Ein Volk von Geisterfahrern

Gegenrede wird im Lager der Migrations-Gesinnungswächter hart bestraft. Doch Meinungsstreit ist Teil der Demokratie. Ist das in Deutschland verstanden worden?

Im ersten Teil des Beitrags über den Umgang mit Kritikern der Migrationspolitik[1] ging es um den Zeithistoriker und Politologen Hans-Peter Schwarz und sein letztes Werk, das im März 2017 veröffentlichte Buch über die neue Völkerwanderung nach Europa. Es wurden die Themen dieses sehr inhaltsreichen Buches angesprochen: die Gefahrenblindheit und das hilflose Agieren der zur Zeit die Politik der EU und Deutschlands bestimmenden Funktionselite gegenüber eines nach Meinung des Wissenschaftlers säkularen Vorgangs, die rechtlichen Standards der EU als Grund für den Kontrollverlust und die Handlungsoptionen für die Europäer.

Ebenfalls im Jahre 2017, und zwar kurz nach seinem Tod Anfang des Jahres, erschien Rolf Peter Sieferles Buch „Das Migrationsproblem – Über die Unvereinbarkeit von Sozialstaat und Masseneinwanderung“ (Waltrop/Berlin 2017; in der Folge: MP).

Migrationswelle von präzedenslosem Umfang

Zuerst eine kurze inhaltliche Zusammenfassung des Buches hinsichtlich des eigentlichen Migrationsproblems. Schon in den ersten Sätzen des ersten Kapitels des Buches lässt Sieferle[2] keinen Zweifel daran, für wie prekär er die Situation Europas sieht:

„Zur Zeit überschwemmt eine Migrationswelle von präzedenzlosem Umfang Europa. Millionen von Menschen machen sich von der Peripherie auf, um in das gelobte Land zu gelangen. Europa ist von kollabierenden Staaten und von Gebieten mit geringem Hoffnungspotential umgeben. Die Bevölkerung Afrikas, die zur Zeit noch etwa eine Milliarde beträgt, wächst jährlich um etwa 3%, also um 30 Millionen, von denen sich einige Millionen jährlich auf den Weg in ein erhofftes besseres Leben machen. Wenn es nur 10% des Zuwachses sind, so sind dies bereits 3 Millionen im Jahr. Hinzu kommen Migrationen aus den Bürgerkriegsgebieten des Nahen Ostens sowie aus weiteren Teilen Süd- und Westasiens, bis Bangladesch.“ (MP, S. 11)

Die betroffenen Länder generieren sowohl Bürgerkriegs- wie Wirtschaftsflüchtlinge. Doch egal, wie man die Migranten und ihre Motive einordnen will, sie werden alle ungefähr ähnliche Erfahrungen machen:

„In Europa werden sie nun die Erfahrung machen, daß vielleicht ihre materielle Situation besser wird, dies aber mit einem sozialen Abstieg zu bezahlen ist. Sie müssen sich ganz hinten anstellen, und in der Regel besitzen sie keine Qualifikation, die es ihnen ermöglicht, sozial aufzusteigen. Der Erwerb einer solchen Qualifikation ist jedoch ein langer beschwerlicher Weg, und es fragt sich, ob er innerhalb einer Generation zurückgelegt werden kann.“ (MP, S. 18)

Die Migranten, die nach Europa kämen, befänden sich so in der paradoxen Situation, dass ihre materielle Klage sich verbessert, ihre soziale Position sich dagegen verschlechtert habe. Die Reaktionen auf diese Situation könnten verschieden sein: Integration in eine tribale Parallelgesellschaft, illegale Aktivitäten wie Drogenhandel, ideologische Radikalisierung und entsprechende politische Aktivitäten.

Im zweiten Kapitel geht es um die Situation in den Zielländern der Migration. Durch den Effekt, den Sieferle als „Bürgerschaftsrente“ bezeichnet, werden global gesehen gleiche Tätigkeiten in den Industrieländern des Nordens besser entlohnt als im globalen Süden:

„Unter diesen Bedingungen lebten die unqualifizierten Arbeiter [der Industriegesellschaften] in geradezu idealen Zuständen. Ihr Beschäftigungsgrad erreichte fast 100%, es gab kaum Arbeitslose, und die Löhne waren so hoch, daß ein normaler Arbeiter damit seine Familie ernähren konnte, einschließlich Eigenheim und PKW.“ (MP, S. 20)

Ökonomisch rationaler Protest

Das ging gut, solange die nationalen Wirtschaften im globalen Maßstab abgeschottet oder geschützt waren (je nachdem, welches Wort man verwenden will). Die wirtschaftliche Globalisierung brachte aber nun die Einkommen der Schlecht- oder Unqualifizierten auch in den Industrieländern des Nordens ins Wanken. Die Bürgerschaftsrente wurde allmählich abgebaut. Mit der nun stattfindenden Migration wird dies nicht besser:

„Die Migration in die Industrieländer verschärft dieses Problem, da jetzt zur indirekten Konkurrenz auf den internationalen Gütermärkten eine direkte Konkurrenz auf den nationalen Arbeitsmärkten tritt, die vorwiegend Geringqualifizierte betrifft. Ihr ‚populistischer‘ Protest gegen Freihandel, Globalisierung und Immigration ist daher ökonomisch rational und keineswegs nur Ausdruck dumpfer Vorurteile. Die verbreitete Klage derjenigen, deren Bürgerschaftsrente dahinschmilzt, ist verständlich: Sie interpretieren dies als Ergebnis des ‚Neoliberalismus‘ und der Globalisierung, als Öffnen einer Schere von arm und reich durch Abbau von Handelshemmnissen. Dies ist im Prinzip richtig, doch müssen sie sich darüber im klaren sein, daß sie gegen den Verlust von Privilegien protestieren, die historisch-transitorischen Charakter hatten. Ein Protest gegen diese Einbußen im Namen des humanitären Universalismus ist jedenfalls inkonsistent.“ (MP, S. 20)

Das hat Folgen für den Sozialstaat, wie er sich in Europa entwickelt hat. Sozialstaat und Globalisierung sind im Grunde nicht miteinander vereinbar:

„Der Wohlfahrtsstaat beruht in seinem Kern auf Solidarität und Vertrauen inneerhalb eines politisch begrenzten, genau definierten Raums, nämlich des Nationalstaats. Der Sozialstaat ist eine Genossenschaft, kein freies Gut! (…).
Im Kontext der Globalisierung tritt hier aber eine sprengende Tendenz auf. Ein globaler Sozialstaat ist eine Utopie. Der reale Sozialstaat beruht aber auf dem Prinzip der Genossenschaft, er ist also ein Club mit definierter Mitgliedschaft. Aufgrund seiner Leistungen zieht er aber Personen an, die dem Club nicht angehören, gerne aber seine Leistungen empfangen würden.“ (MP, S. 23)

Sieferle sieht den Sozialstaat, ähnlich wie die „Bürgerschaftsrente“, als eine Errungenschaft der modernen Industriegesellschaft, „in der eine weitgehende Deckungsgleichheit von politischen und ökonomischen Räumen existierte“ (MP, S. 23). Im Kontext der Globalisierung sei der Sozialstaat im Grunde ein Anachronismus, weil er nur im Rahmen des Nationalstaats, also in einem abgegrenzten Gebiet funktionieren könne. Ebenso sei die Altersversorgung in einem „Generationenvertrag“, die auf der Grundlage einer Umverteilung zwischen verschiedenen Generationen desselben Volkes beruhe, nur durch Bindung an einen bestimmten nationalstaatlichen Raum durchführbar. Die Situation verschärft sich jetzt:

„Den eigentlichen Todesstoß erhält der Sozialstaat jedoch durch die Massenimmigration unqualifizierter Menschen, die in den National-Sozial-Staaten ihr Glück suchen. Für die komplexe Anforderungen stellenden Arbeitsmärkte sind sie fast untauglich, und es würde mehrere Generationen dauern, bis sie akkulturiert bzw. assimiliert sind. Also werden sie vom Sozialsystem alimentiert, und zwar in enorm wachsender Zahl. Dies bringt jedoch die Sozialsysteme aus dem Gleichgewicht. Konstruiert wurden sie, um Personen zu unterstützen, die dazu selbst nicht in der Lage waren, also Kranke, Behinderte, Alte, Arbeitsunfähige. Deren Zahl konnte aber in einer gegebenen Gesellschaft nicht beliebig wachsen, auch wenn das System schon immer Anreize für parasitäre Mißbräuche schuf. Durch ungesteuerte Immigration wird es aber irgendwann überfordert, denn diese besitzt keine natürliche Obergrenze, die nicht jenseits dessen läge, was national verkraftet werden kann.“ (MP, S. 25)

Eine rationale Reaktion auf eine solche unbegrenzte Immigrationspolitik wäre, die Leistungen des Sozialstaats entsprechend zurückzuschrauben. Dadurch würden weniger Immigranten angelockt, und die Kostendynamik würde verringert werden. Allerdings würde ein solcher Abbau des Sozialstaats auf den entschiedenen Widerstand der Mehrheit der Bevölkerung stoßen. Da dass in einer Demokratie aber den Machtverlust der aktuellen Funktionsträger bedeuten könnte, würden zurzeit die Ausgaben für den Sozialstaat ausgeweitet, um auch die Immigranten zu versorgen.

„Man kann auf Europa verzichten“

Die führenden Politiker gewönnen dadurch Zeit, aber das Problem sei dadurch nicht gelöst:

„Der Zusammenbruch des Sozialstaats ist dadurch jedoch nicht zu vermeiden. Er wird beschleunigt, wenn die immer geringer werdende Zahl der belastbaren Leistungsträger sich durch Abwanderung verkleinert.“ (MP, S. 26)

Sieferle führt außerdem aus, dass man sich durchaus einen reinen Rechtsstaat denken könne, der sich eben nicht als Sozialstaat auspräge (MP, S. 27). Ein solcher Rechtsstaat würde dann Einwanderung einfach zulassen, er würde verlangen, dass alle sich an die Gesetze halten und diese Anforderung auch rigoros durchsetzen. Aber er würde keine darüberhinausgehende Daseinsfürsorge mehr betreiben – für keinen Bürger in seinem Staatsgebiet. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass sich in den Zielländern des industriellen Nordens Protestbewegungen gegen eine Massenimmigration entstehen, die auf Erhalt des „exklusiven sozialstaatlichen Leistungsniveaus“ bestehen, die aber auch eine „Überfremdung und kulturelle Marginalisierung“ (MP. S. 29) kritisieren. Sieferle bringt diese kulturelle Komponente des Protests mit dem Begriff „Identität“ auf den Punkt: Die „Völker“, die eben noch auf eigenem Grund im eigenen Land gelebt hätten, sollten sich nun in „Bevölkerungen“ transformieren, die nichts mehr an ihre Traditionen binde, was als Bedrohung der Identität gesehen werde. Sieferle rätselt, wie es zu dieser einflussreichen politischen Weltsicht in den führenden Industriegesellschaften kommen konnte:

„In dieser Situation gibt es aber erstaunlicherweise in den westlichen Ländern politisch maßgebliche Kräfte, die für eine unbeschränkte Immigration in die Wohlstandszonen eintreten. Es ist nicht völlig klar, was deren Motive sind. Die Vermutungen reichen von schlichten Irrtümern, gesinnungsethischen Aufladungen bis hin zu einer geheimen Agenda der Zerstörung der ethnisch-kulturellen Identität der Völker in den Wohlstandszonen mit der Hoffnung, dadurch eine technokratische Zentralisierung erleichtern zu können.“ (MP, S. 30)

Resigniert und zynisch sind Sieferles letzte Sätze in seinem Anschlusskapitel „Die längere historische Perspektive“, nachdem er der Frage nachgegangen ist, wie sich ein durch Massenmigration aus dem islamischen Raum islamisiertes Europa in Konkurrenz mit anderen Weltregionen darstellen würde. Die Antwort ist – wenig überraschend – düster. Eine Zukunftsperspektive hätte Europa nach seiner Ansicht nicht mehr, aber das hätte auch keine Folgen für den Fortschrittsgedanken:

„Man kann auf Europa inzwischen verzichten. Weltregionen wie das nördliche Amerika oder Ostasien befinden sich ohne Zweifel nicht nur auf dem Niveau der Probleme, sondern sie übertreffen heute schon die europäische Lösungskompetenz. Die Menschheit ist auf Europa nicht mehr angewiesen. Vielleicht wirkt das europäische Beispiel sogar eher als Warnung und Mahnung für die ‚Kompetenzfestungen‘ (Heinsohn), die daraus lernen, welchen Pfad sie vermeiden müssen. Dies könnte ein letzter wertvoller Beitrag Europas zur Menschheitsgeschichte sein.“ (MP, S. 135)

Zu sagen, dass Rolf Peter Sieferles Buch in den deutschen Mainstreammedien nicht gut gelitten ist, wäre eine starke Untertreibung. Nachdem sein ebenfalls nachgelassenes Werk „Finis Germania“ sich zum Skandalbuch des Jahres 2017 schlechthin entwickelte, wurde ihm pauschal ein gnadenloser Zynismus und Antisemitismus vorgeworfen, der Verlust der Fähigkeit zu differenzieren und ein Absturz in wüste und unreflektierte Kulturkritik. Aufgrund dieser pauschalen Verdammnis wurde auch das Buch zum Migrationsproblem in den Mainstreammedien des Internets ignoriert.

Christoph Schwennicke hat im Online-Portal des Cicero das Buch zum Migrationsproblem immerhin kurz angesprochen[3] und im Zusammenhang mit der Verweigerung des Mainstreams, das Buch überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, angemerkt, dass den Last-Minute-Fachleuten der Feuilletons eine intensive und anstrengende Auseinandersetzung mit dem streitbaren Sieferle wohl zu lästig gewesen sei. Der kurze Prozess ersetze eben das längere Reflektieren.

Massenmigration als Wohlstandphänomen

Eher versteckt im Blogbereich des Online-Portals der WELT veröffentlicht der Journalist Thomas Schmid am 04. August 2017 einen Beitrag[4], in dem das Buch und sein Autor in einer Weise behandelt werden, die dem bisherigen kulturellen Standard in Europa, wie man mit Dissens und unterschiedlichen Sichten auf das politische Geschehen umgehen sollte, immerhin noch annähernd entspricht. Aber das ist viel zu wenig und der inhaltlichen Tiefe des Werks nicht angemessen.

Schmid beginnt seinen kritischen Artikel über Rolf Peter Sieferle und seine Aussagen mit der Aufregung um das letzte Werk des Autors. Er beklagt, dass es schon lange einen liberalen und linken Konformismus derer gäbe, die sich auf der aufgeklärten Seite des Ufers wähnen würden. Ein besonders absurdes und blamables Beispiel dafür sei der Umgang mit dieser letzten Veröffentlichung des Historikers, Soziologen und Philosophen Sieferle. Und er beklagt, dass das Buch „Das Migrationsproblem“ im Gefolge der allgemeinen Verdammung seines Autors in den Medien nicht diskutiert werde.:

„Denn es ist eines der ganz wenigen ernst zu nehmenden deutschsprachigen Bücher, die sich radikal gegen Angela Merkels Flüchtlingspolitik wenden und den Deutschen vorwerfen, mit ihrer „Willkommenskultur“ das Gemeinwesen letztlich zu ruinieren. Das Buch ist eine scharfsinnige Begründung der These, dass wir es eben doch nicht schaffen könnten. Seine Argumente sollte man nicht tabuisieren, sondern diskutieren.“

Deshalb ist eine der Kernaussagen Sieferles in seinem Buch für Schmid nachvollziehbar, dass eine andauernde Masseneinwanderung zum Zusammenbruch des Sozialstaats führen würde. Hier nochmals Originalton Sieferle:

„Es wird irgendwann deutlich werden, daß eine Welt von no borders, no nations zugleich auch eine Welt von no welfare sein muss. Am logischen Ende dieses Prozesses steht eine institutionelle Ordnung, die auf sozialstaatliche Leistungen ganz verzichtet und sich darauf beschränkt, rechtsstaatliche Prinzipien durchzusetzen.“ (MP, S. 26/27)

Schmid gibt zu, dass Unsinn wie die Bemerkung der Grünen Göring-Eckardt im Jahre 2015, dass „wir“ jetzt plötzlich Menschen geschenkt kriegen würden, aktuell niemand mehr äußern würde.

„Und doch ist diese Denkfigur noch immer symptomatisch für die fahrlässige Blauäugigkeit und Unverantwortlichkeit vieler derer, die in den Flüchtlingen ausschließlich eine Bereicherung Deutschlands sehen. Die glauben, Flüchtlinge würden unser demographisches Problem lösen. Die hoffen, die Flüchtlinge würden den deutschen Facharbeiter-Gap schließen, würden – so Daimler-Chef Zetsche – ein neues Wirtschaftswunder in Gang setzen. Und die der Überzeugung sind, Flüchtlinge würden das Land vielfältiger und toleranter machen. Gegen diese Litanei geht Sieferle in „Das Migrationsproblem“ mit großer Schärfe, aber fundiert und mit guten Argumenten vor.“

Schmid geht zwar irgendwie konform mit Sieferles Analyse, dass die Massenmigration kein Armuts-, sondern ein Wohlstandsphänomen sei, weil immer mehr Menschen in die Lage versetzt würden, sich zu informieren und eine Entscheidung für die Migration zu treffen. Und auch ihm ist klar, dass hauptsächlich Unqualifizierte kämen, die Deutschland nicht brauchen könne, so dass absehbar sei, dass die Mehrheit von ihnen langfristig vom schon überdehnten Sozialstaat ausgehalten werden müssten. Schmid referiert auch eher zustimmend Passagen aus Sieferles Buch:

„Zudem erlebten die meisten Migranten zwar einen materiellen Aufstieg, sozial jedoch einen Abstieg. Darauf würden sie mit Abschottung und Rückzug in die ihnen vertrauten Familien- oder gar Clanstrukturen antworten. Deutschland werde, so Sieferle, durch Masseneinwanderung nicht vielfältiger, sondern amorph. Nicht friedlicher, sondern gewalttätiger. Nicht moderner, sondern archaischer und roher.“

„Es kann keinen universellen Sozialstaat geben“

Sieferle geht in seinem Buch nicht ins Detail einer künftig zu gestaltenden Politik in Reaktion auf die „Massenintegration von Analphabeten in die Industrieländer“ (Das Migrationsproblem, S. 29), aber er zeigt deutlich auf, dass es nur noch wenige Wahlmöglichkeiten gibt. Man kann die totale Abschottung praktizieren wie z. B. Japan, die selektive Zuwanderung wie z. B. Kanada, Australien oder Neuseeland oder man lässt die unbeschränkte Zuwanderung zu, wie es offenbar weiten Teilen der politischen Klasse in Deutschland vorschwebt. Sieferles Einschätzung zu letzterer Option ist klar, hier nochmals aus seinem Buch zitiert:

„Dies ist eine hochriskante, geradezu abenteuerliche Politik, die in die soziale Katastrophe führen kann. Aber wie es ausgeht, weiß man natürlich erst im nachhinein.“ (MP, S. 28)

Sieferle kann – wie oben schon aufgezeigt – nur staunen, dass diese radikalliberale Politik einer unbeschränkten Einwanderung von einem Land betrieben würde, in dem der Sozialstaat hoch im Kurs stehe und „neoliberal“ als Schimpfwort gälte. Das ist schon überdeutlich, und wenn Schmid in seiner Rezension vermerkt, dass Sieferle sich mit Aussagen und Konzeptionen zu Begrenzungs- und Abschottungsszenarien zurückhalte, ist das nicht mehr nachvollziehbar:

„Eigentlich müsste Sieferle in der Konsequenz seiner Argumentation die totale Abschottung Deutschlands und aller anderen Staaten Europas gegenüber Einwanderern fordern (was er an der einen und anderen Stelle auch erwägt). Dafür gäbe es ein starkes Argument: Wer den Sozialstaat – der so etwas wie der grundlegende deutsche Gesellschaftsvertrag ist – beliebig ausweitet, der zerstört ihn. Es kann keinen universellen Sozialstaat geben.“

Schmid stimmt der Analyse Sieferles eigentlich zu, dass der Wohlfahrtsstaat im Kern auf der Solidarität und dem Vertrauen in einem Nationalstaats beruhe und dass dieser durch seinen Erfolg attraktiv für Nicht-Mitglieder geworden sei, die auf dem Trittbrett mitfahren wollten. Damit müsste er auch der Meinung sein, dass eine unbeschränkte Zuwanderung in den Wohlfahrtsstaat nicht geht und dass nun eine Diskussion darüber erfolgen müsste, ob und welche Grenzen man denn in den Zeiten globaler Verflechtungen gegen Trittbrettfahrer des Wohlfahrtsstaats ziehen müsste. Oder man müsste jetzt eine äußerst unangenehme Diskussion darüber beginnen, wie der deutsche Sozialstaat zurückgefahren werden muss, um in den Zeiten der Globalisierung wenigstens noch rudimentäre Funktionen auszuüben. Dass künftig eine Entscheidung darüber, wie wir in Europa und Deutschland leben wollen gefällt werden muss, das ist im Grunde die Kernaussage in Sieferles Buch.

Überraschenderweise behauptet Schmid in seiner Rezension nun aber, dass Sieferle in einer Politik der Migrationsbegrenzung keine realistische Perspektive sähe, aber gleichzeitig auch den Sozialstaat der westlichen Welt als nicht mehr bezahlbar ansähe:

„Das alles sei aber mit der Globalisierung wohl unwiderruflich dahin. Der Sozialstaat stehe auf verlorenem Posten, Grenzen seien fortan porös, weniger Einzahlenden stünden mehr Nutznießer gegenüber. Es könnte diese Befürchtung sein, die Sieferles Denken ins Tragische, Ausweglose, Kulturpessimistische getrieben hat.“

Der Rezensent Schmid interpretiert offenbar die aktuelle Unfähigkeit der Politik, vor allem auch auf der linken Seite des politischen Spektrums, zu klaren Entscheidungen in Sieferles Text hinein, obwohl der Autor auch aufführt, dass Staaten wie Kanada oder Australien eine durchaus funktionierende selektive Abschottung vornehmen würden. Sieferles Buch handelt doch davon, dass eine Entscheidung getroffen werden muss. Hier verspürt man deutlich die linke Angst, bei den eigenen Leuten in Ungnade zu fallen, den linken Konformismus, den Schmid zu Anfang seines Beitrags selbst beklagt hat. M. E. will Sieferle in seinem Migrationsbuch darlegen, dass die anstehende Entscheidung zur Lösung des Problems, wie immer sie auch ausfällt, hart sein wird: ob es um vollständige Abschottung, selektive Zuwanderung oder unbeschränkte Massenzuwanderung geht. Im letzteren Fall wird das zum Rückbau des Sozialstaats führen müssen, da die Mittel, die eine Gesellschaft insgesamt für soziale Zwecke und Umverteilung erarbeiten kann, eben begrenzt sind.

„Humanitärer Universalismus?“

Schmid weicht der Frage nach konkreten Entscheidungen zur Bewältigung des Migrationsproblems insgesamt aus. Überhaupt merkt man der Rezension an, dass die Hinwendung Sieferles zu aus Sicht des Rezensenten „rechten“ Positionen letztlich nur ratlos macht. Es ist großer Respekt vor Sieferles Lebenswerk vorhanden, so dass eine Würdigung des Historikers „nicht nur von seinem Ende her, nicht nur als ‚Verirrter‘ “ erfolgen sollte.

Dass er sich aber verirrt hat, dass ein „Absturz“ vorgefallen ist, wird nicht bezweifelt, ohne dass genauer definiert wird, von wo und wohin denn genau Sieferle gestürzt sein soll. Am ehesten kann man das Negative an Sieferles Werdegang aus Sicht des politischen Linksspektrums wohl noch am Begriff des humanistischen Universalismus festmachen. Denn das Kapitel im Buch des Historikers über die „Motive der Akteure“, in dem dieser Begriff sehr oft verwendet wird, hat bei Schmid wohl einen wunden Punkt getroffen. Dementsprechend soll es hier gesondert behandelt werden.

Sieferle konstatiert, dass die Zulassung bzw. die Förderung der Massenimmigration von den Intellektuellen mit einem Rekurs auf den Prinzipien einer universalistischen Ethik begründet werde (MP. S. 65). Der Historiker umschreibt diese Haltung oft auch mit dem Begriff „humanitärer Universalismus“; manchmal auch nur „Gesinnungsethik“:

„Die Immigranten erscheinen als ‚Menschen‘, denen die gleichen ‚Rechte‘ oder die gleiche ‚Würde‘ innewohnt wie den Menschen in den Zielländern, woraus im Extremfall gefolgert wird, daß kein legitimer Unterschied zwischen Migranten und Einwohnern gemacht werden darf. Diese Argumentation ist vor allem in der ‚Öffentlichkeit‘ verbreitet, also in Presse und Fernsehen, aber auch im Bildungswesen, und man hat den Eindruck, daß sie dort für bare Münze genommen wird. Ob dies im politischen Raum auch der Fall ist oder ob dort die gesinnungsethische Rhetorik eher einen Nebelvorhang bildet, der die wahren Motive verdeckt, mag dahingestellt bleiben. Auf jeden Fall aber ist das humanitär-universalistische Argument so stark, daß es eine eigene ideelle Motivreihe bilden kann.“ (MP, S. 65)

Diese Haltung prägt die Politik:

„Heute befinden wir uns in einer Situation, in der in den westlichen Ländern offiziell partikularistische ethische Programme fast vollständig von universalistischen Orientierungen abgelöst worden sind. Ideologische Partikularismen wie der Nationalismus gelten in jeder Hinsicht als atavistisch, als traditionelle Restbestände, die schleunigst zu überwinden sind. Der humanitäre Universalismus ist heute zur dominanten Ideologie in den westlichen Ländern geworden, und viele Zeitgenossen halten ihn für schlechthin selbstverständlich. Dies führt allerdings zu Konsequenzen, die nicht alle Menschen für ebenso selbstverständlich halten werden.“ (MP, S.69/70)

Die Generation Merkel kennt nur eine Richtung / Quelle: Pixabay, lizenezfrei Bilder, open library: https://pixabay.com/de/menschenmenge-m%C3%A4nner-frauen-auflauf-2152653/

Die Generation Merkel kennt nur eine Richtung / Quelle: Pixabay, lizenezfrei Bilder, open library: https://pixabay.com/de/menschenmenge-m%C3%A4nner-frauen-auflauf-2152653/

Sieferle merkt noch an, dass ein zentrales Element des humanitären Universalismus, das Postulat der Gleichheit aller Menschen sei, das sich allerdings zu einer fundamentalistischen Ideologie ausgeformt habe, zu einer „gleichheitsreligiösen Orientierung“ (MP. S. 79). In ihrer fundamentalistischen Form führt diese Geisteshaltung dann konsequent zur Öffnung der westlichen Wohlfahrtsstaaten für eine unbegrenzte Zuwanderung. Werden die Menschenrechte als vorbehaltlos geltende Individualrechte wahrgenommen, könnte dies jede politische Ordnung sprengen, die immer nur auf einen bestimmten Teil der Menschheit bezogen ist:

„Nur der Prinzipienreiter sieht keine Obergrenze und glaubt, einzelne Bestimmungen der Menschenrechte besäßen absoluten Charakter, müßten also auch um den preis des Untergangs verfolgt werden.“ (MP, S. 80)

Und so stichelt Sieferle gerade gegen die Leute, die seiner Meinung nach, diese universalistische Ethik verbreiten, die Journalisten in Presse und Rundfunk, wohl wissend, dass seine Bezeichnung „Invasoren“ für die Migranten seine Beliebtheit im Lager der Wohlmeinenden nicht vergrößern wird:

„Viele Zeitgenossen, vor allem im journalistisch-intellektuellen Milieu, nehmen die Invasoren als ‚Menschen‘ wahr, die sie nicht mehr von anderen Menschen unterscheiden wollen. Was prinzipiell für Menschen gilt (Menschenrechte, Menschenwürde), gilt für alle Menschen, und in diesem Fall ist man sogar bereit, massive Nachteile in Kauf zu nehmen, vielleicht auch in der Hoffnung, daß man sich selbst dem entziehen und die Kosten auf andere abwälzen kann.“ (MP, S. 77)

„In Rage gedacht“

Er stellt die Träger der von ihm kritisierten universalistischen Gesinnung als Leute hin, die sich den tatsächlichen Konsequenzen einer auf dieser Gesinnung gestützten Politik eventuell auch noch trickreich entziehen werden.

Der Rezensent Schmid geht nun auch empört auf den Vorwurf einer ausgeuferten Gesinnungsethik ein, eines in der Sicht Sieferles „verlogenen“ Universalismus, der das Besondere zerstöre:

„Und vollends verabscheuenswert ist für Sieferle der angeblich hemmungslose Universalismus, also die zur „fundamentalistischen Ideologie“ erstarrte Überzeugung, im Grunde seien alle Menschen gleich und es gelte, diese Gleichheit weltweit zu verwirklichen. Sie ist für ihn der Krebs, der die Substanz Deutschlands zerfrisst. Im Namen globaler Verantwortung greife die vollkommende Verantwortungslosigkeit um sich. Die trunkenen Universalisten öffnen die Grenzen und „heißen die Invasorenstämme willkommen“, die Deutschland in eine multitribale Gesellschaft verwandeln, in der die „Barbaren“ den Ton angeben. Das ist ziemlich nahe am Wahn. Trotz aller gewaltiger Probleme, die die Einwanderung aufwirft, ist Deutschland nach wie vor unverkennbar ein gut eingerichtetes und gut verwaltetes Land, um das wir vielerorts in der Welt beneidet werden. Und das in den Fluten der Migration nicht unterzugehen droht. (…). Trotz Dieselskandal und Aushöhlung des Parlamentarismus – von Chaos, Regellosigkeit, Anarchie, gebrochenem Landfrieden und Staatsversagen keine Spur. Wie konnte Sieferle das alles beiseite wischen? Vermutlich hat er sich, wie viele andere glühende Merkel-Feinde auch, in Rage gedacht.“

Natürlich kann man solche Aussagen in Sieferles Buch als Überspitzungen kritisieren, ebenso kann man diskutieren, ob der Historiker die Zukunft zu sehr schwarzmalt.

Schmid argumentiert nun, dass Sieferle „sich in Rage gedacht“ und dabei die Realität in Deutschland und Europa „beiseite“ gewischt habe. Nur beschreibt Sieferle eben nicht die Gegenwart in Deutschland und Europa, sondern eine von ihm befürchtete Zukunft. Sieferle hat durch die polemischen Aussagen vor allem auf eine künftige Fehlentwicklung im großen Maßstab aufmerksam machen wollen (so ersichtlich z. B. beim Begriff „multitribale Gesellschaft“ in MP, S. 27), die allerdings in manchen Großstädten in Europa schon Realität ist. Diese Fehlentwicklung wird nach Sieferles Meinung durch die Gesinnungsethik des humanistischen Universalismus in den westlichen Ländern befördert. Im Rettungsversuch für eine Beibehaltung der Prinzipien des universalistischen Humanismus unterstellt Schmid, Sieferle habe in seiner scharfen Polemik die Zustände eines gegenwärtigen Deutschlands beschrieben. Sieferle stellt sich aber als Verantwortungsethiker lediglich die Frage, wie sich die universalistische Gesinnungsethik zukünftig auswirken wird. Diese Frage muss man aber an die Gesinnungsethiker stellen dürfen, ohne als Unmensch abgestempelt zu werden.

Und das macht der Rezensent Schmid dann leider. Er wirft Sieferle letztendlich fehlende Empathie und Menschenfeindlichkeit vor, und dass er sich in seinen letzten Jahren einen elitären Herrenmenschen-Konservativismus zusammengebastelt habe. Seine letzten Werke seien geprägt von Ausflügen in das Reich enthemmter Schimpfworte. Letztendlich hat Sieferle, so Schmid, die universalistische Position der Linken, zu denen er sich auch einmal zählte, völlig geräumt, dass nämlich versucht werden müsse, „die Menschen unterschiedlicher Nationen und Erdteile zusammenzubringen und übernationale Strukturen des Austauschs und der Verständigung über Kulturgrenzen hinweg zu schaffen“.

„Elitärer Herrenmenschen-Konservatismus?“

Es ist richtig, dass Sieferle nicht mehr die universalistische Position der Linken in der Definition von Thomas Schmid teilt. Wenn diese Position beinhaltet, dass die Menschen in Europa die von den Gesamtgesellschaften in den einzelnen Staaten erarbeiteten sozialen Standards aufgeben müssen, weil die Linke einer Massenzuwanderung nach Europa das Wort redet, muss die Frage gestellt werden, wen das mehr beschämen sollte, die Linke oder Sieferle? Thomas Schmid kann aber den „Furor“ Sieferles gegen den humanistischen Universalismus nicht nachvollziehen, weil seiner Meinung nach der Historiker hier etwas falsch verstanden habe:

„Rolf Peter Sieferle versteht dessen Anspruch als Programm, als Handlungsanweisung, als Strategie: Alle Menschen sind gleich, und der Universalismus setzt das durch, zu hundert Prozent. Dieser Universalismus ist ein Herrscher, der sich die Welt unterwerfen will: Sieg oder Niederlage. Es gibt aber auch einen anderen, wenn man will: einen real existierenden Menschen kompatiblen Universalismus. Der ist kein zu exekutierendes Programm, sondern eine Ahnung, ein Gefühl, ein Impuls, eine Einsicht, ein Wollen, ein Mitgefühl. Das sichere, keineswegs spinnerte Gefühl, dass alle Menschen etwas verbindet. Dieser Universalismus dekretiert nicht, dass alle Menschen gleich sind, er hält nur extreme Formen von Ungleichheit für unerträglich. Und meint, es sei unsere Aufgabe, das zu mildern. Er verwirft nicht die partikularistische Nächstenliebe, die dem eigenen Umfeld gilt, zugunsten der universalistischen Fernstenliebe, von der er weiß, dass sie eine Schimäre bleiben muss. Er hält nur ganz entschieden dafür, dass es möglich und im Namen des Humanismus geboten ist, den Zeiger ein klein wenig von der Nächstenliebe weg zur Fernstenliebe hin zu verschieben. Viele kleine Akte dieser Art machen die Welt zu einem besseren Ort. Für diese Methode hatte Sieferle, der verspätete Universalgelehrte, keinen Sinn.“

Solche feingeistigen Unterscheidungen zwischen verschiedenen Universalismen macht Sieferle in der Tat nicht mehr. Er schaut auf die konkrete Ausformung, die die herrschende Gesinnungsethik in Deutschland hat; der humanistische Universalismus at work sozusagen:

„Von außen ergibt sich der Eindruck, Deutschland habe sich in einen Hippie-Staat verwandelt, einen politischen Kindergarten, in dem die reine Gesinnung gegenüber der politischen Vorausschau und Rationalität den Sieg davongetragen hat. Diese umfassende politische Stimmung der ‚guten Menschen‘ in Deutschland trägt inzwischen geradezu totalitäre Züge. Alle Abweichler, die auf die Folgen hinweisen und skeptische Einwände hervorbringen, werden als ‚Rassisten‘, ‚Pack‘, ‚Dunkeldeutschland‘ etc. stigmatisiert. Eine offene rationale Debatte ist im Milieu des ‚herrschaftsfreien Diskurses‘ nicht mehr möglich.
Wie konnte das geschehen? Wie konnte ein ganzes Land (nicht zum ersten Mal in seiner Geschichte) jede politische Vernunft, jeden Pragmatismus und jeden Common Sense über Bord werfen? Wie konnte dieses Volk von Geisterfahrern zugleich meinen, es vertrete die einzig legitime Position, während der Rest der westlichen Staaten im Irrtum oder in der Unmoral befangen bleibt? Wollte die Welt sich wirklich noch einmal weigern, am deutschen Wesen (der beim Wort genommenen universalistischen Moral) zu genesen?“ (MP, S. 80/81)

Eine Erklärung ist für Sieferles Deutschlands Nazi-Vergangenheit, die viele Deutsche dazu bringe, sich in Europa auflösen zu wollen bzw. die zur Erwartung führe, sich über Migranten vom lästigen Deutschtum erlösen zu können. Hier muss man dem Historiker wohl widersprechen. Das mag ein Motiv in linksradikalen Politgrüppchen und Teilen der Linksparteien sein, aber ob dieses geschichtsvergessene Volk in seiner Mehrheit solche Beweggründe hat, ist zu bezweifeln.

Riss innerhalb der Intellektuellen

Sieferle befürchtet für die Zukunft durch eine gefahrenblinde Elite mit ihrer Ideologie des humanitären Universalismus ein Abgleiten Deutschlands und Europas in eine „Tribalgesellschaft“, also genau das, was die Gesinnungsethiker eigentlich nicht wollen:

„Der humanitäre Universalist steht damit vor dem Problem, daß er den humanitären Universalismus als selbstverständlich unterstellt, etwa als Katalog der ‚Menschenrechte‘, so daß die jeweilig andere Kultur nur innerhalb der Spielräume agieren darf, die er offen läßt. Damit ist aber die Anerkennung des humanitären Universalismus als überlegene Ideologie vorausgesetzt, als Gebot der Vernunft etwa. Dies gilt dann auch für ihre Institutionen, also für ihr Rechtssystem, das der Scharia übergeordnet ist, oder für das Gewaltmonopol des Staates, das die Fehde und die Selbstjustiz verbietet. Aus der Perspektive der Tribalgesellschaft handelt es sich hierbei natürlich um eine Anmaßung, die man sich nur so lange gefallen läßt, wie der humanitäre Universalismus und der mit ihm verbundene Rechtsstaat stärker ist als man selbst. Wenn sich die Kräfteverhältnisse ändern, kann man den Spieß umdrehen, und man beginnt mit Akten der Einschüchterung. Dann werden die die humanitären Universalisten selbst zu einem bedrohten Stamm.“ (MP, S. 87/88)

Der Ansatz der Universalisten kann nach Meinung von Sieferle eben krachend scheitern, allerdings wird es dann zu spät sein, den westlichen Sozial- und Rechtsstaat wiederaufzurichten. Diese noch einmal genauer geschilderten Positionen Sieferles zum humanitären Universalismus sind für Schmid nicht mehr nachvollziehbar. Es drängt sich der Eindruck auf, dass sich hier ein tiefer Riss innerhalb der Intellektuellen aufgetan hat, der immer unüberbrückbarer wird.

Ebenfalls nicht fehlen darf in der Rezension Schmids offenbar ein Hinweis auf verschwörungstheoretische Bezüge in Sieferles Buch:

„Zwar geht er, dafür ist er zu klug, nicht so weit, der Bundesregierung und dem ihre Flüchtlingspolitik unterstützenden intellektuellen Milieu zu unterstellen, sie arbeiteten bewusst und planvoll an der „Umvolkung“ und letztlich Vernichtung Deutschlands. Aber immer wieder scheint in seiner Schrift der Verschwörungsgedanke durch. Etwa wenn er schreibt: „Das einst recht homogene Volk soll sich in einen Stamm unter Stämmen verwandeln.“ Wo etwas sein soll, da muss es Planer, Drahtzieher und eine Absicht geben. Und die Deutschen, so Sieferle, seien selbstvergessen genug, daran auch noch mitzuwirken: „Deutsch sein heißt, an seiner Auflösung zu arbeiten.“

Es ist eine resignierte und manchmal eben auch in Zynismus umschlagende Verzweiflung eines Intellektuellen über die politische Unfähigkeit seiner Mitbürger, die in Sieferles Buch immer wieder durchscheint. Es ist ein Volk, in dessen Staat das Wort „Bürger“ inzwischen ohne Probleme mit dem Begriff „Menschen, die schon länger hier leben“ ausgetauscht werden kann.

Interessant ist auch, was der Rezensent nicht erwähnt. Thomas Schmid geht in seiner Rezension nicht auf das Kapitel „Narrative zur Legitimation“ in Sieferles Buch ein, obwohl gerade hierzu ein Journalist einiges sagen könnte bzw. sogar müsste.

Fragwürdiges Narrativ

Ein Narrativ ist ein sinnstiftendes Erzählmotiv mit Einfluss auf die Art, wie die Umwelt wahrgenommen wird (so z. B. in der Wikipedia definiert). Sieferle sieht hier Narrative des Flüchtlings, der Demographie, des Arbeitsmarkt- und Fachkräftemangels und des Multikulturalismus zur Legitimation der Massenimmigration im Umlauf. Beim Flüchtlingsnarrativ z. B. gehe man von der Behauptung aus, bei den Immigranten handele es sich um Flüchtlinge aus Kriegsgebieten oder um politisch Unterdrückte, die in den Wohlstandszonen Sicherheit vor Verfolgung suchten. Das würde aber verschleiern, dass in der aktuellen Migrationskrise nur etwa ein Drittel der Ankommenden wirkliche Flüchtlinge seien:

„Dieses Flüchtlingsnarrativ hat den Vorzug, direkt an humanitäre Helferinstinkte appellieren zu können. (…). Diesem Appell an das Mitgefühl können sich viele Zeitgenossen nicht entziehen. Es gehört zum Wohlgefühl in den reichen Ländern, auch ein gutes Gewissen zu haben und sich dem Ruf nach Hilfe nicht zu verschließen. Diese naiven Gefühle werden von den Machthabern in Politik und Medien instrumentalisiert, um die (natürlichen) Widerstände im Volk gegen die Massenimmigration zu ersticken und zugleich diejenigen Bedenken gegen diese Politik äußern, als egoistische Unmenschen zu diskreditieren („Nazis“, „Rassisten“, „Dunkeldeutschland“, „Pack“ etc).“ (MP, S. 32)

Waren es nicht die deutschen Mainstreammedien, die dieses Narrativ bis ins Unendliche vorgebracht haben?

Welches Fazit für den Umgang im Mainstream kann man zu Sieferles wissenschaftlich wie stilistisch hervorragendem Buch „Das Migrationsproblem“ ziehen?

Eine offenen Diskussion über die ganze Migrationsproblematik, die Sieferle zu führen versuchte, steht noch aus, und eventuell wird es in diesem gesinnungsethisch eingesponnenen Deutschland auch nie dazu kommen. Schmids Rezension der letzten Bücher Rolf Peter Sieferles, die man zwar nicht unbedingt als fair bezeichnen kann, aber immerhin sein Migrationsbuch auch behandelt hat, war im Internet jedenfalls ein Einzelfall. Ansonsten kam es kam zu einer fast allgemeinen Verweigerung, sich überhaupt noch mit Büchern des Wissenschaftlers zu beschäftigen, seine Themen und Thesen zu diskutieren.

Ein guter Vorwand war natürlich Sieferles posthum herausgegebenes Buch „Finis Germania“, das als angeblich neorechtes Schandwerk identifiziert wurde und das man weder zur Besprechung vorschlagen noch in einer Verkaufsliste aufführen darf. Durch die negative Beurteilung dieses Buchs wurde der Autor gebrandmarkt und damit auch seine vorherigen Veröffentlichungen.

Zudem ist Sieferles Thema der notwendige Rückbau des Sozialstaats bei einer Fprtführung der Willkommenskultur. Ein Rückbau würde harte Einschnitte für viele Menschen in Europa bedeuten, die nun einmal schon länger hier wohnen; eine Fortdauer der Migration wie 2015 und 2016 in den nächsten Jahren würde zwangsläufig dazu führen. Überlegungen solcherart sind offenbar No-go-Areas des Denkens.

Auch das Aufzeigen der herrschenden Narrative durch den Autor, die unterstützend zur gesinnungsethischen Legitimierung der aktuellen Migrationspolitik in Deutschland wirken, mag eine gewisse Rolle spielen. Diese Narrative verbreiteten und verbreiten vor allem die deutschen Mainstreammedien, es ist offenbar für die deutschen Journalisten unangenehm, sich derart in die Karten blicken zu lassen. Man hält es also lieber unter der Decke.

Angst vor Ausgrenzung

Es gibt sicherlich die mediokren Mitläufer im Journalismus, die aus innerer Überzeugung handeln, Reflex statt Reflektion eben. Und ist ein Autor und Wissenschaftler einmal derart stigmatisiert und in die Nähe des Rechtspopulismus gerückt worden, ist es ein Leichtes seine Thesen, auch wenn sie noch so scharfsichtig und durchdacht sind, ohne schlechtes Gewissen beiseite zu schieben.

Oder kann es sein, dass das Schweigen zu Sieferle aus einer großen Verunsicherung im deutschen Journalismus resultiert? Man wähnt sich zwar gesinnungsethisch immer noch auf der richtigen Seite, weiß aber nicht mehr, wie man diese Haltung dem Leser noch argumentativ vermitteln soll. man traut den eigenen Argumenten nicht mehr, deshalb ist es einfacher die Gegenargumente besser gar nicht zu erwähnen.

Viele Journalisten (vielleicht auch die meisten) werden aber wohl aus Gründen der eigenen Karrieresicherung und aus Angst vor Ausgrenzung lieber keine Beschäftigung mit Sieferles Aussagen in seinem Migrationsbuch gesucht haben. Man kann es verstehen: Mut zur Gegenrede im Lager der Gutmeinenden und Gesinnungswächter wird oft hart bestraft, manchmal trifft es dann nicht nur den Gesinnungsabweichler, sondern auch seine ganze Familie. Unser früherer Bundespräsident Gauck meinte einmal völlig zurecht, dass der Meinungsstreit keine Störung des Zusammenlebens, sondern Teil der Demokratie sei. Ist das in Deutschland verstanden worden?

 

Anmerkungen

[1] GEOLTICO, Grinario, „Der Irrweg der Generation Merkel

[2] Siehe Wikipedia

[3] Cicero, Christoph Schwennicke, „Reflex statt Reflexion

[4] Thomas Schmid, „Über den Gipfeln ist Ruh‘. Das verstörende Werk des Gelehrten Rolf Peter Sieferle

 

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hubi stendahl
hubi stendahl
6 Jahre her

Zitat: „Wo etwas sein soll, da muss es Planer, Drahtzieher und eine Absicht geben. Und die Deutschen, so Sieferle, seien selbstvergessen genug, daran auch noch mitzuwirken: „Deutsch sein heißt, an seiner Auflösung zu arbeiten.“ Was ist daran falsch? Hätte der linke Sieferle auch noch die mannigfach vorhandenen Indizien UND Beweise hinzugefügt, wäre er nicht als verirrter 68er diffamiert worden, sondern direkt zum Hardcore-Nazi mutiert und in der Bücherverbrennung gelandet. Linke hatten einmal die Idee, sich orientiert an humanitären Idealen, für die Bedürfnisse der Arbeiterschaft in der frühindustriellen Epoche einzusetzen. Außer einer auserkorenen kleinen Gruppe, waren aber schon für Marx Arbeitslose… Read more »

Grinario
Grinario
Reply to  hubi stendahl
6 Jahre her

„Es entspricht dem heutigen Zeitgeist, erst etwas in Szene zu setzen, um dann zu schauen, wie man die vorhersehbaren negativen Folgen abmildert. Hauptsache man darf sich rühmen „Gutes“ getan zu haben; koste es was es wolle.“

So ist’s. Diese Gesinnungsheuchelei war für Sieferle wohl langsam unerträglich. Deshalb hat er in seinem Buch auch ein ganzes Kapitel über „Narrative“ geschrieben, die die gesinnungsethische bestimmte Politik der deutschen Funktionselite über die Medien im „Volk“ legitimieren sollen.

Greenhoop
Greenhoop
Reply to  hubi stendahl
6 Jahre her

Es ist ein linker Widerspruch in sich, eine soziologisch fehlgeleitete universale, intellektuell miserabel begründete Gesellschafts-ideologie mit Gewalt gegen die Mehrheit der Menschen durchsetzen zu wollen, ohne zu erkennen, dass daran nur einige wenige partizipieren und immer mächtiger werden. Will man verstehen, warum eine verblendete Minderheit erfolgreich sein kann, gleichgültig wie unverfroren die Umerziehung auch sein mag, braucht lediglich einen Blick in Richtung Bremen und seinem obersten Propaganda-Blättchen, dem Weserkurier (WK), werfen. Eine Novelle des Bremer Polizeigesetzes wird durch das Bündnis „BremenTrojaner“ kritisch beäugt, wichtige Informationen auf der folgenden Seite bemängelt. https://brementrojaner.de/ Der Weserkurier stellte nun in seiner typisch unkritischen Weise,… Read more »

Gast
Gast
6 Jahre her

selber lesen:
die Einschätzung vom sacker ist gut.
Habe gestern auch eine Unterhaltung mitangehört, über das englische Wesen zum Unterschied zu den Deutschen aus russischer Sicht über 100 Jahre. Sehr aufschlußreich.

das hier:

http://alles-schallundrauch.blogspot.ch/2018/04/russland-bereit-fur-einen-krieg-die.html

dragaoNordestino
Reply to  Gast
6 Jahre her

@Gast

russland-bereit-fur-einen-krieg

Hmm… meiner Meinung nach Wunschdenken. Die RF hat zwar hochmoderne Abwehr- und Angriffswaffen.. nur, leider in sehr beschränkter Stückzahl.

Einem Natoangriff mit mehreren zehn tausend von Angriffswaffen, kann deshalb die RF konfentionell nur kurze Zeit wiederstehen.

Die Option Atomkrieg ist deshalb kaum ab zu wenden… nur wer ist bereit für einen solchen, und weiter, kann einen solchen relativ unbeschadet überleben.?

hubi stendahl
hubi stendahl
Reply to  Gast
6 Jahre her

@Gast „Die perfekte Diktatur hat das Aussehen einer Demokratie, aber im Grunde ist sie ein Gefängnis ohne Mauern, in dem die Gefangenen nicht einmal davon träumen zu entkommen. Es ist im Wesentlichen ein System der Sklaverei, wo die Sklaven durch Konsum und Unterhaltung nur noch ihre Dienstbarkeiten lieben.“ Aldous Huxley, Schöne neue Welt. Heute musste ich geschäftlich in eine größere Stadt in´s Ruhrgebiet. Da ich 20 min. zu früh war, wollte ich mir am Hauptbahnhof eine Zeitung kaufen. In diesem Bahnhof, vor dem 2 VW T-Modelle der Polizei ohne Besatzung standen, ging es zu wie in Islamabad. Herumlungernde Jugendliche Migranten,… Read more »

Gast
Gast
6 Jahre her

Ich habe mir gestern die Diskussionen der Herrenrunde angehört von Vladimir Solovjov , die haben sich da ausgelassen welche Verbrechen die Engländer vor 100 Jahren in Rußland verübt haben, das müssen nicht wenige gewesen sein. Dann über die 5 Gesichtige englische Oberschicht; die haben das auch verglichen mit den Deutschen. Rasultat war das man den Engländern überhaupt nicht trauen kann, die Deutschen sollen ein ganz anderes Volk sein–ziemlich direkt–vertrauenswürdig, trotz aller Erfahrungen in den beiden Kriegen. Ich denke das das was gerade in Deutschland abläuft von den Engländern mit inszeniert wurde um ein Zusammengehen mit Rußland in irgedn einer Weise… Read more »

heinss
Reply to  Gast
6 Jahre her

Meinem Eindruck nach liegen Sie damit gar nicht falsch. Zieht man all das in Betracht, was man an durchsickernden (neu-geschichtlichen) Informationen wie Geschehnissen inzwischen erkennen kann gibt es zwar verschiedene Deutungsmöglichkeiten, aus denen sticht aber eine besonders hervor: eine Symbiose zwischen D und RU soll mit allen Mittel – einschließlich kriegerischer Auseinandersetzung – vermieden werden. Würde man D und RU sich ungestört entwickeln lassen so wüchse ein neues Machtgefüge heran daß seinesgleichen suchen könnte. Beide Länder ergänzen sich in ihren Eigenheiten bestens. So betrachtet ist die Prognose für den mitteleuropäischen Raum düster. Nur: die Methode der Islamisierung taugt nicht –… Read more »

Gast
Gast
6 Jahre her

die haben eben gesagt–in einer Diskussionsrunde—keiner weiß ,wo die völlig verrükt gewordenen Amerikaner/GB als nächstes loschlagen werden im Donbas auf der Krim ; Barentsee ? Merkel + Ihre internationale Politruppe haben Putin ausgeschlossen bei den Verhandlungen um den Donbas. Trump verlangt die Rückgabe der Krim . Die russischen Politiker + Bevölkerung sind völlig schockiert von den einseitigen Schuldzuweisungen, die sich in immer kleiner werdenden Abständen häufen. Diese Provozierereien. Es scheint das das EZB-System wohl in den Endzügen, vor dem Bankrott steht–und die EU-Eliten wollen nicht Schuld sein vor Ihren eigenen Bevölkerungen also sucht man sich wieder Prügel-Knaben. Deswegen wohl auch… Read more »

Karl Bernhard Möllmann
Karl Bernhard Möllmann
6 Jahre her

. . . ZITAT @ Grinario: . „Ein Volk von Geisterfahrern“ . JA, das kann man wohl so sagen . . . . Doch wir sind beileibe nicht das einzige Volk von Geisterfahrern – die Briten, Israel @ vor allem die USA weden aus dem Hintergrund gesteuert von den chronischen Geisterfahrern dieses Planeten. . WENN man das aber ÄNDERN will – dann muß man die SPIEL-REGELN kennen – WIE eine ANALYSE funktioniert, Wie man zur richtigen DIAGNOSE kommt, und WIE dann eine funktionierende THERAPIE aussehen könnte. . Die von den BRITEN an Israel und auch an die USA vererbte plumpe… Read more »

Gast
Gast
6 Jahre her

Darum geht es Trump. ———————– ne Kriegserklärung per Twitter! ne Kriegserklärung per Twitter ist ja mal was ganz neues. Neuland! und gleich im nächsten Tweet schiebt er hinterher, daß der krieg auch ausfallen könnte, wenn Russland seine Bodenschätze günstig an die USA übergebe. Twitter „Our relationship with Russia is worse now than it has ever been, and that includes the Cold War. There is no reason for this. Russia needs us to help with their economy, something that would be very easy to do, and we need all nations to work together. Stop the arms race?“ Wenigstens ist er ehrlich… Read more »

Gast
Gast
Reply to  Gast
6 Jahre her

Ich denke das es einen großen Konflik geben wird–und Deutschland steckt mittendrin.

Merkel ist da so tolpatschig wie sie ist einfach lachend mitgelaufen mit Ihrer Frauentregierung.

In dieser Entwicklungs-Phase wirst Du den Konflikt nicht mehr stoppen können. Ich sah den Sprecher der Russen bei den vereinten Nationen flehen, den Konflikt nicht herbeizuführen.

–das für euch im Westen als Beweis–das Rußland nie ein Interesse hatte diesen Konflikt zu führen.

Rußland verteidigt nur seinen Verbündeten Assad /Syrien.

Die Russen werden jetzt Ihr Existenzrecht als Nation verteidigen–wenn nötig mit einem

Atomkrieg.

Dimcho
Dimcho
5 Jahre her

Seeeeeehr lange Rede, ganz kurze Sinn. Deutschland geht zur Grunde, bestimmt. In einige Jahren sind wir Fremde in unser Heimat. Es folgt dann der Arabischen Frühling…und das war’s.

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