Henry Kissinger und die dunkle Seite der Macht

BOULEVARD ROYAL

Vietnamkrieg / Henry Kissinger / USA / US-Soldaten / Quelle: Wikipedia, public domain: James K. F. Dung, SFC, Photographer, Public domain, via Wikimedia Commons; https://commons.wikimedia.org/wiki/File:UH-1D_helicopters_in_Vietnam_1966.jpg; https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/f/fc/UH-1D_helicopters_in_Vietnam_1966.jpg Vietnamkrieg / Henry Kissinger / USA / US-Soldaten / Quelle: Wikipedia, public domain: James K. F. Dung, SFC, Photographer, Public domain, via Wikimedia Commons; https://commons.wikimedia.org/wiki/File:UH-1D_helicopters_in_Vietnam_1966.jpg; https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/f/fc/UH-1D_helicopters_in_Vietnam_1966.jpg

Im Mai beging der gebürtige Franke seinen 100. Geburtstag: Außenminister, Präsidentenberater und Friedensnobelpreisträger. Oder alles nur schöner Schein?

Als Kissinger 1973 in Oslo den Friedensnobelpreis entgegennahm hätte die Welt drei Dinge stutzig machen sollen. Erstens, der andere Geehrte, Lê Đức Thọ, nordvietnamesischer Verhandlungspartner des Amerikaners, lehnte den Preis ab. Einfache Begründung: Der Krieg in Vietnam laufe noch. Zweitens, weshalb bekommt der führende Falke der US-Regierung den Friedenspreis, obwohl vor allem er den Krieg verlängert hat? Und drittens hat Kissinger den Staatsstreich von September 1973 gegen den linken Präsidenten Salvador Allende in Chile maßgeblich geplant. Nur Friedenspreisträger Barack Obama hat noch weniger für den Frieden getan als Kissinger.

Bellizist und Friedenstaube

In seine Geburtsstadt Fürth bei Nürnberg kehrte Kissinger nach dem Zweiten Weltkrieg regelmäßig und gerne zurück. Der Fußballbegeisterte ist Ehrenmitglied des Fußballvereins Greuther Fürth und ist mit allen in Bayern möglichen Ehren dekoriert. Schließlich ist er der nach Ludwig II. bekannteste Bajuware weltweit und gilt als Staatsmann der Extraklasse.

Henry Kissinger an der Havard University. Quelle: Wikipedia, public domain

Kissinger prägte den Begriff der Realpolitik, die nichts anderes meint, dass jedes Land zu seinem Vorteil Politik macht. Das ist im Grunde vernünftig, denn Regierungen können sich ihre Partner nicht nach eigenen Wünschen aussuchen. Sie müssen mit den gegebenen Verhältnissen umgehen können, auch wenn es nicht immer nach den eigenen Wertvorstellungen passt.

Kissinger ist von dieser Linie immer wieder abgewichen. Oder wie anders soll die unsinnige Verlängerung des Vietnamkrieges zwischen 1968 und 1973 verstanden werden? Die Folgen dieser Kissinger‘schen Realpolitik waren verheerend: Hunderttausende Vietnamesen sind massakriert worden, dazu der Einsatz des berüchtigten Agent Orange. Gut 20.000 US-Soldaten fielen.

Und was passierte in Kambodscha? Der Feind meines Feindes ist mein Freund. In diesem Fall: US-Hilfe für die Steinzeitkommunisten Pol Pots, der spinnefeind den vietnamesischen Kommunisten unter Hồ Chí Minh gegenüberstand. Diese inoffizielle Doktrin amerikanischer Machtpolitik, hat mit einem brutalen Bombenkrieg den Sieg der Roten Khmer vorbereitet. Und im Hintergrund zog Kissinger die Fäden. Er benutze einen schwachen Präsidenten wie Gerald Ford als Knetmasse und ebnete letztlich Donald Trumps America first-Politik den Weg.

Was nicht sein soll, dass nicht sein darf

In Chile lieferte Kissinger sein Meisterstück ab. Geheimoperationen verschiedener US-Dienste versuchten bereits die Amtseinführung des demokratisch gewählten Allende als Präsident zu verhindern. Allende war es bis zum blutigen Umsturz nicht vergönnt, ungestört von amerikanischen Störmanövern zu regieren.

Generalstabschef René Schneider versicherte Allende seiner Loyalität. Dass nicht alle seiner Offiziere auf dem Boden der Verfassung standen, sollte Schneider bald am eigenen Leibe erfahren. Die CIA beschrieb Schneider, als einen „großen Stolperstein für Militäroffiziere, die einen Putsch durchführen wollen“, was den US-Auslandsgeheimdienst zu einer Aktion gegen Schneider veranlasste.

Eine filmreife Entführung, der sich der Generalstabschef zu entziehen wusste, endete dann doch im Kugelhagel seiner Häscher. Der Auftakt für den Putsch war gelungen, der dann im Spätsommer 1973 mit dem Suizid Allendes seinen Höhepunkt erlebte. Sein Nachfolger, der brutale Diktator General Augusto Pinochet, hielt sich mit US-Hilfe bis 1990 an der Staatsspitze, als von Europa der berühmte Wind of Change durch die Welt wehte. Und wie reagierte Kissinger?

Kissinger und der Wind of Change

Der Elder Statesman, wie er von seinen zahlreichen Bewunderern genannt wird, sah den Wandel von 1989/1990 als großen Erfolg seiner Außenpolitik, die im Kern von allen US-Regierungen bis heute vertreten wird. Dass es zu hässlichen Nebenerscheinungen wie Putsche, Blutvergießen oder Diktaturen kommen kann, ist für Kissinger billigend in Kauf zu nehmen. Es geht um Höheres: den globalen Machtanspruch der USA im Gewand der Pax Americana.

Das mit der Pax – dem Frieden – stößt allerdings mehr und mehr auf Widerspruch oder besser: auf die neuen Realitäten. Kissinger musste sich mit für ihn ungewohnten Realitäten beschäftigen, als sein Freund Pinochet 1998 auf Veranlassung eines spanischen Staatsanwalts in London festgenommen wurde. Ein Auslieferungsbegehren für einen Prozess gegen den Diktator Emeritus in Madrid war vorbereitet. Sogar die US-Behörden zeigten sich kooperationsbereit und wollten bislang geheime Dokumente über Morde und Folterungen im Zusammenhang mit dem Coup d’État in Chile freigeben.

Kissinger dürfte aufgeatmet haben, dass Pinochet letztlich nicht an Spanien ausgeliefert wurde. Nach seiner Rückkehr aus der U-Haft in England nach Santiago de Chile blieb er wegen seines hohen Alters und multipler Gebrechen bis zu seinem Tod 2006 vom Gefängnis verschont.

Es gibt keine Verantwortung

Der britisch-amerikanische Journalist Christopher Hitchens versuchte 2001 eine Art Strafakte Kissinger anzulegen, um ihn vor Gericht zur Verantwortung ziehen zu können. Darunter waren Vorwürfe wie: Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit wie in Vietnam und Kambodscha, Verschwörung zum Mord, wie an Allende oder Fidel Castro, sowie Entführung und Folter, wie an Schneider.

Doch alle Versuche, Kissinger vor Gericht zur Verantwortung zu ziehen, scheiterten. Der bedeutendste noch lebende Ex-Außenminister der USA sieht keinen Gerichtsaal als Angeklagter mehr. Allein durch sein hohes Alter nicht und durch seine vielen Freunde und Unterstützer, die er in den USA und weltweit hat.

Ist also die Außenpolitik des Henry Kissinger eine pervertierte Variante von Realpolitik? Haben ihn Ausgrenzung und Drangsal in der NS-Zeit vor seiner Flucht nach Amerika hart gemacht? Die Antwort kennt nur er allein, und dazu hat er sich öffentlich nie geäußert.

Für sämtliche US-Administrationen seit Präsident Richard Nixon blieb Kissinger der große Welterklärer und außenpolitische Stratege: Er hat den Aufstieg Chinas vorhergesehen und das Ende des Sowjet-Imperiums. Er verteidigt in seinen Büchern die amerikanische Hegemonie über weite Teile der Welt. Er gibt Empfehlungen für ein Ende des Krieges in der Ukraine.

Kissinger ist immer noch die graue Eminenz und ein begnadeter Strippenzieher der US-Politik. Vor allem aber ist er einer der umstrittensten Politiker der Zeitgeschichte. Im Mai beging der in Franken geborene Weltendeuter seinen 100. Geburtstag.

4.1
7
votes
Article Rating

Unser Newsletter – Ihr Beitrag zur politischen Kultur!

Abonnieren
Benachrichtige mich zu:
guest
6 Comments
Inline Feedbacks
View all comments
Wolfgang Wirth
Wolfgang Wirth
2 Monate her

Schöner Artikel. Ja, der Kissinger … und seine Machtspielchen … Und er lebt immer noch! Aus einer Vergangenheit, die für uns ältere Menschen immerhin noch eigene Lebenszeit ist, für jüngere Zeitgenossen aber weit vor der eigenen Geburt liegt (vielleicht so weit weg, wie für uns Ältere der Zweite Weltkrieg), ragt er wie ein uralter und halb abgestorbener Baum in unsere Gegenwart hinein. Vielleicht noch nicht mal einflusslos?! Doch sollte hieraus keine Verklärung erwachsen. Natürlich könnte man jetzt philosophieren, ob es denn überhaupt möglich sei, in hohen Machtpositionen anständig zu bleiben … Er soll ja mit Helmut Schmidt befreundet gewesen sein,… Read more »

fufu
fufu
2 Monate her

Und er lebt immer noch.

https://m.faz.net/aktuell/wissen/medizin-ernaehrung/frischzellenkur-mit-der-kraft-des-jungen-blutes-13743800.html

fufu
fufu
2 Monate her

„Vielleicht noch nicht mal einflusslos?! “

Schaetze mal eine grandiose Ueberschaetzung der Person, eher ein kleiner egozentrischer Aufsteiger der seinen Herren gefallen wollte.

Wolfgang Wirth
Wolfgang Wirth
Reply to  fufu
2 Monate her

Wer weiß? Vielleicht.

Haben Sie Belege für jene Andeutung einer „Blut-Kur“?

fufu
fufu
Reply to  Wolfgang Wirth
2 Monate her

Belege gibt es nicht. Aber nach dem Stand der Wissenschaft koennte es funktionieren, natuerlich nicht mit Schafsblut wie es frueher ueblich war. Und ohne moralische Grenzen wie fuer die Herde… warum nicht? Es sollte auch keine Unterstellung sein, moeglicherweise ist sein hohes Alter und geistige Frische auf den sozialen Status zurueckzufuehren, wie die Verbindungen zu Ebstein, dem Bohemiemclub usw.

Sabine
Sabine
1 Monat her

Soweit ich weiss, besteht gegen ihn immer
noch ein internationaler Haftbefehl, trotzden
läuft oder kraucht er immer noch in Freiheit rum.
Für mich persönlich ist er ein Kriegsverbrecher.

// require user tracking consent before processing data _paq.push(['requireConsent']); // OR require user cookie consent before storing and using any cookies _paq.push(['requireCookieConsent']); _paq.push(['trackPageView']); [...]
6
0
Wie denken Sie darüber? Beteiligen Sie sich an der Diskussion!x