Das unsichtbare Band zwischen Merkel und Thomas de Maizière
Stürzt Thomas de Maizière über den Drohnen-Skandal? Wohl kaum, denn was kaum jemand weiß: Er und Angela Merkel sind durch die Einheit und die Geschichte der beiden Familien eng verbunden.
Der Anruf Angela Merkels ließ nicht lange auf sich warten. Kaum waren die kritischen Worte des FDP-Generalsekretärs Patrick Döring über Verteidigungsminister Thomas de Maizière öffentlich geworden, musste FPD-Chef und Vize-Kanzler Philipp Rösler der Kanzlerin am Telefon Rede und Antwort stehen. Was denn in Döring gefahren sei, wollte sie wissen. So zumindest schreibt es der „Spiegel“.
Merkel muss es hinnehmen, wenn die Opposition dem Verteidigungsminister wegen der Drohnen-Affäre zusetzt und gar einen Untersuchungsausschuss einrichten will. Wagt jedoch jemand aus den eigenen Reihen der Koalition eine Attacke auf ihren engsten Vertrauten, bekommt er es mit ihr zu tun. Döring war de Maizière vor der zweiten Anhörung des Ministers im Verteidigungsausschuss mit den Worten angegangen, er erwarte von einem Verteidigungsminister, dass er in der Lage sei, Fehlentwicklungen rechtzeitig erkennen und einschätzen zu können. Und dann hatte er noch hinzugefügt: „Er ist nicht nur disziplinarisch, sondern auch politisch Chef des Hauses.“ Damit machte der FDP-Generalsekretär klar, wer seiner Ansicht nach für Missstände im Zusammenhang mit der Drohne Euro-Hawk verantwortlich ist und aus dieser Verantwortung die Konsequenzen ziehen muss. Genau genommen hatte er de Maizière damit den Rücktritt nahegelegt.
Er gehört nicht die Reihe der Kauders
Döring war klar, dass er diesen Angriff gegen einen engen Vertrauten der Kanzlerin führte. Aber weiß er auch um das besondere Verhältnis zwischen dem Minister und der Kanzlerin? Thomas de Maizière ist nämlich nicht irgendein Vertrauter Angela Merkels. Er gehört nicht die Reihe der Kauders, Pofallas oder Altmaiers, die im Laufe der Jahre die Gunst der CDU-Vorsitzenden gewannen und nun von ihren Gnaden Politik machen.
Zwischen Thomas de Maizière und Angela Merkel gibt es eine Verbindung ganz anderer Art, die über Jahre gewachsen ist und in einer Zeit erste Wurzeln trieb, als Deutschland noch ein geteiltes Land war, das nach Einheit strebte. Er gehört zu jenen, die der 35 Jahre alten Physikerin 1989 den Weg aus dem ersten in ein zweites Leben ebneten. Es war nämlich Thomas de Maizière, der den Aufstieg der Pressesprecherin der bei den Volkskammerwahlen gescheiterten Reformpartei Demokratischer Aufbruch ermöglichte.
Thomas de Maizière ist ein Cousin des letzten Ministerpräsidenten der DDR, Lothar de Maizière. Beide entstammen einer hugenottischen Familie aus Lothringen. Thomas de Maizières Vater Ulrich genoss als Wehrmachtsoffizier das besondere Vertrauen Adolf Hitlers, obwohl er den Eintritt in die NSDAP verweigert hatte. Noch im Februar und März 1945, als die Lage längst aussichtslos war, holte Hitler Ulrich de Maizières Rat im Führerbunker ein. Er habe sich zu der ihm „anerzogenen und überlieferten Pflichterfüllung entschieden“, erklärte Ulrich de Maizière später seine Rolle in der Wehrmacht. Nach dem Zweiten Weltkrieg machte er eine glänzende Karriere in der Bundeswehr.
„Parteisekretär mit besonderem Auftrag“
Sein Bruder Clemens de Maizière ging einen anderen Weg, über den die Familie nur ungern spricht. Bereits in der Weimarer Republik war er der SA beigetreten und beantragte 1937 die Aufnahme in die NSDAP. Er war ein Nazi und suchte, anders als sein Bruder Ulrich, nach 1945 sein Glück in der sozialistischen Diktatur. Der Jurist engagiert sich in der Ost-CDU, für die er als „Parteisekretär mit besonderem Auftrag“ konspirativ in Westdeutschland Verwandte und Bekannte für die Sache des Sozialismus werben sollten. Dabei habe er ohne jeden Skrupel den Partner seiner in München lebenden Tochter bespitzelt. Auch seinen Bruder nahm er ins Visier.
Während es Thomas’ Vater Ulrich im Westen bis zum Generalinspekteur der Bundeswehr brachte, verschrieb sich Clemens ganz den Interessen Moskaus und stieg in der DDR-Hierarchie auf. Die Staatssicherheit registrierte ihn als Geheimen Mitarbeiter, zunächst unter dem Decknamen „Clemens“, dann unter „Phil“ und schließlich unter dem Pseudonym „Anwalt“. Aber Clemens de Maizière war auch ein Mann der Evangelischen Kirche, die ihn zu ihrem Juristen bestellte. Er gehörte zu jenen, die das von Moskau vorgegebene Ziel einer parteigelenkten Kirche im Sozialismus im Sinne der SED-Spitze vorantrieb.
Und über die Kirche schließt sich der Kreis zur Familie Angela Merkels. Denn dort lernten sich Merkels Vater Horst Kasner und Clemens de Maizière kennen. Beide arbeiteten an der Spaltung der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD). Wie das Buch „Das erste Leben der Angela M.“ unter Bezug auf einen „Operativplan“ der MfS-Abteilung XX/4 enthüllt, brachte Merkels Vater zu diesem Zweck entscheidende Anträge in die Provinzialsynode der Landeskirche Berlin-Brandenburg im Januar 1967 ein. Clemens de Maizière wurde später für seine konspirative Einflussnahme sogar mit der Verdienstmedaille der Nationalen Volksarmee ausgezeichnet. Er wurde Vorsitzender des Kollegiums der Berliner Rechtsanwälte und besaß die Rechtsanwaltszulassung zum Militärstrafsenat beim Obersten Gericht der DDR, wo MfS-Chef Erich Mielke die in ihrem Verlauf und Ausgang schon vorher festgelegten Geheimverfahren gegen Angehörige der bewaffneten Organe abwickeln ließ.
An der Seite von Gregor Gysi
Thomas de Maizière jedoch sieht seinen Onkel anders. In einem Defa-Dokumentarfilm aus dem Jahr 1999 mit dem Titel „Die de Maizières“ schwärmt er, sein Onkel sei ein „gebildeter, humorvoller Mann“ gewesen, „der sich gern bedienen ließ, der Mittelpunkt der Familie war und sein wollte“.
Wie durch Geisterhand führte die Geschichte schließlich Angela Merkel, Thomas de Maizière und dessen Cousin Lothar zusammen. Letzterer war in den 1980er Jahren in die Spuren seines Vaters getreten und gehörte dem damals von Gregor Gysi geleiteten Berliner Rechtsanwaltskollegium an. Auch verfügte er über eine Zulassung beim Militärgerichtshof der DDR. Und wie sein Vater war Lothar de Maizière beim MfS als Inoffizieller Mitarbeiter registriert und soll als solcher in der Maske des evangelischen Kirchenfunktionärs unter dem Decknamen „Czerny“ bei der Durchsetzung staatlicher Kirchenpolitik mitgewirkt haben. So jedenfalls steht es in den Stasi-Unterlagen.
Er selbst schreibt dazu in seinem Buch „Ich will, dass meine Kinder nicht mehr lügen müssen“: „Inoffizieller Mitarbeiter war ich nie (…) Mit meiner späteren politischen Tätigkeit verband sich bei meinen Kritikern das große ideologische Missverständnis, man könnte mir anhand von Blockpartei- und Stasi-Aktenfunden eine irgendwie geartete, geistige oder praktische Kollaboration mit dem System nachweisen.“
Nähe zu Moskau
Das schreibt der Mann, der auf konspirative Art und Weise im Herbst 1989 an die Spitze der Ost-CDU kam. Im Buch „Das erste Leben der Angela M.“ werden die Umstände erstmals dargestellt. Die Autoren zitieren einen Vermerk des MfS, der auf einem Tonbandmitschnitt basiert und ein Gespräch zwischen Lothar de Maizère und Gysi dokumentiert, in dem Gysi seinen Gesprächspartner offenen auf dessen „charakterliche Schwächen“ anspricht. „Der künftige Vorsitzende der Ost-CDU hatte seinem Freund (…) Gysi (…) die Rolle seines Politikberaters angetragen“, heißt es dort.
Der von Gregor Gysi beratene de Maizière gewann dann an der Seite von Helmut Kohl die Bundestagswahl und holte Cousin Thomas de Maizière aus der West-Berliner Senatskanzlei als Experten für alles in seine Ost-Berliner Regierungszentrale. Und gemeinsam machten sie Angela Merkel zur stellvertretenden Regierungssprecherin. Die Entscheidung für die damals 35 Jahre alte Physikerin kam nicht von ungefähr. Zum einen kannte auch Lothar de Maizière über seine Kirchenarbeit Merkels Vater Horst Kasner sehr gut. Zum anderen schien ihre Herkunft obendrein die Gewähr dafür zu bieten, dass sie im eng mit Moskau zusammenwirkenden Amt des Ministerpräsidenten, also an der sensibelsten Stelle der abzuwickelnden DDR-Macht, am richtigen Platz sein würde. Wohl um diese Verbindung zur Familie Angela Merkels nicht öffentlich werden zu lassen, hob Lothar de Maizière in der Rückschau auf jene Zeit beständig hervor, dass er Angela Merkel erst beim Wahlkampf zu Beginn des Jahres 1990 kennengelernt habe.
Mit der Anstellung als Regierungssprecherin vollzog Angela Merkel nach ihrem Engagement beim Demokratischen Aufbruch endgültig den Wechsel von der Wissenschaft in die Politik.
Neben Thomas de Maizière und Lothar zählte auch dessen Staatssekretär Günter Krause zu den Förderern Merkels. Nachdem Lothar de Maizère wegen der Stasi-Vorwürfe zurückgetreten war, avancierte Krause in der ersten gesamtdeutschen Regierung zum Verkehrsminister und wurde CDU-Landeschef. Merkel repräsentierte als Bundesministerin für Frauen und Jugend den CDU-Landesverband, und Thomas de Maizière verließ infolge der Statsi-Affäre um seinen Vetter Lothar Berlin und ging als Staatssekretär zunächst ins Schweriner Kultusministerium, später in die dortige Staatskanzlei. Als Krause über die „Putzfrauen“-Affäre stolperte, übernahm Merkel den CDU-Landesvorsitz.
Gemeinsamer Aufstieg
Für Angela Merkel und Thomas de Maizière ging es weiter bergauf. Sie löste Klaus Töpfer als Umweltminister ab, wurde CDU-Chefin und schließlich Kanzlerin. Thomas de Maizière wechselte zunächst zu Kurt Biedenkopf nach Sachsen. Er wurde Finanzminister, Justizminister und Innenminister des Freistaates.
Über viele Jahre hinweg lag die enge Verbindung zwischen ihnen im Verborgenen. Sichtbar wurde sie erst wieder im Jahr 2005, als Merkel die Bundestagswahl gegen Gerhard Schröder gewann. Damals besetzte sie das für die Koordination ihrer Politik in der großen Koalition mit der SPD so wichtige Amt des Kanzleramtschefs nicht mit einem Mann oder einer Frau aus der CDU-Führung oder aus der Bundestagsfraktion. Für viele vollkommen überraschend holte sie Thomas de Maizière aus Sachsen nach Berlin. Sie entschied sich für den Menschen, dem allein sie zu 100 Prozent vertraute. Und de Maizière machte einen guten Job. Das fanden sogar die Genossen aus der SPD.
Nach der Regierungsbildung mit der FDP 2009 übernahm de Maizière das Amt des Innenministers. Im Jahr drauf übernahm er parallel zu seinen Aufgaben für den erkrankten Finanzminister Schäuble auch die Beratungen im Rat für Wirtschaft und Finanzen zur Euro-Krise und den Verhandlungen zum Europäischen Stabilisierungsmechanismus (ESM). Auch hier wieder zeigte sich das große Vertrauen, das Merkel in ihn setzt. Und als schließlich Karl-Theodor zu Guttenberg nicht mehr zu halten war, musste er die riesige Baustelle übernehmen, die der Freiherr bei der Bundeswehr hinterlassen hatte.
Oft genug hat Thomas de Maizière in den vergangenen Jahren für seine Chefin die Kohlen aus dem Feuer geholt. Niemals konnte ihm irgendjemand oder irgendetwas gefährlich werden. Bis jetzt. Ausgerechnet wenige Wochen vor der Bundestagswahl rückt ihn der Skandal um die Drohne Euo-Hawk ins Fadenkreuz der Opposition. Und mit dem FDP-Generalsekretär Döring wagen sich sogar Kritiker in den eigenen Reihen aus der Deckung – offenbar nicht ahnend, dass Thomas de Maizière einen besonderen Schutz genießt. Er ist der wichtigste Mann der Kanzlerin. Denn seine politische Geschichte ist durch die Geschichte der beiden Familien eng mit der ihren verbunden.