. „Heute denke ich, es ging tatsächlich nicht zusammen“, sagt er.
Er kann auch Schluss machen
Nach seinem offenen Brief geriet er plötzlich ins Zentrum des Geschehens. Er erinnert sich an den Pfingsturlaub mit seiner Familie an der Ostsee. Von dem Urlaub hätten sie alle nicht viel gehabt, da sein Telefon nicht stillstand. Mal war Lucke dran, mal Petry. Dabei war er damals nur stellvertretender Landeschef in Baden-Württemberg. „Mir wurde in der damaligen Situation auf einmal auch angetragen, für die alleinige Führung der Partei anzutreten. Ich hielt das aber für keine kluge Idee“, sagt er. Schließlich beknieten ihn Petry und einige weitere heutige Mitstreiter, den Ko-Vorsitzenden zu machen.
Seit der Parteitag ihn dazu wählte, kommt er kaum mehr eine Nacht mehr vor zwei ins Bett. Die Belastung für die Familie ist riesig, denn Meuthen muss seine Spitzenkandidatur in Baden-Württemberg, den Parteivorsitz auf Bundes- und Landesebene, die Professur und die Familie unter einen Hut bringen. Irgendetwas kommt da immer zu kurz, derzeit ist es viel zu sehr die Familie.
Seine Frau ist nicht AfD-Mitglied und teilt längst nicht alle Positionen der Partei. Aber sie begleitet seine Arbeit wohlwollend kritisch. „Wir haben eine Vereinbarung: Diese Dreifachbelastung geht so nur bis zur Landtagswahl. Dann fällt die Entscheidung. Entweder bin ich dann Berufspolitiker oder vor allem wieder Professor an der Hochschule“, sagt Meuthen. Denn er müsse nicht zwanghaft Politik machen: „Ich kann auch nach Hause gehen.“ Sagt er jedenfalls.