100 Jahre James „Jimmy“ Carter: Ein unterschätzter Präsident
US-Präsident, Friedensbringer, Humanist. Die Laufbahn des hundertjährigen Jimmy Carter unterscheidet sich deutlich von der seiner Vorgänger und Nachfolger.
Einer seiner zahlreichen Enkel hat im Sommer die Presse wissen lassen, dass sich sein Großvater darauf freue, Kamala Harris seine Stimme bei der Präsidentschaftswahl geben zu dürfen. So lange wolle er durchhalten, um seinen Beitrag zu leisten eine erneute Wahl Donald Trumps ins Weiße Haus zu verhindern. Carter, gezeichnet vom hohen Alter, überstandenen Krebsbehandlungen und in palliativer Behandlung hat es geschafft: Er feierte seinen 100. Geburtstag am 1. Oktober und die Stimmabgabe für Harris in seinem Heimatort Plains in Georgia. Dort ist es seit Mitte September erlaubt, per Briefwahl über den 47. US-Präsidenten abzustimmen. Wie ist Carters politische Biografie zu bewerten?
Krisengeschüttelte Präsidentschaft
Inhaltsverzeichnis
Carters Nachfolger im Oval Office, Ronald Reagan, resümierte am Ende seiner Amtszeit: Not bad at all – es war gar nicht so schlecht. Besser passt dieses Fazit zur Amtszeit Carters, die immer noch unterschätzt wird. Weshalb steht der Südstaatler im Schatten der Zeitgeschichte?
Für Amerikaner spielen die One Terms, also jene Präsidenten mit einer Amtszeit, nicht die Rolle wie die Wiedergewählten mit acht möglichen Jahren im Weißen Haus. Hinzu kommt, dass sein unmittelbarer Nachfolger Reagan durch sein Charisma und das schauspielerische Talent Carter überstrahlte. Wie oft bei politischen Karrieren spielt auch Göttin Fortuna eine Rolle, und sie kann sehr launisch sein. Carter erlebte das mit einer krisengeschüttelten Präsidentschaft, die hoffnungsvoll begann.
Nach dem unrühmlichen Abgang Richard Nixons durch die Watergate-Abhöraffäre und der folgenden kurzen, glanzlosen Präsidentschaft Gerald Fords setzten die Amerikaner große Hoffnungen in Carter. In seiner Wahlkampagne von 1976 spielte er mit dem Slogan „Not just peanuts“ – Nicht nur Erdnüsse – auf seine Herkunft als bodenständiger Erdnussfarmer an und dem für die US-Wähler wichtigen Versprechen zu führen: „A leader, for a change“ – ein Anführer, für den Wandel.
Carters Programm sollte die bei seiner Amtsübernahme 1977 darbende US-Binnennachfrage ankurbeln durch Steuersenkungen für die Mittelschicht. Die in der US-Politik nachrangige soziale Wohlfahrt sollte ein weitere Säule seiner Präsidentschaft sein. Die USA wie die übrige westliche Welt durchlitten in den späten 1970er Jahren Energiekrisen. Oder genauer gesagt, die politisch gewollte Ölverknappung durch die OPEC, der mächtigen Organisation erdölexportierender Länder mit den Staaten des Orients als Schwergewichte.
Carter bekämpfte die Energieknappheit, indem er eine nationale Energiepolitik einführte und die inländischen Erdölpreise freigab, um die Produktion anzukurbeln. Damit setzte er sich von der bisherigen US-Politik des Status quo mit den erdölreichen arabischen Staaten ab: günstiges Öl gegen militärischen Schutz. In der Kraftprobe zwischen den USA und der OPEC behielt Washington Oberwasser, aber es war für Carter nur eine Verschnaufpause. Bis es zum großen außenpolitischen Knall für seine Präsidentschaft kam, sorgte er für die einschneidendsten innenpolitischen Reformen seit JF Kennedy.
Carter als weitblickender Reformer
Seine Neugestaltung des öffentlichen Dienstes auf Bundesebene sorgte für mehr Effizienz in der Regierung, was auch sein Nachfolger weiterführte. Carter richtete erstmals ein Bildungsministerium auf Bundesebene ein, ebenfalls von allen Nachfolgern fortgesetzt. Mit einer Stärkung des Sozialversicherungssystems und einer Rekordzahl an Berufungen von Frauen, Schwarzen und Hispanics in Regierungspositionen war er Vorreiter für alle folgenden demokratischen und republikanischen Präsidenten wie später George Bush Junior. Carter machte einen Präsidenten Obama erst möglich.
Er ging auch im Umweltschutz voran und erweiterte das Nationalparknetz, so stellte er 103 Millionen Hektar Land in Alaska unter Schutz. Diese Maßnahme war und ist bei der mächtigen Öl-Lobby umstritten, wie die teilweise Freigabe von Bohrungen durch Bush Junior oder Donald Trump zeigen.
Am Ende seiner Amtszeit kam es trotz aller Neuerungen, einem Zuwachs von rund acht Millionen Arbeitsplätzen und deutlich weniger Haushaltsdefizit für den Präsidenten knüppeldick. Innenpolitisch erreichte die Inflation Rekordhöhen, und hohe Zinsen würgten die anfänglich gestiegene Binnenkonjunktur ab. Nichts ist für Amerikaner schlimmer, als nicht konsumieren zu können. Das Gespenst der Rezession ging um, und wie es Bill Clinton als Lehre aus den Carter-Jahren auf den Punkt brachte: „It’s the economy, stupid“ – es geht um die Wirtschaft! Zu der Wirtschaftskrise gesellte sich eine dramatische außenpolitische, die zum großen Knall für seine Präsidentschaft und die Welt führte.
Außenpolitische Erfolge und eine Revolution
Ende 1978 geriet die Herrschaft des engsten Verbündeten der USA im Mittleren Osten ins Wanken. Der von Washington hofierte Schah des Iran, Mohammed Pahlavi, hatte ausgespielt. Die Gründe für den Umsturz in Teheran sind vielfältig. Letztlich hatte sich der Herrscher zu eng an den Westen gebunden und mit seiner so genannten Revolution von oben weite Teile des iranischen Volkes überfordert. Der Sprung eines vormodernen Landes in Lichtgeschwindigkeit in die Neuzeit überrollte Traditionen und etablierte Machtstrukturen. Von der linken bis zur klerikalen Opposition sah man den Schah als Marionette Washingtons.
Die emanzipatorischen Reformen für Frauen, angetrieben von Kaiserin Farah Diba, erzürnten die Mullahs. Im Iran hat jener die Macht, der die Basari, die einflussreichen Markthändler, in den Städten hinter sich weiß. Die fielen vom Schah schließlich ab, als er immer mehr US-Supermarktketten ins Land ließ: verhasste Konkurrenz. Das Fass zum Überlaufen brachte eine gut gemeinte Landreform, um eine kleinbäuerliche Bewirtschaftung zu ermöglichen. Denn die ging auf Kosten der feudalen Mullahs, von denen viele Großgrundbesitzer waren und seit der Revolution wieder sind.
Die Amerikaner haben unter Carter bei ihrer Iran-Politik geschlafen und den Schah sehenden Auges in den Untergang treiben lassen. Die Folgen des Machtwechsels in Teheran erlebt die Welt bis heute und ein Ende ist nicht absehbar.
Es gab aber zuvor einen wichtigen Wandel im Nahen Osten. Mit dem Camp David-Abkommen als Friedensregelung zwischen Ägypten und Israel 1978 erlebte Carter einen großen außenpolitischen Erfolg, der als Grundlage zu sehen ist für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Israel und den Golfstaaten in der Trump-Präsidentschaft.
Jedoch half Carter dieser außenpolitische Durchbruch durch die iranische Revolution nichts mehr. Mitten im Wahlkampf 1980 stürmten fanatische Studenten die US-Botschaft in Teheran und nahmen die Mitarbeiter als Geiseln. Die langwierigen Verhandlungen wurden Carter zum endgültigen Verhängnis. Reagan geißelte ihn als führungsschwach, was für einen Kandidaten um ein hohes politisches Amt in den USA einem Todesurteil gleichkommt.
Für Carter war der Abend der Wahl am 5. November 1980 niederschmetternd: 49 Wahlmännerstimmen für ihn und überwältigende 489 für Reagan. Besonders bitter war, dass Carter wenige Minuten vor der Amtsübergabe am 20. Januar 1981 die Nachricht erhielt, dass die US-Geiseln in Teheran freigelassen wurden. Die Lorbeeren dafür heimste sein Nachfolger ein. Was bleibt von Carters-Präsidentschaft?
Am Ende lächelt Fortuna
Er und seine Frau Rosalynn haben nach dem Auszug aus dem Weißen Haus über Jahrzehnte ein internationales Netzwerk für humanitäre Aufgaben geschaffen mit dem „Carter Center“. Das Paar, das sich seit der Jugendzeit kannte, packte bei Hilfsmaßnahmen oft selbst mit an. Beispielsweise beim Bau von Holzhäusern nach den verheerenden Erdbeben auf Haiti oder bei Vermittlungsreisen in aller Welt, selbst in Nordkoreas Kim-Diktatur, um amerikanische (politische) Gefangene freizubekommen. Für seine jahrzehntelange Arbeit zu Verständigung, Aussöhnung und Frieden erhielt er zu Recht 2002 den Friedensnobelpreis.
In seiner Amtszeit führte Amerika keine Kriege, was nicht vielen US-Präsidenten gelungen ist. Carter ist ein frommer Mann, der, solange er es gesundheitlich konnte, in der Kirche seines Heimatorts Plains regelmäßig predigte. Aber er ist kein Frömmler, sondern er ist, was es selten in der Politik gibt: anständig, humanistisch und eine ehrliche Haut. Vielleicht war er als Präsident zu ehrlich.
Er bleibt für viele Amerikaner ein Vorbild als skandalfreier Familienmensch, der mit seiner Frau 77 Jahre glücklich verheiratet war und Vater von vier Kindern, etlichen Enkeln und Ur-Enkeln ist. Er versuchte als US-Präsident die Quadratur des Kreises: sein Leitbild einer humanen Politik mit den Machtinteressen der USA zu vereinen. Die Göttin Fortuna war in seiner Präsidentschaft launisch, später brachte sie ihm Glück.