Merkels Jamaika ist eine Notlösung

In einem Fünfparteiensystem sind Minderheitsregierungen reelle Regierungsoptionen. Aber der Einfluss der Wähler auf die Regierungsbildung sinkt damit dramatisch.

Nach der Bundestagswahl hat sich die SPD aus der großen Koalition verabschiedet. Nun bemüht sich Kanzlerin Angela Merkel um eine Koalition mit Grünen und der FDP, also um eine sogenannte Jamaika-Koalition. Gegen dieses Bündnis gibt es erhebliche Widerstände in der bayerischen CSU, aber auch in der Union sind die Vorbehalte gegen die Grünen noch lange nicht abgebaut. Ob dieses Bündnis also tatsächlich zustande kommt, steht in den Sternen.

Doch gibt es jenseits von krampfhaften Bestrebungen eine Koalition zu bilden, nicht eine viel einfachere Lösung in Form von Minderheitsregierungen? Im folgenden Essay wird diese alternative Option auf Landes- und Bundesebene untersucht.

Gründe für Minderheitsregierungen

Über Minderheitsregierungen gibt es verhältnismäßig wenig deutsche Fachliteratur, die sich intensiv mit dieser Thematik auseinandersetzt. Deswegen soll im weiteren Verlauf auf die Definition des norwegischen Politikwissenschaftlers Kaare Strøm zurückgegriffen werden. Dieser definiert Mehrheitskabinette wie folgt:

„Any cabinet that meets all appropriate constitutional requirements and that is composed of persons acting as representatives of political parties or parliamentary groups that collectively control no less than one-half of all seats in the national legislature, or that chamber of the legislature to which the cabinet is constitutionally responsible”.

Eine Mehrheitsregierung verfügt demzufolge über mindestens die Hälfte aller Parlamentssitze. Daraus leitet sich ab, dass Minderheitsregierungen über weniger als die Hälfte der Sitze verfügen und auf Stimmen bzw. Enthaltungen anderer oppositioneller Abgeordneter angewiesen sind. Eine derartige Kabinettsbildung scheint dem Prinzip des „minimum winning“-Ansatzes von Wiliam H. Riker zu widersprechen, da dieser grundsätzlich von einer Mehrheit ausgeht. Aufgrund der Zusammenarbeit mit der Opposition erreichten Mehrheit bei Abstimmungen, kann jedoch zumindest von einer „working majority“ gesprochen werden.

Minderheitskabinette können sich aus unterschiedlichen Gründen heraus bilden. Daraus ergeben sich folgende drei Erscheinungsformen:

  1. Eine geschäftsführende Minderheitsregierung entsteht meistens im Falle eines Koalitionsbruches mit anschließendem Verlust der parlamentarischen Mehrheit. Ein Beispiel hierfür war die SPD-Minderheitsregierung 1982 unter Helmut Schmidt. Darüber hinaus kann es nach erfolglosen Koalitionsverhandlungen dazu kommen, dass das letzte Kabinett geschäftsführend bis zur nächsten (Neu-)Wahl im Amt bleibt. Dies geschah beispielsweise 2008 in Hessen, als Roland Koch (CDU) kommissarisch Ministerpräsident blieb.
  2. Bei einer tolerierten Minderheitsregierung wird die Regierung durch eine oder mehrere Oppositionsfraktion/en im Parlament geduldet. Der Politikwissenschaftler Strohmeier beschreibt diese Variante als „Quasi-Koalition“, da sie ähnlich wie eine Mehrheitsregierung funktioniert und weshalb sie sich auch als stabile Minderheitsregierung oder gar als heimliche Mehrheitsregierung bezeichnen lässt. Umgesetzt wurde ein solches Modell zuletzt 2010 in NRW unter der SPD-Politikerin Hannelore Kraft.
  3. Bei einer kooperativen Minderheitsregierung wird die Regierung von sich abwechselnden Oppositionsparteien bei ihren Gesetzesvorhaben unterstützt. Zusätzlich wäre auch die Mehrheit der Opposition fähig, Gesetze gegen den Willen der Minderheitsregierung zu verabschieden. In Deutschland ist dieses Modell jedoch noch nicht explizit versucht worden. In anderen Ländern wie Dänemark ist diese, als „kooperativer Parlamentarismus“ bezeichnete, Staatspraxis dagegen weit verbreitet.

Strøm bezeichnet die Probleme, welche üblicherweise mit Minderheitsregierungen assoziiert werden, als „conventional wisdom“ der Fachliteratur. Die meisten Kritikpunkte hängen mit der fehlenden parlamentarischen Mehrheit zusammen, die augenscheinlich politische Instabilität und Ineffizienz begünstigen. Im Folgenden soll nun auf diese Kritik eingegangen und analysiert werden, inwiefern diese berechtigt ist.

Minderheitskabinette gelten in Deutschland, hauptsächlich wegen den Erfahrungen in der Weimarer Republik, als besonders instabil. Bei genauer Betrachtungsweise erweist sich dieser Vorwurf aber als empirisch nicht belegbar. Von den acht bewusst konstituierten Minderheitsregierungen in der Geschichte der Bundesrepublik, ist erst eine vorzeitig beendet worden. Wie die Historie offenbart, verhält es sich bei Mehrheitsregierungen nicht anders. Eine Zusammenarbeit in Form einer Koalition oder eine Tolerierung beherbergt zwangsläufig immer die Gefahr eines Scheiterns. Das hat weniger mit der Regierungskonstellation an sich zu tun, als vielmehr mit inhaltlichen, parteipolitischen oder personellen Gründen.

Ein tieferer Blick in die Weimarer Zeit bestätigt zudem, dass die dortigen Kabinette unabhängig davon, ob sie Minderheits- oder Mehrheitsregierungen waren, mehrmals vor Ablauf der regulären Amtszeit auseinanderbrachen. Ein Grund hierfür war das „destruktive“ Misstrauensvotum, welches eine vorzeitige Abberufung des Reichskanzlers, sowie seiner Minister begünstigte. Nicht zuletzt aufgrund dieser Erfahrung wurde das konstruktive Misstrauensvotum im Grundgesetz implementiert. Darüber hinaus hat sich die politische Kultur in Deutschland im Laufe des 20. Jahrhunderts drastisch geändert und weiterentwickelt.  Die Demokratie als Herrschaftsform hatte sich in der Weimarer Republik noch nicht so stark in der Gesellschaft verankert, wie in der Bundesrepublik. Dies manifestiert sich u.a. an dem i.d.R. bis heute sehr schlechten Abschneiden von extremen, politischen Parteien.

Effektiv und demokratiefördernd

Weitere Angriffsfläche für Kritiker bieten die fehlenden parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse, angesichts dessen die Regierung für jede Gesetzesinitiative aufs Neue die Zustimmung von Teilen der Opposition gewinnen muss. Daraus muss sich aber nicht zwangsläufig ein Problem entwickeln. In einem relativ schwach segmentierten politischen System wie dem der Bundesrepublik, indem fast alle Parteien (mit Ausnahme der Linkspartei und der AfD) miteinander kooperieren, können grundsätzlich jederzeit parlamentarische Mehrheiten organisiert werden. Hierbei ergibt sich ein entscheidender Vorteil gegenüber starren Mehrheitsregierungen. Während einer Legislaturperiode sind abwechselnde, dynamische Mehrheitsverhältnisse möglich, die problemorientierte Sachpolitik in den Vordergrund rücken. Infolgedessen wird auch der Einfluss des Parlaments gegenüber der Regierung gestärkt.

In präsidentiellen Systemen, wie dies beispielsweise in den USA der Fall ist, verhält es sich durchaus ähnlich. Dort ist das Parlament (Legislative) strikt von der Regierung (Exekutive) getrennt. Die Konsequenz davon ist, dass einzelne Abgeordnete ihren Wirkungsbereich vergrößern und bei geheimen Abstimmungen auch unabhängiger vom Fraktionszwang votieren können. Im direkten Vergleich mit einer großen Koalition, in welcher die Exekutivlastigkeit des Parlaments zu und die Bedeutung des einzelnen Abgeordneten abnimmt, stärken Minderheitsregierungen demzufolge den demokratischen Parlamentarismus.

Eine andere mit der mangelnden parlamentarischen Mehrheit zusammenhängende Sorge der Kritiker ist die womöglich schlechte Gesetzes-Performance von Minderheitsregierungen. Die Frage, ob diese letztlich ineffizienter arbeiten als ihr mehrheitsorientiertes Pendant, lässt sich jedoch nicht pauschal beantworten. In einem stark fragmentierten, wenig polarisierten Parteiensystem wie z.B. in Dänemark sind Minderheitsregierungen der Regelfall und nicht weniger effektiv als Mehrheitsregierungen. In anderen skandinavischen Ländern wie Norwegen und Schweden sieht es ähnlich aus.

Auch ehemalige Minderheitskabinette in Deutschland widerlegen die Ineffektivitäts-These. Zum Beispiel verlor die CDU-Minderheitsregierung im Berliner Senat von 1981 bis 1983 keine einzige Abstimmung und konnte jederzeit eine stabile parlamentarische Mehrheit mobilisieren. Auch das rot-grüne Minderheitskabinett von Hannelore Kraft konnte 47 von insgesamt 59 eingebrachter Gesetzesentwürfe erfolgreich verabschieden. Zieht man davon die zwei zurückgezogenen, sowie die acht verfallenen Entwürfe aufgrund der Auflösung des Landtages ab, ergibt sich eine durchaus positive Gesetzgebungsbilanz.

Auch wird oftmals der Vorwurf erhoben, dass die Regierung nicht klar von der Opposition abgrenzbar ist und sich die Abgeordneten bzw. Fraktionen nicht eindeutig den parlamentarischen Lagern zuordnen lassen. So heißt es z.B. in Artikel 40 der sächsischen Landesverfassung die Opposition betreffend:

Die Regierung nicht tragende Teile des Landtags haben das Recht auf Chancengleichheit in Parlament und Öffentlichkeit“.

Ähnlich verhält es sich in Artikel 16a Absatz 2 Satz 1 der Bayerischen  Landesverfassung:

Die Fraktionen und die Mitglieder des Landtags, welche die Staatsregierung nicht stützen, haben das Recht auf ihrer Stellung entsprechende Wirkungsmöglichkeiten in Parlament und Öffentlichkeit“.

Die Formulierung von „nicht stützen“ bzw. „nicht tragend“ lässt einen gewissen Interpretationsspielraum offen. Eine formelle Zusammenarbeit würde die Definition einer Opposition auf den Kopf stellen. Darüber hinaus bedeutet z.B. eine gewonnene Vertrauensfrage, die von Teilen der Opposition mitgetragen wird, nicht zwangsläufig auch, dass die Regierung über eine stabile, gesetzgebende Mehrheit verfügt.

Die Option der Duldung führt infolgedessen zu einem weiteren Kritikpunkt. Durch die strikte Trennung der Regierungs- und Oppositionsfraktionen wird die Last der Verantwortung von Mehrheitsentscheidungen, alleine von den Schultern der Regierungsparteien getragen. Bei einer Tolerierung wird diese Trennung erschwert, und die duldende Partei kann sich notfalls aus der Verantwortung stehlen. Da die Landtage aber über deutlich weniger Kompetenzen verfügen als der Bundestag und eher Verwaltungsaufgaben im Mittelpunkt des Geschehens stehen, ist eine mögliche Umsetzbarkeit einer geduldeten Minderheitsregierung hier durchaus wahrscheinlicher. Der Vorwurf der Intransparenz bezüglich der parlamentarischen Lagergrenzen ist daher durchaus berechtigt.

Die hier dargelegte Kritik verdeutlicht, dass eine Minderheitsregierung sowohl Probleme als auch Chancen für das politische System mit sich bringt. Vor- und Nachteile hängen dabei häufig eng zusammen.

SPD und Linkspartei in NRW

Auf Landesebene hat es bisher erst acht Versuche gegeben, direkt im Anschluss an eine Landtagswahl, eine Minderheitsregierung zu konstituieren. 1951 in Schleswig Holstein unter Friedrich-Wilhelm Lübke, 1976 in Niedersachsen unter Ernst Albrecht, 1981 in Berlin unter Richard von Weizäcker und in Hessen unter Holger Börner. 1994 und 1998 in Sachsen-Anhalt unter Reinhard Höppner. 2001 in Berlin unter Klaus Wowereit und zuletzt 2010 in NRW unter Hannelore Kraft. Letztere soll im Folgenden, angesichts der hohen politischen Relevanz des Bundeslandes und der aktuellen bundespolitischen Problematik der Regierungsbildung in einem Fünfparteiensystem genauer untersucht werden.

Am 14.Juli 2010 nach der Wahl von Hannelore Kraft zur Ministerpräsidentin in Nordrhein-Westfalen hat sich das vorerst letzte Minderheitskabinett in Deutschland gebildet. Der Weg dorthin gestaltete sich zunächst aufgrund des erstmaligen Einzugs der Linkspartei in das Düsseldorfer Parlament als durchaus schwierig. Nach der Landtagswahl 2010 hatte sich die politisch heikle Situation ergeben, dass weder Rot-Grün noch Schwarz-Gelb über eine Mehrheit im Landtag verfügten. Sondierungsgespräche über eine Ampel bzw. Jamaikakoalition scheiterten an den kleinen Parteien, jene über eine Große Koalition an den Sozialdemokraten und jene über ein rot-rot-grünes Bündnis bereits an Verfahrensfragen. Als die SPD-Politikerin Kraft kurz davorstand aufzugeben, stellte die Linkspartei eine bedingte Zusammenarbeit in Aussicht und die bürgerlichen Parteien kündigten zumindest an, keine grundsätzliche Blockadehaltung einzunehmen. Diese im Vorfeld geäußerten Intentionen spiegeln sich u.a. bei verschiedenen Gesetzen wider, welche stellenweise von CDU und FDP mitgetragen wurden.

Eine Untersuchung von Steffen Ganghof und seinen Kollegen belegt, dass durch den Nichteintritt der Linkspartei in die Regierungskoalition die Flexibilität der Mehrheitsbildung im Landtag prinzipiell erhöht wurde. Im Normalfall profitiert die SED-Nachfolgepartei von so einer Konstellation am meisten. Sie kann dabei ihr öffentliches Bild als Protestpartei bewahren und gleichzeitig Einfluss auf die Regierungsarbeit ausüben. Im Zweifelsfall kann die Partei zudem ihre Unterstützung der rot-grünen Minderheitsregierung jederzeit wieder einstellen und sich anschließend im Wahlkampf als „einzig-wahre“ Partei im linken Lager profilieren. SPD und Grüne haben hingegen den Vorteil, Posten und Ämter unter sich aufteilen zu können, ohne dabei eine dritte Partei mit zu berücksichtigen (office seeking).

Das Ende des Kabinetts Kraft I in NRW infolge des geplanten Haushaltgesetzes ist letztlich „das Ergebnis von Fehleinschätzungen der Akteure und von unerwarteten Dynamiken“. Inhaltliche, personelle oder politische Gründe spielten dagegen eine untergeordnete Rolle. Dementsprechend bleibt eine solche Regierungsvariante auch in Zukunft attraktiv und umsetzbar.

Machtzuwachs für den Bundesrat

Die institutionellen Hürden für eine Minderheitsregierung auf Bundesebene sind, im internationalen Vergleich gesehen, sehr hoch. Der Kanzler-Kandidat einer parlamentarischen Minderheit kann erst in der dritten Stufe des Kanzlerwahlverfahrens mit relativer Mehrheit der Stimmen gewählt und anschließend durch den Bundespräsidenten ernannt werden (vgl. Art. 63 Abs. 3 GG).

Alternativ dazu hat das deutsche Staatsoberhaupt jedoch die Möglichkeit, den Bundestag aufzulösen und Neuwahlen herbeizuführen (vgl. Art. 63 Abs. 4 GG). Dies kann nur dadurch umgangen werden, wenn eine tolerierende Fraktion im Bundestag den Kanzler im ersten oder zweiten Wahlgang mit ihren Stimmen unterstützt, ohne dabei jedoch an der Regierung direkt beteiligt zu sein.

Ein weiteres institutionelles Hindernis stellt der Bundesrat dar. Bei Mehrheitsregierungen spielen in der Gesetzgebung grundsätzlich nur die zustimmungspflichtigen Gesetze eine wesentliche Rolle. Jene Gesetze, bei denen der Bundesrat lediglich Einspruch erheben kann, können vom Bundestag überstimmt werden und sind somit im Normalfall vernachlässigbar. Minderheitskabinette, die im Parlament dagegen über keine eigene Mehrheit verfügen, können unter Umständen auch das Veto des Bundesrates gegen Einspruchsgesetze nicht zurückweisen. Infolgedessen ist der Bundesrat im Falle einer Minderheitsregierung auf Bundesebene, ein noch mächtigerer und bedeutenderer Vetospieler, als bei einer Mehrheitsregierung. 

Trotzdem verfügt eine von der Minderheitsregierung mit der Opposition ausgehandelte Gesetzesinitiative sehr wohl über eine Mehrheit im Bundestag (working majority) und kann deswegen den Einspruch ebenfalls ohne Probleme überstimmen. Dass der Bundesrat dennoch bei einer bundesdeutschen Minderheitsregierung an Einfluss gewinnt, ist unbestritten. Durch die hohe Anzahl an zustimmungspflichtigen Gesetzen bzw. Einspruchsgesetzen in Kombination mit der höchstwahrscheinlich nicht vorhandenen Mehrheit der Regierungsparteien im Preußischen Herrenhaus wirkt die Praxistauglichkeit eines Minderheitskabinettes auf Bundesebene eher fraglich. Da in der Geschichte der Bundesrepublik aber kaum eine Mehrheitsregierung im Bundestag gleichzeitig auch über eine Mehrheit im Bundesrat verfügte, wie beispielsweise zuletzt die Große Koalition bewies, relativiert sich dieses Problem. Vergleiche mit anderen Ländern verdeutlichen zudem, dass faktische Einkammerparlamente, die institutionellen Rahmenbedingungen zur Bildung von Minderheitsregierungen begünstigen.

Erfahrungen in der Vergangenheit

In der Bundesrepublik ist bisher noch keine Minderheitsregierung auf Bundesebene willentlich konstituiert worden. Dennoch sind folgende vier Fälle eingetreten, in denen die Regierung über keine parlamentarische Mehrheit verfügte und nur geschäftsführend im Amt verweilte:

  1. Am 19. November 1962 verlor Bundeskanzler Konrad Adenauer zum ersten Mal die Bundestagsmehrheit. Als die FDP-Minister infolge der Spiegel-Affäre ihre Ämter niedergelegt hatten und Franz-Josef Strauß zum Rücktritt aufforderten, konnte sich die CDU/CSU-Regierung nicht länger auf die liberale Fraktion im Bundestag stützen. Beendet wurde diese Krise erst am 11.Dezember 1962, nachdem Adenauer sein liberal-konservatives Kabinett umgebildet hatte und Strauß kein Minister mehr war.
  2. Am 28. Oktober 1966 traten die FDP-Minister in einem von Ludwig Erhard geführten schwarz-gelben Kabinett zurück. Dieser Koalitionsbruch führte zum Rücktritt des Kanzlers am 30.November 1966 und zur Bildung einer großen Koalition unter Kurt Georg Kiesinger.
  3. Die wohl längste Zeit ohne eine parlamentarische Mehrheit herrschte vom 27. April bis zum 14. Dezember 1972 unter Kanzler Willy Brandt. Nachdem einzelne Regierungsabgeordnete von FDP und SPD zur CDU gewechselt sind, hat die Opposition beschlossen, ein konstruktives Misstrauensvotum gegen Brandt einzuleiten. Der Versuch ist jedoch im Bundestag überraschend gescheitert. Als Brandt daraufhin die Vertrauensfrage stellte und verlor, löste der Bundespräsident das Parlament auf.
  4. Die letzte Minderheitsregierung auf Bundesebene wurde zuletzt am 17.September 1982 unter Bundeskanzler Helmut Schmidt einberufen. Bedingt durch den Rücktritt der FDP-Minister verblieben die Regierungsgeschäfte alleine in der Verantwortlichkeit der SPD. Das sozialdemokratische Minderheitskabinett wurde allerdings schon am 1. Oktober 1982 mit Hilfe eines konstruktiven Misstrauensvotums von einer CDU-FDP geführten Mehrheitsregierung unter Helmut Kohl abgelöst.

Nach der Bundestagswahl 2013 hatte es Spekulationen gegeben, ob die Union angesichts der nur knapp verfehlten absoluten Mehrheit, nicht ein Minderheitskabinett anstreben sollte. Dies wurde aber von den verantwortlichen Politikern abgelehnt. Eine arithmetisch ebenfalls mögliche rot-grüne Minderheitsregierung unter Tolerierung der Linkspartei wurde bereits im Vorfeld ausgeschlossen.

Modell für die Zukunft?

Das pluralistische Fünfparteiensystem gestaltet Koalitionsbildungen in Deutschland zunehmend komplexer und vielfältiger. Infolgedessen müssen sich die Parteien über ihre Lagergrenzen hinaus anderen potenziellen Partnern annähern, um Regierungsverantwortung übernehmen zu können. In diesen, von zunehmendem Korporatismus geprägten Parlamentarismus verliert die Bundesrepublik immer mehr Aspekte einer klassischen Konkurrenzdemokratie, welche im Zweieinhalbparteiensystem der 1970er ihren Höhepunkt fand. Die dadurch stärker hervortretenden verhandlungsdemokratischen Eigenschaften des parlamentarischen Regierungssystems stärken dabei die Voraussetzungen für Minderheitsregierungen.

Inwiefern Dreierbündnisse oder Minderheitsregierungen in Zukunft eine Rolle in Deutschland spielen werden, bleibt spannend. Letztere Option löst bei Politikern, besonders aufgrund der Geschichte der Weimarer Republik, nach wie vor Unbehagen aus. Dennoch kann sie in verzwickten (Not-)Situationen oder bei unüberwindbaren politischen Differenzen, eine durchaus erstrebenswerte Alternative darstellen, wie das Beispiel in Nordrhein-Westfahlen 2010 bewiesen hat. Politiker könnten unabhängig von koalitionstechnischen Zwängen lagerübergreifende Lösungen bei Sachfragen ausarbeiten. Dass ein solches Herrschaftsmodell durchaus konstruktiv und stabil funktionieren kann, belegen zahlreiche Beispiele aus anderen Ländern wie Dänemark.

Trotzdem dürften Minderheitsregierungen vorerst die letzte Option für die Politik bleiben. Auf Bundesebene werden wohl eher Neuwahlen angesetzt, um eine gewohnte, stabile Regierungsmehrheit zu sichern. Einzig die als „Magdeburger Modell“ bezeichnete Konstellation, aus SPD und Grünen unter Tolerierung der Linkspartei, ist im Moment vorstellbar.

Mit dem Einzug der AfD in den Bundestag 2017 wäre ebenfalls eine Minderheitsregierungsvariante zwischen Union und FDP unter Tolerierung der AfD möglich. Doch bis auf Weiteres wird sich keine Partei mit der AfD einlassen. Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass Minderheitsregierungen als Alternative zur Großen Koalition attraktiver und infolge des sich veränderten Parteiensystems auch wahrscheinlicher werden.

Dem gegenüber stehen wahlweise Dreierbündnisse wie die derzeit von Bundeskanzlerin Angela Merkel angestrebte Koalition von Union, Grünen und FDP. Solche Dreierbündnisse sind in der Vergangenheit lagerübergreifend immer wieder leidenschaftlich diskutiert worden. Und durch die inhaltliche Annäherung von Union und Grünen, insbesondere was die Energie- und Einwanderungspolitik anbelangt, sind die Chancen für das von Merkel angestrebte Jamaika-Modell deutlich gestiegen.

Da sich die FDP neu orientiert hat, sind heutzutage aber auch Ampel-Koalitionen möglich, wie das Beispiel Rheinland-Pfalz zeigt.

Weiterhin zumindest theoretisch denkbar sind Dreier-Koalitionen aus SPD, Grünen und Linkspartei zumindest auf Landesebene. Für eine solche Konstellation ist etwa Thüringen das prominenteste Beispiel, weil dort die Linke das Bündnis anführt. Die einstigen Berührungsängste der 90er Jahre, welche sowohl die Sozialdemokraten, als auch die Grünen mit der postkommunistischen SED-Nachfolgerpartei PDS hatten, sind durch eine Annäherung von beiden Seiten größtenteils verschwunden.

Fazit

Das Fünfparteiensystem wird in Zukunft den Fraktionen ein hohes Maß an Flexibilität abverlangen. Der Einfluss der Wähler auf die Regierungsbildung nimmt dadurch dramatisch ab. Eine Mitgliederbefragung über einen ausgehandelten Koalitionsvertrag zu initiieren, wie es die SPD nach der Bundestagswahl 2013 tat, räumt bestenfalls den Parteien noch mehr Macht ein. Abschließend lässt sich die Frage, ob Minderheitsregierungen reelle Optionen für zukünftige Regierungsbildungen sind, mit einem klaren „Ja“ beantworten. Die Chancen für die Realisierbarkeit dieser Regierungsvariante sind langfristig gesehen sehr gut. Denn lagerübergreifende Dreierkoalitionen sind nur temporäre Notlösungen und keine permanente Machtoption.

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Über Michael Lechner

Michael Lechner studierte Politikwissenschaften an der Universität Kassel und Moskau. Derzeit beendet er sein Masterstudium der Staatswissenschaften mit den Schwerpunkten Politik und Wirtschaft an der Universität Erfurt. Kontakt: Webseite | Facebook | Twitter | Weitere Artikel

17 Comments
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Kilgore Trout
Kilgore Trout
6 Jahre her

„Jamaika-Koalition“? Seit wann kann man Reggae-Musik auf Blockflöten spielen?

Libelle
Libelle
6 Jahre her

Oh Gott!

Anicea
Anicea
Reply to  Libelle
6 Jahre her

@ Libelle

…der sitzt schon längst in irgend einer Ecke und weint bitterlich.
Er weiß, DIESE *Jugend* gibt seiner Schöpfung den Rest. 😉

Karl Bernhard Möllmann
6 Jahre her

. . . Wenn eine Minderheits-Regierung den „Gesunden Menschen-Verstand“ bedient – und eine logische Entscheidung GUT BEGRÜNDET & ERKLÄRT – sollte es keinerlei Probleme geben, diese Entscheidung auch durch das Parlament zu bringen. . WIE man OHNE Wähler-Auftrag Gesetze mit Gewalt durch boxt – DAS hat die EU mit Kapo Martin Schulz an der Spitze, der Welt vorgeführt – DAS ist der einzige Grund für das jetzige Auseinander brechen Europas. . SCHLECHTES Management ignoriert die Bürger, und regiert OHNE die Bürger mit zu nehmen – GUTES Management schafft Harmonie durch Transparenz & Vertrauen – DAS zu erreichen ist die große… Read more »

Aspasia
Aspasia
6 Jahre her

Ganz kurz: Die Minderheitsregierung Hannelore Kraft aufzuführen, ist geradezu aberwitzig. NRW ist geradezu das Paradebeispiel der destruktiven Politik eines Bundeslandes.
Und dann die Frage nach der Opposition! Die der Altparteien weiterhin als Scheinopposition? Gerade das sind ja die Jameikaner. Die einzige wahre Opposition wäre die der AfD und die ist auch bei Jameika hochaktiv.
Nein. Es bleiben m.E. nur Neuwahlen.

waltomax
waltomax
6 Jahre her

Müllo-logie? Man kann auch den Inhalt einer Mülltonne genau beschreiben und untersuchen. Der so strukturierte Müll erscheint dann „irgendwie aufgewertet.“ Und trotzdem bleibt es Müll. Dem tiefen Staat ist egal, wer unter ihm regiert. Auch die seltsame Koche aus Schwarzen, Gelben und Grünen ergibt eine missfarbene Brühe, bei der man den Boden nicht sieht, weil es keinen gibt. Es erwächst auch aus all der Selbstdarstellung der Parteien keine positive Resultiernde mehr, die das Gemeinwesen voranbrächte. Denn Politik wird auf dieser Ebene schon lange nicht mehr gemacht. Nur noch Karrieren! Die Auflösung der sog. „parlamentarischen Demokratie“ braucht nicht von irgendwelchen „Verfassungsfeinden“… Read more »

waltomax
waltomax
6 Jahre her

In solchen Zeiten kann man nur versuchen, sich noch verläßliche Strukturen zu suchen und sich zu reorganisieren.

https://www.youtube.com/watch?v=wqhR37qSUMA

The Dark Age
The Dark Age
6 Jahre her

Jamaika ist richtungsweisend für Deutschland. Willkommen in einem 3. oder 4.Welt-Land. Die Koalitionsverhandlungen in Deutschland sind doch vergleichbar mit einer Bananenrepublik. Wieviel Vize-Kanzler soll es denn jetzt geben? Meine letzter Kenntnisstand war, dass von Dreien die Rede war.
Ist auch egal, der Politik ist es eh egal, das Geld wächst auf den Bäumen und alle haben sich lieb.

asisi1
asisi1
6 Jahre her

diese jamaika haderlumpen geben Deutschland den rest!

Michael
Michael
6 Jahre her

Warum sollte eine Minderheitsregierung aus CDU/CSU/FDP nicht funktionieren? Die hätten 46% der Sitze. Die linke Seite aus SPD/Grünen/Linke käme auf 41% der Sitze. Mit der AfD will keiner, sollen ja Rechtsextremisten sein. Wobei man die Grünen und Linken auch als Autonome und Linksextremisten bezeichnen könnte. Von daher stünden in jedem Fall 46% gegen 41%, die Grünen mit in eine Regierung zu nehmen ist Dummheit. Die passen programmatisch nicht einmal ansatzweise zur Mehrheit der Regierung.

Greenhoop
Greenhoop
6 Jahre her

Kolumne Habibitus Deutsche, schafft Euch ab! Vor sieben Jahren veröffentlichte Thilo Sarrazin seine rassistische Thesensammlung „Deutschland schafft sich ab“ und eröffnete damit eine steigende Hetzstimmung gegen Muslim_innen. Dass Sarrazin ein rechter Lauch ist, der gerne viel Scheiße labert, wenn der Tag lang genug ist, wissen wir bereits. Dass er mit seinem Buchtitel ein falsches Versprechen gegeben hat, auch, denn ich schaue es dem Fenster und sehe Deutschland immer noch. Und die Deutschen bringen eine deutsche Aktion nach der anderen. Neulich warf Thomas Wir-sind-nicht-Burka de Maizière die Möglichkeit in den Raum, in bestimmten Bundesländern einen muslimischen Feiertag einzuführen. Dass diese Aussicht… Read more »

NoFiatMoney
NoFiatMoney
Reply to  Greenhoop
6 Jahre her

Das ist vieles im Busch und liegt im argen: marodes Geldsystem, Überschuldung von Staaten und Privathaushalten, steigende T2-Salden der BuBa, erdrückende Steuer- und Abgabenlast (speziell in DL), marodes Bildungs- und Hochschulwesen (speziell in DL gleichsam als Rohstoff vernichtend zu beurteilen), marode Infrastruktur (z.B. Verkehr, Energieversorgung), Deindustrialisierung (hier z.B. Dieselgate, angestrebte Abschaffung der mit Verbrennungsmotoren betriebenen Fahrzeuge), einstürzendes Rechtssystem (Gleichheit vor dem Recht mittels Gesetzen und von Exekutive sowie Judikative angegriffen), eigentlich schon beseitigte Meinungsäußerungsfreiheit, kaum mehr vor Überwachung geschützte Privatsphäre, permanenter Gesetzes- und auch Verfassungsbruch -nicht nur seitens der Exekutive-, vorsätzlich betriebene und mit UN- und EU-Agenden übereinstimmende Immigration -überwiegend… Read more »

Greenhoop
Greenhoop
Reply to  NoFiatMoney
6 Jahre her

@NoFiatMoney

Ich bin ziemlich sicher, @ Greenhoop, das Verderben ist nicht mehr aufzuhalten; was nicht heißt, die eigene, individuelle Abwehr gegen die Umsetzung diverser Agenden aufzugeben. Aber es wird nur noch bergab gehen.

Genau dieser Schlußfolgerung kann ich uneingeschränkt folgen und kann nur jedem empfehlen, die kostbare Lebenszeit nicht mit dem Blick in den Rückspiegel vergeuden zu wollen. Die eigene Vorbereitung – vor allem die Mentale – wird darüber entscheiden, wie stark wir im nahenden Chaos sein werden. Ich für meinen Teil bin vorbereitet.

Libelle
Libelle
6 Jahre her

Hier einmal ein wirklich guter Artikel über unser Parlament:

http://www.rationalgalerie.de/home/krieg-mit-jamaika.html

Zitrone
Zitrone
Reply to  Libelle
6 Jahre her

@Libelle Unter einem Kommentar gab U. Gellermann noch einen Nachschlag in Bezug auf die AfD. „Keiner verbietet der AfD gegen die von mir erwähnten Vorhaben zu protestieren. Nach längerer Recherche finden Sie dazu weder in den Zeitungen noch im Fernsehen ein Wort der AfD. Dafür findet man im AfD-Programm aber eben diesen Satz: „Im Ein- klang mit den langjährigen Forderungen der USA nach einer gerechten Verteilung der Lasten und den europäischen Bestrebungen nach mehr Mitsprache in der NATO“. Viel sklavischer gegenüber den Interessen der USA geht kaum. Und wer „mehr Mit- sprache in der NATO“ für die Wahrung nationaler Interessen… Read more »

Zitrone
Zitrone
6 Jahre her

„Abteilung Märchenstunde: Bundesregierung startet Aufklärungskampagne gegen
„Schleuser-Gerüchte“ :

https://deutsche-stimme.de/2017/10/23/abteilung-maerchenstunde-bundesregierung-startet-aufklaerungskampagne-gegen-schleuser-geruechte/

urbs
urbs
6 Jahre her

CDU,CSU,SPD,AfD,FDP,Grüne,Linke sind in der Summe sieben Parteien (oder sechs Fraktionen). Ist das Zählen von Parteien jetzt schon eine intellektuelle Überforderung?

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