Das neue Deutschland – eine Ökokratie!
In seinem ganzen Ausmaß ist dieser Wandel zweifellos historisch. Mit der SPD und der FDP verabschieden sich zwei Parteien aus der Gestaltungsmacht der Bundesrepublik, die das politische System des Landes maßgeblich mitbestimmt haben. Und mit den Grünen steigt eine ehemalige Protestbewegung endgültig zur größten politischen Hoffnung auf. Zum ersten Mal wird ernsthaft über mögliche grüne Kanzlerkandidaten spekuliert. Ganz und gar aus der Luft gegriffen sind solche Überlegungen nicht, denn dass der nächste Kanzler ein Sozialdemokrat werden könnte, scheint aus heutiger Sicht so gut wie ausgeschlossen. Das sehen inzwischen sogar die Sozialdemokraten selbst so. Nur geben sie es öffentlich nicht zu. Ihr deutlicher Wahlsieg zu Beginn dieses Jahres in Hamburg, die Verteidigung ihrer Regierungsbeteiligung in Sachsen-Anhalt und ihre Rolle als Juniorpartner der Grünen bei der Regierungsbildung in Baden-Württemberg sind jedenfalls nicht Zeichen einer Stabilisierung oder gar einer Revitalisierung ihrer Kräfte. In Hamburg hatte sich die CDU in der Koalition mit den Grünen letztlich unmöglich gemacht. So war der Wechsel zur SPD unausweichlich. In Sachsen-Anhalt und in Baden-Württemberg ist die SPD nur noch drittstärkste politische Kraft. Auch bundespolitisch gelang es der Partei nicht, die bei der letzten Bundestagswahl verlorene Bedeutung zurückzugewinnen. In den aktuellen Umfragen liegt die SPD nur noch wenige Prozentpunkte vor den Grünen.
Verantwortlich für diese Entwicklung ist die inhaltliche Leere der Partei. Wofür steht die SPD heute? Sie distanziert sich von ihrer eigenen Hartz IV-Politik, von ihren Beschlüssen zur Leiharbeit und der Finanzpolitik. Aber sie macht den Bürgern kein überzeugendes Angebot für eine Wirtschaftspolitik in einer ökologischen Moderne und steht den neuen Mitspracheansprüchen der repolitisierten Bürger ebenso sprachlos gegenüber wie die FDP. Und in der wichtigsten politischen Debatte dieses Jahres, in der Atompolitik, werden die Sozialdemokraten von den Grünen abgemeldet.
Noch verheerender fällt die Bilanz der FDP aus. In ihrer Degeneration zur reinen Steuersenkungs- und Klientelpartei machte sie sich selbst entbehrlich. In Sachsen-Anhalt und Rheinland-Pfalz flog sie aus den Landtagen. Bundesweit liegt sie in den aktuellen Umfragen unter der Fünf-Prozent-Hürde. Ausgerechnet in Zeiten, die den politischen Liberalismus wie lange nicht mehr herausfordern, liefert die FDP nicht eine zufriedenstellende Antwort auf Fragen wie diese: Ist Wohlstand durch ökologisches Wachstum möglich? Wie befriedigt der Staat das gestiegene Bedürfnis der Bürger nach mehr Transparenz und Beteiligung? Wie sichert Politik angesichts der Flüchtlingsströme aus Nordafrika und begleitet von Währungs- und Wirtschaftskrisen eine staatliche Ordnung, die Freiheit, Pluralismus und Demokratie garantiert?
Fast drei Jahrzehnte wurden die Grünen von der FDP und den ehemals großen Parteien dafür belächelt, dass sie von den Themen Ökologie, Pluralismus und Integration nicht lassen wollten. Bereits in der großen Koalition nahm sich erstmals auch die Union mutig und mit großer Souveränität der gesellschaftlichen Integrationsaufgaben an. Nach dem verheerenden Unglück von Fukushima versucht sie nun, mit einem atemberaubenden und an politischer Selbstverleugnung in der bundesrepublikanischen Parteinlandschaft einmaligen Kurswechsel auch die grüne Energiepolitik zu okkupieren.
Hinter dieser Flucht verbirgt sich, kaum kaschiert, der verzweifelte Versuch, die eigene Macht zu retten. Wenn die Union es nun mittel oder gar langfristig mit dieser Politik ernst meint und sie dies dem Bürger glaubhaft machen will, dann muss sie sie allerdings wohl bald auch die ökologischen Grenzen der auf einem hemmungslosen Ressourcenverbrauch gründenden Industriepolitik anerkennen und damit die Notwendigkeit, wirtschaftliches Wachstum und Energieverbrauch zu entkoppeln. Mit einer solchen Union und den Grünen als zweitstärkste Kraft ist Deutschland dann auf dem Weg in die „Ökokratie“, in der das politisch-wirtschaftliche System der Erhaltung von Lebensgrundlagen oberste Priorität einräumt und von der Umweltschützer seit Jahrzehnten träumen.
Günther Lachmann für Welt Online