Die Möglichkeiten der Europäer
Welche Vor- und Nachteile wären mit einem Grexit verbunden? Umgekehrt: Was bedeutet ein Verbleib Griechenlands in der Eurozone? Eine umfassende Analyse.
Während er letzten sieben Jahrzehnte durften wir relativ unbeschwert die vielschichtigen Freuden unseres Lebens genießen. Diesen Zustand zu erhalten, bedarf angesichts schon fast unübersichtlicher weltweiter Verwerfungen erheblicher Anstrengungen nahezu aller Gesellschaftsschichten.
Die Erkenntnis, dass dies auch für die Kaste der „Euroholiker“ gilt, mag man in dieses Tagen schon fast mit Händen greifen. Wir erleben einen zunehmend aufgeregten Hühnerhaufen, deren Vorturner sich primär dem eigenen Machterhalt und dessen Zuwachs verpflichtet fühlen und seit Jahren erfolglos versuchen, jene Probleme der EU zu lösen, die es ohne dieses demokratieferne Konstrukt gar nicht gäbe.
Gefahr und Gelegenheit!
Inhaltsverzeichnis
Mehr noch: Man lustwandelt von Krisengipfel zu Krisengipfel, erstellt in übernächtigtem Zustand nichtssagende Abschluss-Kommuniqués, deren vermeintliche Praxistauglichkeit kaum einem Realitäts-Check standhält, wofür dann gerne ein geeigneter Boogeyman gesucht wird.
Gestern Abend wurde ein weiteres Krisen-Summit zelebriert, bei welchem zwar Befindlichkeiten und Perspektiven der hellenischen Volkswirtschaft auf der Tagesordnung standen, implizit jedoch auch über die Zukunftsfähigkeit der Eurozone und damit über die Werthaltigkeit unserer individuellen Lebensleistungen und die Zukunft unserer Kinder und Enkel verhandelt wurde.
Derzeit erscheint es höchst ungewiss, ob man erstens auf Biegen und Brechen Griechenland in der Eurozone halten will, ja geradezu muss oder zweitens für ein hellenisches Ausscheiden aus der Eurozone votiert. Im chinesischen Sprachgebrauch hat das Wort „Krise“ zwei Bedeutungen: Gefahr und Gelegenheit!
Nach diesen Kriterien sollen die denkbaren Entscheidungsoptionen des EU-Summits untersucht werden.
Option 1 – Verbleib in der Euro-Zone: Nach Lage der Dinge ist dies das von Merkel, Juncker, Schulz usw. favorisierte Szenario, zu dessen Umsetzung von der griechischen Regierung jedoch signifikante Reformen, wie Rentenanspassungen, Mehrwertsteuererhöhungen, deutliche Fortschritte bei der Privatisierung hellenischen Tafelsilbers. uvm. gefordert werden.
Solche Voraussetzungen können Tsipras und Varoufakis nicht wirklich versprechen, ohne zu Hause in Teufels Küche zu geraten. Dies dürfte auch den EU-Verhandlungsführern hinreichend bekannt sein. Sollte man einen Konsens herbeiführen wollen, wäre diese harte Linie aufzuweichen, was erheblichen Widerspruch der Eurostaaten mit Sozialstandards, die unterhalb hellenischer Bedingungen angesiedelt sind, auslösen.
Frankreich, Irland Italien, Spanien und Portugal deren Volkswirtschaften entgegen aller vorgebeteten Politmärchen keineswegs auf Rosen gebettet sind, würden sich ebenfalls gegen softere Konditionalitäten stellen.
Um bereits pro-aktiv die Gemüter zu beruhigen, hat man vielleicht deshalb den von Jean-Claude Juncker, Donald Tusk, Jeroen Dijsselbloem, Mario Draghi, und Martin Schulz unterzeichneten Reform-Vorschlag lanciert, mit dessen Hilfe die Entscheidungsstrukturen im Euroraum erheblich zentralisiert werden sollen, was der Institutionalisierung einer Schulden- und Haftungsunion gleichkommt[1].
Bei Licht betrachtet, bedeutet dies nichts anderes, als die Blaupause der Methode Monnet[2] weiter umzusetzen. Der Cognac-Händler, der nie ein gewähltes Mandat innehatte und als Gründer des „Aktionskomitees für die Vereinigten Staaten von Europa“ gilt, forderte einst:
„Europas Länder sollten in einen Superstaat überführt werden, ohne dass die Bevölkerung versteht, was geschieht. Dies muss schrittweise geschehen, jeweils unter einem wirtschaftlichen Vorwand. Letztendlich führt es aber zu einer unauflösbaren Föderation.“
Schließlich darf man, um Winston Churchill zu zitieren, eine gute Krise nicht ungenutzt verstreichen lassen. Selbstverständlich ist es dabei unerheblich, ob mit solchen Maßnahmen nationale Parlamente entmachtet oder sukzessive weitere Souveränitätsrechte an den dreifaltigen Brüsseler Moloch abgetreten werden, Vorgänge, die als stiller Putsch wahrgenommen werden könnten. Kurzum findet damit die Institutionalisierung der Haftungsunion, aufgehübscht mit dem Wörtchen Solidarität, statt. In diesem Fall bliebe lediglich ein Fünkchen Hoffnung in die Handlungsoptionen des Bundesverfassungsgerichts übrig.
Hart bleiben?
Bleibt man hingegen in der Sache hart, ließe sich das ‘rotten ruling’ der EU ganz elegant via EZB-Schraubzwingen ermöglichen, d.h. die EZB-Gouverneure könnten die finanzielle Blutzufuhr mittels ELA-Krediten (bereits ein Präjudiz der Haftungsunion) stoppen, um so ein Umdenken der griechischen Seite zu erzwingen, eine Entscheidung also mit hohem Erpressungspotential.
Im Ergebnis dürfte der Verbleib im Euro trotz zahlreicher wohlfeiler Versprechungen großen Teilen der griechischen Bevölkerung keinerlei positiven Perspektiven bescheren und Merkel hätte vermutlich allergrößte Mühe im Deutschen Bundestag entsprechende Mehrheiten für weitere Hilfsmaßnahmen zu finden. Ausgang derzeit ungewiss!
Option 2 – Grexit: Immer häufiger wird der Grexit als Königsweg für die Hellenische Republik diskutiert. Zu recht, wie ich finde.
Hans-Werner Sinn, Jürgen Stark oder Max Otte beschreiben einhellig und völlig korrekt die Vorteile für Griechenland. Meiner bescheidenen Einschätzung nach, werden jedoch Wechselwirkungen für Deutschland und die EU gerne verniedlicht. Selbst die Ratingagentur Standard & Poor’s hält die Risiken eines möglichen Austritts Griechenlands aus dem Euroraum für beherrschbar. So ließ S&P-Chefanalyst für die Bewertung der Kreditwürdigkeit von Staaten, Moritz Kraemer wissen:
„Ein Grexit ist in den vergangenen Monaten wahrscheinlicher geworden, der für den Rest der Eurozone qualitativ wie quantitativ zu schultern ist und keine Dominoentwicklung erwarten lässt.“
Wo Prof. Otte irrt
Stellvertretend für die Einschätzungen der Top-Ökonomen nachfolgend einige Anmerkungen zum RTL-Interview mit Prof. Otte[3], verbunden mit generellen Überlegungen:
Ottes Hinweis auf den „nur“ zweiprozentigen Anteil der EU-Wirtschaftsleistung halte ich für eine viel zu kurz gesprungene Verniedlichung der Grexit-Nebenwirkungen. Auch seiner Schlussfolgerung, der Euro würde nach Wiedererlangung der griechischen Währungssouveränität wieder stärker, vermag ich nicht zu folgen.
Übrigens, der Hinweis der RTL-Moderatorin, auch die Griechen selbst wollten im Euro bleiben (das Ergebnis einer Umfrage aus Nov. 2014) ist nach neuesten Befragungen nicht mehr uneingeschränkt aufrecht zu erhalten.
Otte wurde gefragt: „Was würde sich für uns in Deutschland ändern, außer dass wir beim Griechenland-Urlaub wieder Geld tauschen müssten?“ Seine Antwort:
„Tatsächlich würde sich in Deutschland nichts ändern, wir würden das gar nicht merken. Die Griechen würden es natürlich spüren, weil ihre Importe teurer würden. Aber in Deutschland merken wir nichts! Wir merken nur, dass sich die politische Lage entspannt, dass die Hysterie aufhört, dass man endlich wieder zu einer normalen und vernünftigen Politik kommt.“
Dann, etwas später, kommt Otte doch zur Einsicht:
„… wenn GR pleite geht, dann haben wir ein Problem.“
Königsweg Grexit?
Also was jetzt: merken wir nichts oder lauert da vielleicht doch ein Problem? Was Otte nicht weiß, ausblendet oder gar verschweigt, sind die Wechselwirkungen eines hellenischen Euroaustritts. Auch dazu einige Anmerkungen:
- Mit der Wiedereinführung der eigenen Währung ist es dem Land möglich, im Pariser/Londoner Club eine internationale Gläubiger-Konferenz durchführen zu lassen und den Kreditgebern zu verdeutlichen, dass nunmehr die Staatspleite eingetreten und an eine Rückzahlung der Staatsschulden nicht zu denken sei.
Gegebenenfalls könnte man in Aussicht stellen, 10% oder mehr der angehäuften Schulden per rata temporis zurückzuzahlen, sobald das Land eine wirtschaftliche Erholung zu verzeichnen hat. - Mit dem Austritt aus der Eurozone hätte man ein Exempel statuiert, welches Nachahmer finden könnte und vermutlich auch wird.
- Müsste nach dem offiziellen Eingeständnis der griechischen Staatspleite Deutschland mindestens 80 Milliarden Euro auf den Tisch blättern, um verbürgte Garantien gegenüber den Gläubigern zu erfüllen.
- Wäre der EFSF praktisch pleite und müsste seine Garanten (die Staaten der Eurozone) um faktische Übernahme der übernommenen Bürgschaften verpflichten.
- Um nicht selbst insolvent zu werden, könnte der ESM-Gouverneursrat (die Finanzminister der Eurozone) gezwungen sein, gemäß Satzung von den Garantiestaaten binnen sieben Werktagen den Einschuss verbürgter Kapitalzusagen verlangen.
Die Auswirkungen für Italien, Frankreich, Spanien etc. mag man sich vorstellen. - Die EZB käme möglicherweise nicht umhin, für die von ihr gehaltenen griechischen Staatsanleihen in Milliarden-Höhe entsprechende Wertberichtigungen vorzunehmen, was ggf. Kapitalerhöhungen nach sich ziehen würde. Inwieweit dies Nachschusspflichten bei deren Eigentümern auslösen könnte bleibt abzuwarten, da in der EZB-Bilanz Rückstellungen von 56,374 Milliarden Euro (Stand 06.02.2015) aus IWF-Zuweisungen von Sonderziehungsrechten und „Ausgleichsposten aus Neubewertung“ mit 330,898 Milliarden Euro – Aufwertungseffekte von Gold- und Währungsbeständen sowie aus sonstigen Wertpapieren (Stand 06.02.2015) ausgewiesen sind.
- Der Euro-Austritt könnte an den Märkten erhebliche Zweifel entstehen lassen, welches Euroland als nächstes dem Beispiel Griechenlands folgt – zur Auswahl stünden Irland, Italien, Spanien und Portugal (schlimmstenfalls auch Frankreich). Als Folge solcher Zweifel wäre mit Zinsanhebungen für deren Kreditengagements zu rechnen, was sowohl den Finanzstatus dieser Länder sowie deren Schuldentragfähigkeit erheblich verschlechtern würde.
- Selbstverständlich würden die dringend erforderlichen Importe der Hellenischen Republik (Energie, Medizinprodukte, Maschinen und Ersatzteile usw.) erheblich teurer, wobei der russische Präsident Herrn Tsipras anlässlich seines Moskau-Besuches im April 2015 bereits angeboten hat, Sonderkonditionen für den Bezug von Gas einzuräumen.
- Solchen signifikanten Mehrbelastungen der griechischen Volkswirtschaft stehen jedoch auch erhebliche positive Entwicklungen gegenüber:
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- Steigerung der Exporterlöse, wobei nicht nur von Einnahmen aus Oliven oder Schafskäse auszugehen ist, sondern insbesondere von erheblichen Einnahmeverbesserungen aus der Touristik.
Besagtes Szenario würde wiederum erhebliche Nachteile für Italien, Spanien und Portugal auslösen, die ihrerseits vor dem Dilemma stünden, mit drastischen Exportrückgängen von Oliven/Schafskäse, aber insbesondere deutlichen Touristikeinbußen dealen zu müssen.
Folge:
Raus aus dem Euro und zurück zur Lira, Peseta und dem Escudo!
Als Profiteure eines solchen Szenarios dürfte ganz besonders die verhältnismäßig gut entwickelte italienische Industrie auszumachen sein, was deutschen Konkurrenten eher abträglich wäre.
Im Gegenzug könnte, was die Lage in Spanien anbelangt, der VW-Konzern seine dortigen Produktionskapazitäten erhöhen und dadurch die eigene Ertragslage spürbar verbessern. Dies gilt natürlich auch für andere deutschen Unternehmen, die ebenfalls in Spanien produzieren. - Chinesische und russische Großinvestoren -und nicht nur diese- würden vermutlich mit Freude Milliarden-Investition speziell in der hellenischen Touristik anschieben [Wer dies bezweifelt, sollte sich die Gesellschaftsstrukturen von Neckermann und TUI etwas genauer ansehen und wird dabei überraschende Erkenntnisse gewinnen].
- Als 2012 der Ex-Wirtschaftsminister Rösler mit rund 200 Inhabern deutscher mittelständischer Unternehmen einen Ausflug nach Athen unternahm, kam er entgegen aller Hoffnungen mit leeren Händen (was deren Investitionsbereitschaft anbelangte) zurück.
Zwischenzeitlich ist jedoch bekannt, dass ein hoher Prozentsatz dieser Mittelständler mehr als 90 Prozent einstiger Exporte nach Griechenland und weiteren Balkanstaaten eingebüßt haben. - Im Lichte dieser Erkenntnisse ist nicht auszuschließen, dass so manches Unternehmen mit Wiedereinführung der Drachme die Gelegenheit nutzen könnte, in Griechenland Produktionskapazitäten einzurichten und unter Vermeidung von Preiskannibalismus-Effekten den griechischen Markt, diverse Märkte auf dem Balkan und ggfl. Osteuropa und Nordafrika, bedienen könnte. Derzeit sind mir persönlich zwei namhafte deutsche Mittelständler bekannt, die in diese Richtung denken.
Sollte sich eine solche Investitionsbereitschaft (auch aus anderen Ländern) breiter durchsetzen, wäre dies sicher sinnstiftend, sowohl für der hellenische Volkswirtschaft als auch für die Bevölkerung.
- Steigerung der Exporterlöse, wobei nicht nur von Einnahmen aus Oliven oder Schafskäse auszugehen ist, sondern insbesondere von erheblichen Einnahmeverbesserungen aus der Touristik.
- Unter Berücksichtigung solcher oder ähnlicher Effekte im Einklang mit arrondierenden Maßnahmen würde Griechenland die Protagonisten der Eurozone schlichtweg Lügen strafen und beweisen, dass es auch ohne die Fesseln zweifelhafter europäischer Glaubensbekenntnisse möglich ist, wirtschaftlich wieder auf die Beine zu kommen.
- Last but not least spielen unter diesen Umständen auch geostrategische Aspekte eine entscheidende Rolle. Der NATO-Partner Griechenland – ohnehin bereits mit China und Russland gut vernetzt – hätte weitere „Pfunde“ in der Hand, mit welchen man wuchern könnte.
Nicht Europa, der Euro scheitert!
Vielleicht ist es mit diesen wenigen und keinesfalls umfassenden Ausführungen gelungen, potentielle Wechselwirkungen eines denkbaren Euroaustritts der Hellenischen Republik aufzuzeigen.
Ein mögliches Fazit: Der Euro hat sich vom „Hort der Stabilität und des Wohlstandes“ zur Abrissbirne vom Recht auf Selbstbestimmung, kultureller Vielfalt, Völkerverständigung und Demokratie entwickelt.
Sollten sich die „Euroholiker“ hinsichtlich der Institutionalisierung der Haftungs- und Schuldenunion durchsetzen, könnte Mireille Mathieu’s Evergreen in Democracy Adieu! umgetextet werden, wogegen sich die Europäischen Völker mit allen zur Verfügung stehenden, friedlichen Mitteln wehren müssen.
Aus Sicht der griechischen Bevölkerung – und nur dieser sind Tsipras und sein Team verpflichtet – erscheint der Grexit der ultimative Königsweg zu sein.
Als Jean-Claude Juncker 2010 mit dem „Thomas von Kempen“-Preis ausgezeichnet wurde, beendete er seine Festrede mit dem Hinweis, Thomas von Kempen habe sich in seinem vierbändigen Werk „De imitatione Christi“ mit dem Ertragen von Leid beschäftigt. Juncker räumte ein, dass man Leid zwar nicht vermeiden, aber abkürzen kann.
In diesem Sinne sollte sich Juncker auch dafür einsetzen, das Leid der kleinen Leute in Griechenland zu beenden! Merkel’s Diktum „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa“ ist nicht zwingend aufrecht zu erhalten, nicht Europa wäre gescheitert, sondern die von Beginn an fehlerhafte Konstruktion der Währungsunion. Die Dame sollte endlich erkennen, dass ihr von der Bevölkerung die Begrifflichkeiten Alternativlosigkeit und Unumkehrbarkeit bisheriger Europäischer Entwicklungen nicht mehr abnehmen.
Während die Transatlantiker vornehmlich aus geostrategischen Gründen die Hellenische Republik innerhalb der Euro-Zone halten wollen, hat man vermutlich in Moskau und Peking mit einer XXL-Portion Popcorn in der ersten Reihe dieses großen Kinos Platz genommen um mit Spannung den weiteren Verlauf der Euro-Kernschmelze zu beobachten.
Anmerkungen
[1] FAZ: „Brüssel fordert mehr Macht im Euroraum“
[2] http://aei.pitt.edu/280/1/pw_74.pdf