Als Deutschland protestantisch wurde: Vor 150 Jahren eskalierte der Kulturkampf

Otto von Bismarck porträtiert von Franz von Lenbach / Quelle: Wikipedia public domain ; https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Franz_von_Lenbach_Bismarck_1894.jpg Otto von Bismarck porträtiert von Franz von Lenbach / Quelle: Wikipedia public domain ; https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Franz_von_Lenbach_Bismarck_1894.jpg

Nicht Martin Luther, kein Thomas Müntzer und keine Kirchensynoden haben es geschafft. Ein preußischer Hasardeur verhalf dem Protestantismus zum Sieg.

Seien Sie außer Sorge, nach Canossa gehen wir nicht – weder körperlich noch geistig.“ Mit dieser historischen Anspielung auf den mittelalterlichen Streit um die Vorherrschaft zwischen Kaiser und Papst eröffnete Otto von Bismarck 1872 im Reichstag seine Fehde gegen die Katholiken. Wie 1077 zwischen Kaiser Heinrich IV. und Papst Gregor VII. eskalierte erneut der Konflikt zwischen der weltlichen Macht im frischgegründeten Deutschen Reich und dem Papsttum. Doch diesmal wollte der deutsche Reichskanzler nicht wie der Salier Heinrich vor dem Papst auf der Burg Canossa bibbernd im Schnee um Vergebung bitten.

Ein Reich, ein Volk und der richtige Glaube

Seit der Reichsgründung von 1871 versuchte Bismarck seinen außenpolitischen Erfolg in einen innenpolitischen umzumünzen. Ähnlich wie bei der zweiten Einheit von 1990 sollten im Reich blühende Landschaften entstehen. Neben der wirtschaftlichen Entwicklung hatte der Kanzler die nationale Gesinnung im Blick. Sein Ziel war eine gesamtdeutsche Identität zu schaffen, die von den ins Reich gedrängten süddeutschen Staaten, vor allem Bayern, in Frage gestellt wurde.

Preußen als protestantische Leitmacht identifizierte noch einen anderen Gegner gegen den nationalen Gedanken: die Katholische Kirche. Seit dem Mittelalter kam es immer wieder zu Machtproben zwischen den deutschen Herrschern und dem Papst. Neben dem Jahrhundertstreit um die Einsetzung von Bischöfen und Äbten mit dem Canossa-Gang als Höhepunkt der Kirchenspaltung durch die Reformation mit Martin Luther gehört der Kulturkampf im späten 19. Jahrhundert dazu.

Bismarck wollte wie bei der außenpolitischen Reichseinigung die Verhältnisse im Inneren durch einen Krieg klären. Nicht mit Blut und Eisen, sondern drakonischen Gesetzen. Dieser Krieg betraf allerdings ein Drittel der Deutschen, also rund 15 Millionen Katholiken. Bismarck biss sich an ihnen, und zu seiner eigenen Überraschung, die Zähne aus. Denn auch sie wollten nicht nach Canossa gehen.

Der Feind sitzt jenseits der Alpen

Höhepunkt der Gesetze gegen den Katholizismus war der „Brotkorberlass“ von 1875, der nichts weniger zum Ziel hatte, als der Katholischen Kirche den Geldhahn zuzudrehen oder metaphorisch den Brotkorb unerreichbar zu machen. Mit diesem Gesetz erreichte der Kulturkampf des protestantisch-preußischen Lagers gegen die römische Kirche mit dem Papst ihren Höhepunkt. Sollten die deutschen Bischöfe nicht die Gesetze gegen den Einfluss Roms unterzeichnen, dann floss keine staatliche Unterstützung mehr in ihre Kassen. Mit dem Kanzelparagraphen, der es allen Geistlichen verbot, sich öffentlich politisch zu äußern oder dem Verbot der geistlichen Orden, vorneweg die Jesuiten, brachte Bismarck nicht allein die Katholiken gegen sich auf.

Auch moderate Protestanten sahen rote Linien überschritten. Anders als der Intimfeind Bismarcks, der liberale Politiker und bekannte Pathologe Rudolf Virchow. Hier zogen sie ausnahmsweise an einem Strang. Ihm konnte der Kampf gegen Rom nicht hart genug sein, den der Mediziner zum „Kulturkampf“ ausrief.

Der alte Streit aus dem Mittelalter war wieder voll entbrannt: Einerseits die reichs- bzw. nun nationalgesinnten Deutschen, andererseits die angeblich vaterlandslosen Katholiken, die mehr dem Papst treu sind als dem Kaiser.

Rom machte es Bismarck ziemlich leicht, Unfrieden zu sähen. Mit dem Dogma der Unfehlbarkeit durch Papst Pius IX. erklärte das Papsttum wie im Mittelalter seine Vorrangstellung vor der weltlichen Macht. Das konnte in einem modernen Nationalstaat, wie ihn sich die preußischen Eliten geschaffen hatten, nicht unbeantwortet bleiben. Bismarck zog als herausragender Kommunikator alle Register, wie er mit tiefsitzenden Vorbehalten Stimmung gegen das katholische Lager machen konnte.

Aber er überzog seine jahrelange Kampagne, noch dazu kriselte das Reich in den 1870er Jahren wirtschaftlich. Und die katholischen Regionen, insbesondere Bayern, widersetzten sich hartnäckig Bismarcks Katholiken-Kampf. Durch die föderative Struktur galten die Kulturkampfgesetze oft nur in Preußen, da sie von den katholischen Fürsten im Bundesrat abgelehnt wurden.

Bismarck war Realpolitiker genug, um eine verlorene Sache nicht fortzusetzen. Ab den 1880er Jahren wurden Gesetze wie das Ordensverbot oder der Brotkorberlass wieder aufgehoben. Die Beziehungen zum Vatikan normalisierten sich mit dem konzilianten Papst Leo XIII. Lediglich der Kanzelparagraph blieb durch alle Systeme bestehen: Erst 1953 wurde er in der Bundesrepublik und 1968 in der DDR abgeschafft. Fast schon Ironie der Geschichte.

Lässt sich aus der Geschichte lernen?

Schlüsse und Vergleiche mit der Gegenwart lassen sich immer ziehen. Mit dem Kulturkampf ist den katholischen Gegenden Deutschlands ein herber Schlag versetzt worden. Die preußisch-protestantische Dominanz hat das Land langfristig geprägt, was in der DDR noch deutlicher zu spüren war als in der alten Bundesrepublik. Mit der zweiten Einheit von 1990 hat der Kulturprotestantismus wieder mehr an Einfluss gewonnen. Das westdeutsche Provisorium von 1949 als rheinisch-katholische Bundesrepublik ist Geschichte. Die deutschen Katholiken sind schleichend protestantisiert worden, was im Bonmot von Papst Franziskus gipfelte: „Es gibt schon eine gute evangelische Kirche in Deutschland, es braucht keine zweite.“

Eine andere Parallele heute zum damaligen Kulturkampf ist der Versuch, einen Gegner auszuschalten. Die Forderungen nach einem Verbot der AfD oder ihr zumindest die finanziellen Kanäle auszutrocknen, erinnern an die Maßnahmen Bismarcks gegenüber den Katholiken und ihrem politischen Arm, der Zentrumspartei. Wir erleben einen neuen Kulturkampf, der nicht allein auf Deutschland beschränkt und dessen Ausgang völlig offen ist.

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20 Tage her

Bismarck… die real nicht existierende, im internationalen Konkurrenzkampf zu schaffende, deutsche Nation als Konstrukt und Religionsersatz. Insofern war der saekulaere Protestantismus von Nutzen.

Die AfD als „Kulturk(r)ampf“… zwischen „islamistischem“ Terror, Populismus, Islamfeindlichkeit, Futterneid, Nationalismus, Sozialismus, Neonazis und (Wirtschafts)Liberalismus… Vielleicht noch verwendungsfaehig.

dragaoNordestino
dragaoNordestino
19 Tage her

Fakten Zwischen 1956 und 2019 hat sich der Anteil der evangelischen Bevölkerung in Deutschland von 50,1 auf 24,9 Prozent reduziert. Der Anteil der katholischen Bevölkerung fiel von 45,9 auf 27,2 Prozent. Seit 1998 ist die Zahl der evangelischen Kirchenmitglieder und auch die Zahl der katholischen Kirchenmitglieder jeweils kleiner als die Zahl der „übrigen“ Einwohner in Deutschland. Zudem liegt der Anteil der katholischen Bevölkerung seit 1998 über dem Anteil der evangelischen Bevölkerung. Die wichtigsten Gründe für den Rückgang der Mitgliederzahlen sind die Austritte aus der Kirche, der Tod von Personen mit hoher Kirchenbindung sowie rückläufige Taufquoten. also wie man sieht, kann… Read more »

fufu
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Reply to  dragaoNordestino
18 Tage her

Das Autrittsverfahren ist ja relativ kompliziert, ich glaube mit Termin beim Notar oder im Gericht, sonst gaebe es wahrscheinlich noch weniger Kirchenmitglieder.

fufu
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Reply to  dragaoNordestino
18 Tage her

Ich glaube kaum, dass es zu weit fuehrt wenn man die Evangelikalen als mueden Abklatsch einer Religion betrachtet… die der USA als Missionare US-amerikanischer Unkultur, die hierzulande scheints am Tropf der Ruestungsindustrie. Was den Katholizismus betrifft so war Ratzinger der letzte mit einer spirituellen Aura und wurde zum Abdanken gezwungen… Bergoglio im damaligen Zeitgeist, fuer manche der falsche Papst, aber Suedamerikaner… und jetzt ein US-Amerikaner. War eventuell Ratzinger der mythische letzte Papst ?

fufu
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16 Tage her

„Kulturkampf“… dass ich nicht lache. Die AfD begann als eine rechte Abspaltung der CDU, EU kritisch, Euro kritisch, wirtschaftsliberal… Im damaligen Umfeld in Anbetracht der Zunahme der arabischstaemmigen Migration aufgrund des „Kriegs gegen den Terror“, den fragwuerdigen „islamistisch“ motivierten Anschlaegen hierzulande, der geistigen Stagnation unter Merkel, dem Einsatz von Trollarmeen, einigen Frontfiguren, war es ein Kinderspiel die gesamte Partei in eine rechtsradikale Ecke abzudraengen… eine PsyOp… „mission completed“. Was hat man erreicht ? … Im „Kampf gegen Rechts“ von den echten Nazis der Weltbuehne abzulenken. Derzeit versucht die AfD, zwecks Regierungsfaehigkeit handzahm in den wesentlichen Fragen, sich teilweise wieder aus… Read more »

fufu
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Reply to  fufu
14 Tage her

Um den Begriff der „Nazis“ zu praezisieren … die alten und neuen Nazis sind Mittel zum Zweck.

fufu
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Reply to  fufu
14 Tage her

„sind und waren“

… und der Kampf Putins gegen die Nazis in dem er 100.000e seines Imperiums sinnlos in einem unendlichen Krieg opfert ? Kulakken, Hauptsache in Moskau merkt niemand davon.

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