Südwest-CDU wendet sich von der Methode Merkel ab

Angela Merkel und Thomas Strobl

Wenn in Deutschland je irgendwo so etwas wie das Herz der Christdemokratie schlug, dann pochte es in den vergangenen Jahrzehnten in Baden-Württemberg. Und es schlug kräftig, pumpte den konservativen Geist einer mit dem Kapitalismus und dem Weltbild der großen christlichen Kirchen im Einklang stehenden Gesinnung in die Bundespartei.

Doch in den vergangenen Jahren erlahmte dieses Herz-Kreislauf-System der deutschen Christdemokratie, es alterte zusehends, seine Lebensadern verkalkten, ohne dass es jemand beachtet hätte, und bei der Landtagswahl am 27. März in diesem Jahr kam es schließlich zum Infarkt. Diese Niederlage war der vielleicht schwerste Rückschlag für die deutsche Christdemokratie seit ihrer Gründung nach Zweiten Weltkrieg. Und wie jeder Infarkt, so war auch sie die Folge eines über viele Jahre praktizierten ungesunden Lebenswandels geprägt von Herrschsucht, Machtbesessenheit und Ignoranz. Nun, da das Herz für einen Moment ausgesetzt hatte, beginnt die lange Phase der Rekonvaleszenz. Die CDU, und nicht nur die in Baden-Württemberg, muss ein neues Leben beginnen, oder anders ausgedrückt, sie muss sich neu erfinden.

Wie umfassend dieser Wandel ausfallen sollte, das hat der Generalsekretär der baden-württembergischen CDU, Thomas Strobl, seiner Partei nun schwarz auf weiß zukommen lassen. Er schrieb ein Papier mit dem Titel „Einige provokante Fragen und Thesen: Auf dem Weg zu einer erneuerten CDU Baden-Württemberg“ und schickte es an die Gliederungen der Landespartei. Eigentlich hätte er es gleich an alle Kreisverbände in ganz Deutschland geben müssen, denn was der Schwiegersohn von Finanzminister Wolfgang Schäuble anstrebt, kommt einer Revolution gleich, die ohne eine fundamentale Erneuerung der gesamten Partei eigentlich nicht denkbar ist. Klar, dass so etwas auch mit Kritik an der bisherigen Führung verbunden sein muss. Obwohl er die Vorsitzende Angela Merkel mit keinem Wort erwähnt, ist sie zwischen den Sätzen doch allgegenwärtig, vor allem dort, wo es um die Inhalte geht.

„Wir haben das intensive innerparteiliche Streiten um die Sache verlernt“, schreibt Strobl. Der CDU sei die Fähigkeit abhanden gekommen, „über den Tag hinaus zu denken und die Fragen von morgen unbefangen zu diskutieren“.

Er beklagt das Fehlen von Sicherheiten und Orientierung. Oft kollidierten gesellschaftliche Veränderungen mit „unseren überkommenen Vorstellungen“. Besonders deutlich werde dies etwa  in der Familienpolitik. „Wie genau ist unsere Positionierung als Landespartei in diesem Spannungsfeld? Wissen wir das?“, schreibt Strobl. Er stellt die Frage, ob die Partei den Konflikt zwischen Festhalten  am Idealbild der klassischen Familie und der gelebten Wirklichkeit tatsächlich ausgetragen habe: „Orientieren wir uns hinreichend an der Lebenswirklichkeit oder nicht doch zu sehr an Idealen und Dogmen aus einer weitgehend vergangenen (unwirklichen) Zeit?“

Strobl stellt all diese Fragen für die Landespartei, weil er deren Generalsekretär ist. Tatsächlich aber sind die angesprochenen Themen so wenig landesspezifisch wie das Bekenntnis der Partei zur sozialen Markwirtschaft. Seine Fragen offenbaren Defizite einer Führung, unter der die CDU zu einer Partei geworden ist, deren Politik losgelöst von Werten und Grundsätzen allein den Vorgaben der Demoskopie genügt. Oder um es mit den Worten der „Zeit“ zu sagen: „Ein eigentümlicher Mechanismus zeichnet sich ab: Wenn das Volk Abwechslung wünscht, dann wird die CDU eben anders angestrichen, rot, grün oder gelb, je nach Wahlausgang, je nach Koalitionspartner.“

Nichts anderes geschah nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima, als 80 Prozent der Deutschen sich in Umfragen für einen Ausstieg aus der Atomenergie aussprachen. Wenige Monate zuvor erst hatte Kanzlerin Merkel einen Geheimvertrag mit der Atomindustrie geschlossen und die Laufzeiten der Kraftwerke verlängert. Angesichts der Umfragen änderte sie nun, unmittelbar vor der Landtagswahl, ihre Position zur Kernkraft radikal. Diesmal aber glaubten ihr die Wähler nicht mehr.

Nun fragt Strobl seine Partei: „Warum erschüttert ein Atomunfall im fernen Japan unsere Position in der Atompolitik? Warum müssen wir binnen Stundenfrist unsere Meinung ändern?“ Schließlich sei der Union oft genug von vielen Seiten gesagt worden, dass solche Unfälle passieren könnten. „Wir haben in diesem Bewusstsein die Laufzeitverlängerung durchgeboxt. Und jetzt? Was haben wir getan, um unseren Bürgern und Mitgliedern diesen radikalen Kurswechsel zu erklären?“

Zuweilen kann der Text die Verbitterung über die in ihm thematisierten Fehlentwicklungen  und die Trauer über den Verlust an Identität und Selbstgewissheit hinter all den aufgeworfenen Fragen nur schwer kaschieren. So schreibt Strobl: „Was ist unser Alleinstellungsmerkmal als Union? Das christliche Menschenbild? Was ist das? Wann haben wir als Landespartei zuletzt mit den christlichen Kirchen darüber gesprochen?“ Nicht einmal ihrer fundamentalsten Werte sind sich die Christdemokraten noch sicher. Irgendwann in all den Jahren sind sie sich selbst und den Bürgern fremd geworden.

Einst war die Partei fest in der Gesellschaft, in ihren Vereinen und Verbänden verwurzelt. Ihr sensibles Nervensystem reagierte auf leiseste Veränderungen, nahm Sorgen und Wünsche der Bürger auf und transportierte diese in die Parlamente. Dann aber reagierten diese Sensoren nicht mehr, sie starben ab und schlossen die CDU von der Entwicklung in bestimmten Milieus aus. Vielleicht kappte die Partei diese Verbindungen auch selbst, jedenfalls verlor sie an Gespür für das Wünschenswerte und Machbare. Nirgendwo wurde das deutlicher als an den Protesten gegen das Bahn-Projekt „Stuttgart 21“.

„Warum hat uns die Wucht der Proteste gegen Stuttgart 21 überrascht?“, fragt Strobl. „Warum war die Arroganz der Macht ein Thema, das uns im Wahlkampf doch Probleme bereitet hat? Warum ist unsere Glaubwürdigkeit – am Ende in der Energiepolitik fast völlig – bei einem nicht geringen Anteil der Wählerschaft verloren gegangen?“

Weil die CDU der Angela Merkel die Phase der gesellschaftlichen Repolitisierung, in der die Menschen weitergehende Mitsprachrechte einfordern und eine bisher nicht gekannten Zahl an Volksabstimmungen erzwingen, schlicht ignoriert hat. Strobl selbst sagt, warum: „Wir teilen der Öffentlichkeit (oft genug auch der Parteiöffentlichkeit) unsere abgeschlossene Position mit. An einem wirklichen Dialog, am Austausch von Argumenten, an These, Antithese und Synthese im Kontakt mit unseren Mitgliedern und den Bürgern haben wir in den letzten Jahren zu wenig Interesse gezeigt. Geschlossenheit war allenthalben gefragt – und stand dem offenen Diskurs im Wege.“

Strobl ruft seine Partei dazu auf, wieder „große und visionäre Zukunftsentwürfe zu entwickeln, wie es die CDU 1985 mit der ,Grünen Charta’ getan hat“. Dazu gehöre der Mut, Prioritäten zu setzen und der Mut, Prioritäten als solche zu erklären.

All dies fehlt nicht nur in Baden-Württemberg, sondern in der gesamten Partei, und ihr  fehlt ein spezifisch christdemokratisches Lebensgefühl. Sie besitzt keine Wärme mehr, keine Emotionen. „Doch gerade das Lebensgefühl ist es, was die Grünen uns  – und im Übrigen auch der SPD und der FDP – voraus haben. Politik wurde schon bei den griechischen Philosophen  immer mindestens auch als eine Sache der emotio und nicht nur der ratio angesehen“, schreibt Strobl.

An keiner anderen Stelle, auch in den Bemerkungen zur Atompolitik nicht, ist seine Kritik an Merkel so grundsätzlich wie in diesem Satz. Denn er offenbart das ganze Dilemma der CDU und ihrer Vorsitzenden, die bar jeder Leidenschaft operiert, die weder Freund noch Feind zu kennen scheint und der am Ende alles Recht ist, wenn es nur die Macht erhält.

Günther Lachmann für Die Welt am 21. Mai 2011

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Über Günther Lachmann

Der Publizist Günther Lachmann befasst sich in seinen Beiträgen unter anderem mit dem Wandel des demokratischen Kapitalismus. Er veröffentlichte mehrere Bücher, darunter gemeinsam mit Ralf Georg Reuth die Biografie über Angela Merkels Zeit in der DDR: "Das erste Leben der Angela M." Kontakt: Webseite | Twitter | Weitere Artikel

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