Unter der Knute militanter Moralisten

Gesinnungsethik mit Absolutheitsanspruch ist der Tod jeder demokratischen Debatte und damit der Demokratie. Über die Folgen von Merkels humanitärem Imperativ.

In dem vor einigen Wochen erschienen Beitrag des Verfassers „Fluch Merkelscher Gesinnungsethik“ lag der Schwerpunkt der Diskussion auf der aktuellen Politik und den beiden Begriffen „Gesinnungsethik“ und „Verantwortungsethik“. Als Definition lag dabei folgender Text zugrunde[1]:

„Die Gesinnungsethik ist ein Typ moralischer Theorien, der Handlungen nach der Handlungsabsicht und der Realisierung eigener Werte und Prinzipien bewertet, und zwar ungeachtet der nach erfolgter Handlung eingetretenen Handlungsfolgen. Auch Gesinnungsethiker müssen jedoch vor ihren Handlungen die erwarteten Handlungsfolgen gründlich und angemessen beurteilen und in ihr Urteil über eine moralisch richtige Handlung einbeziehen. (…). Weber definierte die Gesinnungsethik dahingehend, dass „der Eigenwert des ethischen Handelns […] allein zu seiner Rechtfertigung genügen soll“.

Gesinnungsethiker wollen vor allem moralisch richtig Handeln und vernachlässigen die Folgen der Handlung. Die Grundlage für ihr Handeln kann „Ethik“ oder „Moral“ genannt werden, die Begriffe werden im Rahmen dieses Beitrags synonym gebraucht.

In „Fluch Merkelscher Gesinnungsethik“ wurde beklagt, dass die politische Kultur in Deutschland gesinnungsethisch geprägt ist, dass in Deutschland Politik, Journalismus und ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung inzwischen eine gesinnungsethische Einstellung haben, die sich nicht mehr an den zukünftigen Folgen der aktuellen Politik orientiert.

Merkels „humanitärer Imperativ“

In den drei Landtagswahlen im März 2016 haben die Parteien im Bundestag, die die Grenzöffnung für alle Zuwanderer befürwortet haben und immer noch befürworten, eine satte Mehrheit erhalten. Mag bei der Abstimmung die Flüchtlingsfrage nicht immer die ausschlaggebende Rolle gespielt haben, so muss doch als Faktum akzeptiert werden, dass die Haltung der deutschen Regierung in dieser Frage einen großen Rückhalt in der deutschen Gesellschaft hat.

Gleichzeitig ist zu konstatieren, dass die Flüchtlingspolitik der Regierung Merkel Deutschland aber in Europa in einem erschreckenden Ausmaß isoliert, nicht einmal mehr die bisherige moralische Weltmacht Schweden will eine Politik der geöffneten Grenzen mittragen. Deutschland hat sich auf einen Sonderweg begeben, diesmal auf einen Sonderweg der Moral. Die moralischen Maßstäbe dienen nicht mehr der Orientierung für eine verantwortungsvolle und realitätsbezogene Politik, sondern sie werden zur umzusetzenden Maßgabe, zum nicht mehr hinterfragbaren „humanitären Imperativ“.

Es ist zu vermuten, dass diese sture und für Beobachter aus dem Ausland geradezu bizarre Haltung im Umgang mit einer in Zukunft sich verschärfenden Migrationskrise als Folge des ersten katastrophalen Ausstiegs aus dem europäischen Wertekanon, der 1933 bis 1945 einen traurigen Höhepunkt erreichte, zu begreifen ist. Ein Credo der deutschen Eliten in Politik und Kultur scheint es wohl zu sein, diesmal alles richtig zu machen, nachdem „damals“ alles falsch gemacht wurde. Der Unmoral der Vergangenheit kann man nun die „richtige“ Moral in der Gegenwart entgegenstellen.

Der Beginn eines politisch-kulturellen Sonderwegs der deutschen Gesellschaft lag gewiss in den 60er-Jahren des letzten Jahrhundert. Hier soll eine erste deutliche Wahrnehmung eines veränderten Denkens dargestellt werden. Als Zeitzeuge wird der Sozialphilosoph Arnold Gehlen (1904 – 1976)[2] aufgerufen, der in seinem letzten Werk „Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik“ im Jahr 1969 (benutzt wurde die 6., erweiterte Auflage von 2004, in der Folge „MH“) einige zeitbezogene Beobachtungen zu Papier gebracht hatte.

Es gibt nicht die eine umfassende Ethik

Gehlens letztes Buch ist vor allem eine weitere Konkretisierung seiner philosophischen Anthropologie, nach der die Menschen als instinktreduzierte Mängelwesen nur überlebensfähig sind, wenn sie sich in Ordnungen einfügen, sich Insitutionen erschaffen. Der Mensch ist in dieser Sicht geradezu institutionenbedürftig[3]:

„Gehlens These ist, dass die mangelhafte Ausstattung der menschlichen organischen Natur grundlegend sei, was sich schon in der (…) unvergleichlich langen Humanisationsphase (das ,extra-uterine Frühjahr‘ nach der für einen Primaten ,konstitutionellen Frühgeburt‘) zeige. Darauf basiert seine Begründung stabiler Institutionen, deren der Mensch bedürfe.“

In „Moral und Hypermoral“ setzt sich Gehlen im Rahmen seiner Philosophie mit der bisherigen Auffassung des philosophischen Mainstreams auseinander, dass es nur eine einzige Moral gebe. Nach Gehlen gibt es mehrere voneinander unabhängige letzte Wurzeln ethischen Verhaltens. Er spricht deshalb von vier von einander nicht ableitbaren Ethosformen und einer „pluralistischen Ethik“ (MH, S. VIII):

  1. Das Prinzip der Gegenseitigkeit (im Buch auch „Ethos der Gegenseitigkeit“).
  2. Instinktive Regulationen, die verhaltensphysiologisch zu erfassen sind (im Buch auch „physiologische Tugenden“ genannt).
  3. Das familienbezogene ethische Verhalten inklusive ableitbarer Erweiterungen bis zum Humanitarismus (im Buch auch „Sippen-Ethos“ enannt).
  4. Das Ethos der Institutionen.

Gehlen sieht diese Ethosformen nicht als Entwicklungsprozess von einer Ethik der Kleingruppe hin zu einer allgemein akzeptierten Weltmoralität, die ohne Zweifel eine Vorstellung im heutigen Denken der globalen Eliten ist, sondern ein dauerhaftes Nebeneinander. Es gibt nicht die eine umfassende Ethik, sondern für unterschiedliche Lebensbereiche sind jeweils unterschiedliche Ethosformen zuständig.

Im Menschen sind somit mehrere moralische Instanzen, mehrere Sozialregulationen angelegt, deren Zusammenspiel und gegenseitige Ergänzung den Menschen zu einem ethischen, für die Gemeinschaft verträglichen Verhalten bringen. Diese Auffassung kann man als theoretisch-anthroplogischen Kern des Buches bezeichnen.

Mit der Annahme einer pluralistischen Ethik, stellt sich aber auch die Frage, was passieren würde, wenn es nicht zu einem austarierten und harmonischen Zusammenwirken dieser Ethikformen kommt, sondern zu einem dissonanten Gegeneinander, wenn eine oder mehrere dieser Instanzen aus dem Ruder laufen und andere Ethikformen überwuchern.

Genau diese Frage verbindet Gehlen mit den zeitkritischen Teilen in seinem Buch, die eine deutliche Polemik gegen „moralhypertrophe“ Tendenzen in der damaligen Gesellschaft enthält. Gehlen sieht durchaus, dass eine Vereinseitigung in Richtung einer bestimmten Ethosform auch zu einer psychischen Entlastung des Menschen führen kann, da er ja die Anforderungen der verschiedenen moralischer Instanzen innerlich aushalten muss, aber letztendlich sind für ihn die negativen Folgen, die er anhand der gesellschaftlichen Zustände im Westdeutschland seiner Zeit zu sehen glaubt, bedeutsamer:

„In der Bundesrepublik dieser Tage gilt der öffentlichen Meinung der abstrakte Humanitarismus als selbstverständliche Leitmoral“, MH, S. 183

Über 45 Jahre nach Erscheinen dieser Monographie ist es interessant, diese Zeitkritik Gehlens genauer zu betrachten und an der aktuellen Entwicklung zu messen.

Staat und Familie

Das sehr ursprüngliche Ethos der Gegenseitigkeit, das in der Auflistung der Instanzen an erster Stelle aufgeführt wurde, spielt in dieser Betrachtung keine Rolle, dafür soll gleich mit der moralischen Instanz begonnen werden, die für Gehlen eine zentrale Stellung in seiner Anthropologie einnimmt.

Für Arnold Gehlen ist das Institutionen-Ethos, das Gefühl der Verpflichtung gegenüber den bestehenden Institutionen, diejenige Sozialregulation, die den Menschen aus dem Tierreich heraushebt. Institutionen gibt es in der Tierwelt nicht, da der Mensch als „Mängelwesen“ Institutionen zu seiner Verhaltenssicherheit bedarf. Denn beim Menschen sind z. B. soziale Organisation und entsprechende Rangordnungen nicht durch angeborene Verhaltensweisen festgelegt. Institutionen erzeugen somit die notwendigen Regeln des Zusammenlebens der Menschen untereinander, die in verschiedenen Kulturen entsprechend unterschiedlich ausgeformt sind.

Der Begriff Gehlens von den Institutionen ist ein sehr weit gefasster Begriff, der z. B. Ehe, Familie, religiöse Riten oder auch staatliche Gebilde bedeuten kann. So sind Institutionen in den frühen Kulturen auch schriftlich nicht festgehaltene Verhaltensnormen (z. B. Übergangsriten), während im Laufe der Geschichte immer mehr Institutionen in dem Sinne entstehen, wie man gemeinhin den Begriff versteht (z. B. Staat, Schule mit den mit ihnen verbundenen Regeln).

Das Ethos der Verpflichtung gegenüber den durch die Institutionen vorgegebenen Regeln ist für Gehlen essentiell für den Bestand menschlicher Gemeinschaften. In seiner Sichtweise wird nun in den westlichen Gesellschaften das Institutionen-Ethos durch das Ausufern anderer Ethosformen eingeschränkt, so dass Realitätsferne und kultureller Niedergang vergleichbar mit den spätantiken Vorgängen die Folge sein werden.

In seinem Werk rückt Gehlen die menschliche Institution „Staat“, „an der sich die ethische Selbstgesetzlichkeit mit den daraus folgenden Möglichkeiten, zumal der Übersteigerung und Kollision mit anderen Moralen, besonders einleuchtend zeigen läßt“ (MH, S. 99), in den Mittelpunkt. Anhand des „Ethos des Staates“ wird dessen Überwucherung durch andere Ethosformen diskutiert. So kommt es im Verlauf der kulturellen Entwicklung der Menschheit zwangsläufig zu Konflikten der moralischen Instanzen, z. B. des Sippen-Ethos und des Staatsethos:

„Wenn der Staat eine Ordnung ist, die sowohl auf die Erzwingung des inneren Friedens gegenüber dem Rechtsbrecher wie auf die Sicherheit nach außen hin abgestellt ist, dann muss er mit der Welt der Familie in einen virtuellen Konflikt geraten, denn sie ist auf Fortpflanzung, Friedlichkeit, Pflege und Einstehen füreinander angelegt, vorbehaltlich der Spannungen und Konflikte auch in diesem Bereich. Es gehört zu den sehr alten, in Ägypten schon in vordynastischer Zeit gemachten Erfahrungen, daß der Staat schließlich das Eigengewicht der Sippen zu brechen hat, um deren Lebensbedürfnisse und Normen sich selbst unterzuordnen, auch wieder im Interesse der Sicherheit des Ganzen.“ (MH, S. 120)

Solange das Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Ansprüchen der Moralinstanzen gewahrt bleibt, gibt es keine Probleme. Problematisch wird das Übergewicht der einen oder anderen Seite und so ist dann auch das zentrale Thema der polemischen Passagen von Gehlens Streitschrift gerade das Entgleisen, das Ausufern der Ethosform, die man als Familien- und Sippenmoral oder altruistisches Verhalten im kleinen Verband bezeichnen kann, zum „Humanitarismus“. Gehlen sieht diese ursprünglich instnktnahe Sozialregulation als sehr tief im Menschen verankert an, die aber als ein auf die ganze Menschheit ausgeweiteter Anspruch, der dazu noch eine ethische Alleinherrschaft beansprucht, politisch kontraproduktiv wird:

„Das Ethos der Nächstenliebe ist das familiäre, es ist zuerst innerhalb der Großfamilie lebendig, aber der Erweiterung fähig, bis es der Idee nach die ganze Menschheit umfasst.“ (MH, S. 119)

Nicht die Ausdehnung des Familien- oder Sippen-Ethos in andere Bereiche per se ist für Gehlen kritisch, sondern seine Überdehnung, wie sie im Humanitarismus zutage tritt. „Humanitarismus“ ist der Schlüsselbegriff für eine von Arnold Gehlen diagnostizierte negative Entwicklung, die sich, geschichtlich gesehen, wiederholt vollzogen hat. Der Humanitarismus ist „die zur ethischen Pflicht gemachte unterschiedslose Menschenliebe“, der „mit und ohne Begleitung religiöser Motive auftreten“ kann (MH, S. 75). Genauer handelt sich um den Prozess

„der Elargierung von Instinktresiduen, die sich wie Gummi ausdehnen können und dann sehr große Bereich einbeziehen. Hier handelt es sich nämlich um die Ausdehnung und Entdifferenzierung des ursprünglichen Sippen-Ethos oder von Verhaltensregulationen innerhalb der Großfamilie. Dies sind von Grund aus antistaatliche, pazifistische und generative Einstellungen“. (MH, S. 79)

Dieses „Ideal der Menschenfreundlichkeit“ ist auf Weltverkehr und Großimperien bezogen:

„Der Humanitarismus als solcher tritt unter historisch-soziologischen Voraussetzungen zutage, die wir auch schon berührten: Seine im Nahbereich immer segensreiche Gegenwart wird übermächtig, wenn die Großreiche sich über niedergebrochenem Nationaldasein, über durcheinandergeschobenen Bevölkerungen und weiten Verkehrsflächen erheben. (…).
Der Alleinherrschaft dieses Ethos sehen wir solange mit Besorgnis entgegen, als es keine Weltgesellschaft in einem Weltstaat gibt und es daher noch offenbleibt, welcher Kontinent einmal seine Eigeninteressen als die der Menschheit ausgeben wird.“ (MH, S. 80/81)

Staatsethos oder „Staatsräson“

In einer Passage seines Buches fasst Gehlen die verschiedenen Formen des Humanitarismus, wie man ihn im Verlauf der Geschichte ausmachen kann, zusammen:

„Eine ursprünglich auf die Großfamilie bezogene Ethosform der Brüderlichkeit und Sympathiebereitschaft läßt sich aus ihrer Begrenzung heraus erweitern, und dies geschah in mehreren Schritten – als stoisches Weltreichsethos, oder im Gewande vorderasiatischer Erlösungsgläubigkeit oder endlich als sozialhumanitäre Einstellung der Industrieperiode hat sich doch immer derselbe Gefühlsstrom durchgezogen. Zweitens besteht ein Spannungsverhältnis dieses Ethos zum staatlich-politischen, also zum Ethos einer rational organisierten Gefahrengemeinschaft, und darüber hinaus sogar ein virtueller Gegensatz, der in extremen Situationen zutage tritt.“ (MH, S. 108/109)

Immer wieder in der menschlichen Geschichte wird gemäß Gehlens Auffassung also das Ethos des Staates durch das ausufernde Sippen-Ethos, die „humanitäre Gesinnungsmoral“, überformt, wobei für ihn eine „unschlichtbare Gegensätzlichkeit zwischen Familie und Staat und daher zwischen den humanitären und dem politischen Ethos“ (MH, S. 107) herrscht. Die humanitäre Gesinnung steht den allgemeinen Interessen eines Staates entgegen:

„Weil der Staat die Gesamtwohlfahrt eines Volkes nach außen und nach innen, zuletzt mit sich dessen Existenz zu sichern hat, steht er unter dem Zwang zum Erfolg, und so begründet sich der Vorrang der Rationalität. Die zwei oder drei Völker, in denen so etwas heute vor sich geht, werden frei sein, d. h. ihr Schicksal selbst bestimmen.“ (MH, S. 112)

Was Gehlen mit dem Staatsethos beschreibt, kann man durchaus mit dem Begriff „Staatsräson“ umreißen, verstanden als vernunft- und interessengeleitetes Handeln der Regierenden in Verantwortung für das Ganze.

Eine weitere Ethosform wird von Gehlen auch ausführlich behandelt. Die Ethosform der physiologischen Tugenden ist im Kern eigentlich eine Mitleids- oder Hilfereaktion, die den Menschen instinktiv aktiviert, wenn entsprechende Auslöser vorhanden sind.

Kritisch sieht Gehlen aber das Ausufern dieser Sozialregulation zu einem sozialen Eudaimonismus (Masseneudaimonismus, Ethos des Massenlebenswertes), das Versprechen des Staats an seine Bürger, ihnen die „Versorgung mit Glück“ zu garantieren. Dadurch kommt es zu einem „Vorrang des Sozialen“ vor allen anderen Themen der Politik und formt eine instinktartige moralische Anlage in eine Weltanschauung um, es entsteht das Ethos des allgemeinen Wohlergehens.

Wenn es bei dieser Ethosform zu einer Überdehnung kommt, dann, so merkt Gehlen ironisch an, „würde wahr, daß nicht nur der Einzelne moralischer leben kann, als er es sich leisten könnte, wie Freud meinte, sondern ganze Völker“ (MH, S. 52).

Diese Ethosform sei hier nur skizziert, da ein vertieftes Eingehen den Rahmen dieses Beitrags sprengen würde, sie ist aber unerlässlich für das Erreichen des Zustands der Moralhypertrophie innerhalb einer Gesellschaft.

Denn ein trauriger Endpunkt in der kulturellen Entwicklung der Menschen ist in dieser Denkhaltung der Moralhypertrophie erreicht. Es ist der Zustand, wenn das „überwältigend hypertrophe humanitär-eudaimonistische Ethos“ (MH, S. 107) entstanden ist, also die Kombination der beiden überdehnten Ethikformen des Sippen-Ethos und der physiologischen Tugenden:

„Da die Menschheit nichts Größeres mehr außer sich sieht, muss sie sich selbst umarmen und ihr immer schon wahnhaftes Glücksverlangen von sich selbst erwarten. Die dazu gehörende Moral kann alles hinwegschwemmen und auflösen, was dem Triumph über die entleerte Natur und über die mühsame, verblendete und prachtvolle Geschichte entgegenstehen würde. Der unsterbliche Gott wohnt heute in einem anderen Winkel des Universums; der sterbliche Gott ist nicht einmal mehr der Staat, am wenigsten bei uns, sondern die addierte, vorhandene Menschheit, deren Forderungen nunmehr als ein schwer erträgliches Gewicht auf der einzelnen Seele liegen, die keine Sprache mehr findet, um die gefühlte Unmöglichkeit einer ‚absoluten‘ Moral zu begründen.“ (MH, S. 141)

Humanitarismus und Masseneudaimonismus verbinden sich in der Moralhypertrophie zu einem Übermaß an „Weltfremdheit, Urteilsdünkel und Daseinsgefräßigkeit“ (MH, S. 143).

Moralhypertrophie führt zur Staatsgefährdung

Die Entscheidung der deutschen Kanzlerin im September 2015, die Grenzen für einen ungeprüften Zustrom hunderttausender Zuwanderer aus humanitären Gründen zu öffnen, hätte Arnold Gehlen, ohne zu zögern, als ein geradezu typisches Beispiel einer Handlung auf der Basis eines hypertrophen humanitaristischen Ethos klassifiziert. Verbunden mit dieser Einschätzung wäre bei ihm aber auch das Staunen gewesen, wie es zu einer derartigen Fehlbesetzung im Kanzleramt kommen konnte. Der schließlich erreichte Zustand im Jahre 2016 von geschätzt 500.000 Flüchtlingen, die völlig unregistriert und unerkannt Aufenthalt in Deutschland genommen haben, hätte bei Gehlen wohl nur noch Fassungslosigkeit erzeugt.

Moralhypertrophie führt in Gehlens Sicht letztendlich zur Staatsgefährdung, und er greift auf geschichtliche Beispiele zurück, um das zu untermauern. So merkt Gehlen an, dass manche Unterdrückungsmaßnahmen der spätrömischen Kaiser sich so erklären würden, da die Herrscher sich durch die Ausbreitung des Christentums und der stoischen Intellektuellenmoral in ihrer Hauptaufgabe bedroht fühlen mussten, die Grenzen des Riesenreichs zu beschützen (MH, S. 143). Es wird immer problematisch, wenn das Gleichgewicht der pluralistischen ethischen Instanzen innerhalb der Gesamtgesellschaft zerstört wird:

„Das Humanitärethos ist das erweiterte Ethos der Großfamilie, es enthält also von vornherein sowohl biologische, sogar feminine, als auch institutionelle Einschüsse (…). Zu hypertrophem Anspruch kommt es in der Verbindung mit dem Ethos des Massenlebenswertes und vor allem dann, wenn die entgegenhaltenden politischen Staatstugenden wegfallen, weil der Staat ruiniert oder selbst zum Wohlstandsapparat geworden ist. (…).
Hiermit sind wir im Bereich der ‚Gesinnungsethik‘ angekommen, d. h. der Lehre einer unbedingten Vorrangstellung eines bestimmten Ethos mit Ablehung der Alltagskompromisse auch zwischen verschiedenen ethischen Instanzen. Der gesinnungsethische Humanitäre verwirft z. B. Wehrdienst und dessen Tugenden, der gesinnungsethische Patriot umgekehrt den Humanitarismus.“ (MH, S. 149)

Auch für Gehlen ist „Gesinnungsetik“ ein negativer Begriff. Er fordert von allen Toleranz und das rechte Maß ein; was z. B. die Beurteilung des Wehrdienstes angeht, von den Pazifisten wie von den Bellizisten. In seiner Auffassung von den verschiedenen ethischen Instanzen ist jeder ein Gesinnungsethiker, der einer der von ihm postulierten Ethosformen die Alleinherrschaft in seinem Denken überlässt. Zur Zeit der Abfassung seiner Streitschrift ist das seiner Meinung nach in der Form der „humanitär-masseneudaimonistischen Gesinnungsmoral“ (MH, S. 150) Realität.

Diese Bemerkungen Gehlens weisen aber auch auf etwas anderes hin: Er hat durchaus die Möglichkeit eingeräumt, dass das Zusammenspiel der moralischen Instanzen im Menschen auch durch ein Ausufern des Institutionen-Ethos gestört werden kann. Denn „die Radikalisierung jeder Ethosform setzt Aggression frei“ (MH, S. 182). Vielleicht liegt in dieser möglichen Übersteigerung des Ethos der Institutionen, letztlich des Ethos des Staates, auch der Grund, warum Arnold Gehlen den Begriff „Verantwortungsethik“, zumindest in diesem Werk, ganz vermeidet und nicht mit dieser Ethosform verbindet, obwohl es, so wie dieser Ethosform beschrieben wird, durchaus Anknüpfungspunkte gäbe.

Intellektuelle als treibende Kraft

In Ergänzung zu seiner pluralistischen Ethik sind auch die besonderen Ansichten des Sozialphilosophen über die Intellektuellen in „Moral und Hypermoral“ anzusprechen. Moralhypertrophisch denken und handeln kann auch, wer nur die Bibel oder das Kommunistische Manifest gelesen und den Erwerb weiterer Bildungsgüter als nicht notwendig erachtet hat. Aber moralhypertrophe Anforderungen kommen in der Regel nicht von den Ungebildeten, sondern, wie Gehlen nicht müde wurde zu betonen, aus den Reihen der Intellektuellen, aus der Bildungsschicht. Dadurch dringt dieses Denken in die politischen Entscheidungsprozesse ein und hat Auswirkungen auf die Allgemeinheit.

Die aus seiner Sicht verheerende Rolle der Intellektuellen, die er – zumindest zum Teil – als Träger eines „falschen“ Ethos ansah, der zu einer immer größeren Unausgewogenheit im Bestand der Ethosformen führt, durchzieht sein ganzes Buch. Gehlen spannt in seiner Streitschrift den Bogen sehr weit. Schon in der griechischen Antike, in der „eine damals erreichte objektive, großräumige Herrschafts- und Verkehrslage mit dem Ethos des ‚Humanitarismus‘ beantwortet“ (MH, S. 31) wurde, waren die Intellektuellen der hellenistischen Zeit die treibende Kraft:

„Dieses Ethos wurde in angebbaren Kreisen entwickelt und propagiert, man würde heute sagen von Intellektuellen, die aus der gesellschaftlichen Positionslosigkeit heraus ihre Einsichten mit dem Drang nach Macht und öffentlicher Wirksamkeit verbanden. (…). In das weite Gefäß des Weltverkehrs und der Großmachtbildungen strömte jetzt ein anderes Ethos ein, dessen Wortführer Pazifisten und Weltbürger waren, die den Eindruck zu erwecken verstanden, als spräche aus ihrer dünnen Stimme der Weltgeist.“ (MH, S. 31)

Den Intellektuellen seiner eigenen Zeit, die sich der moralhypertrophen Übersteigerung ergeben haben, unterstellt er folgendes Wunschbild: „unbegrenzte Freiheit für sich, Gleichheit für die Anderen.“ (MH, S. 139). Er beschreibt sie so:

„Das sind, um es kurz zu sagen, in großen und wortführenden Teilen die Schriftsteller und Redakteure, die Theologen, Philosophen und Soziologen, also ideologisierende Gruppen, erhebliche Teile der Lehrerschaft aller Schularten und der Studenten, und schließlich die generellen Nutznießer der gesellschaftlichen Nachsicht: Künstler und Literaten. Mit einem Wort, es handelt sich um die ‚Intellektuellen‘, und hier insbesondere um die Kernbestände derer, die nicht in der Wirtschafts- und Verwaltungspraxis tätig sind, wie Richter, Anwälte, Politiker, Volkswirtschaftler usw.“ (MH, S. 151/152)

Heute würde man die Funktionsgruppen, die Gehlen im Auge hatte, abschätzig als Schöngeister bezeichnen. Sie werden von ihm in dieser Streitschrift erbarmungslos kritisiert, was ihm, wen dürfte es wundern, in bestimmten Kreisen der damaligen deutschen Westrepublik keine Freunde eingebracht hat. Für Gehlen sind die moralhypertrophen Intellektuellen eine Art „Gegen-Aristokratie“ zu den wirtschaftlichen und politischen Verantwortungsträgern, „eine schon zahlreiche, diesmal durch Privilegien unverantwortlich gestellte Gruppe“, die „aus der fehlenden Verwicklung und Verstrickung in die praktische Politik und in die Tageskämpfe des Wirtschaftslebens heraus ihr Ethos luxurieren lassen“ kann (MH, S. 153).

In der heutigen Zeit muss man sich allerdings die von Gehlen ausdrücklich ausgenommenen Berufe inzwischen durchaus auch als von der Moralhypertrophie im Sinne Gehlens angesteckt und infiltriert vorstellen. Hier sah Gehlen noch eine deutliche Zweiteilung innerhalb der Bildungsschicht: Journalisten, Künstler, Theologen, die über die Massenmedien einen großen Druck ausüben können, auf der einen Seite, Politik, Rechtssprechung und Wirtschaft, die Gehlen zufolge immer noch den Tugenden des Institutionen-Ethos, des Staatsethos anhängen, auf der anderen.

Die Schlüsselrolle des Journalismus

Man darf aber sagen, dass in dieser Hinsicht die Entwicklung über Arnold Gehlens Beobachtung hinweggegangen ist. Es gibt keine Zweiteilung mehr, die große Mehrheit der Intellektuellen vor allem in Deutschland ist moralhypertrophisch.

Die schreibende Zunft mit ihrer „Mundwerksburschen-Frivolität“ (MH, S. 181) und ihrer „moralisierenden Aggression“ (MH, S. 183) hat er in seiner Schrift besonders im Visier. Die „Mundwerksburschen“ vertreten meistens die besagte Hypertrophie des human-eudaimonistischen Ethos und stehen somit gegen das Staatsethos. Schon bei der Behandlung des Themas „Humanitarismus“ schreibt er:

„Den Raum der Öffentlichkeit besetzt dagegen die Ethik der Publizisten mit ihrer Intellektuellen-Moral, die zwar selbst gruppenspezifisch ist, sich aber als die allgemeine Wahrheit ausgibt. Ein aggressiver Humanitarismus ist (…) hierbei ein wesentlicher Bestandteil (…).“ (MH, S. 68)

Der Journalismus hat somit eine Schlüsselstellung bei der Verbreitung einer hypertrophen Moral.

Mit dem immer größeren Gewicht, den die Intellektuellen in der heutigen Gesellschaft haben, nähme, so Gehlen, die innersoziale Gereiztheit zu (MH, S. 155). Man müsse bedenken, dass Kritik und Angriff die einzigen Mittel zur Wirksamkeit darstellen würden, die der Intellektuelle überhaupt besitze. Die Moralhypertrophie gebe für die Intellektuellen die Aufstiegsleiter her, für die neue Gegen-Aristokratie der von der Verantwortung nicht betroffenen Idealisten (MH, S. 186).

Ob Gehlens Auffassungen über die verschiedenen moralischen Instanzen, die er in seinem philosophischen Anthroprologismus formuliert hat, nun Bestand haben werden oder nicht, ist kein Thema dieses Beitrags, zu fragen ist aber, inwiefern Gehlen am Ende der 60er-Jahre erspürt hat, in welche Richtung die politische Kultur in Deutschland bzw. im gesamten westlichen Kulturbereich sich weiter entwicklen wird.

Konnten seine Beschreibungen der Hypermoral zum damaligen Zeitpunkt noch als alarmistisch und übertrieben abgetan werden, so muss man zum Beginn des 21. Jahrhunderts die Weitsicht eines Philosophen anerkennen, der die Ansätze zu einer negativen Entwicklung in der politischen Kultur zumindest der (west-)deutschen Demokratie klar erkannt hat. Seine Befürchtungen sind leider nur allzu wahr geworden und haben sich eher verstärkt. Seine Bedenken gegenüber Humanitarismus und Moralhypertrophie sind keineswegs veraltet. Gehlen sah sich in einem „Zeitalter der Verharmlosung und der Ideologie vom guten Menschen“ (MH, S. 36), die auf seine Zeit bezogene Analyse eines im Zeichen einer Hypermoral stehenden immer intoleranteren und härteren Umgangs untereinander hat nichts an Aktualität verloren:

„Wenn aber eine Gesellschaft politisch und in ihren Traditionen aus dem Leim gegangen ist, dann werden verschiedene Gruppen entgegengesetzte Formen des Ethos vertreten, die heutzutage sofort notorisch werden, weil die Verstärkerwirkung der Massenmedien sowie ihr Legitimierungseffekt dramatisierend wirken, d. h. Krisenäquivalente hervorzaubern. In der Krise wächst die Neigung, den Meinungsgegner zum Dissidenten zu machen, zum Abgesonderten, und das geschieht wirksam durch moralische Ächtung. Der so zum Schweigen Gebrachte kann wie der Tote weder anklagen, noch sich verteidigen, noch Zeugnis ablegen. (…). In einem gnadenlosen Humanitarismus liegt durchaus kein psychologischer Widerspruch. (…). [Es] fordert der Umgang unter Menschen in ethischer Hinsicht eine scharfe Begrenzung der Absolutheitsanforderungen und eine gehörige Toleranzbreite der Konzessionen, eine Geneigtheit zum Wegsehen. Kein Wunder, daß in der gegenwärtigen Epoche moralhypertropher Aufgeregtheit und täglicher Informationshektik eine objektlose Aufsässigkeit erzeugt wird, sie findet schon den Gegner.“ (MH, S. 35/36)

An anderer Stelle spricht Arnold Gehlen von der „steigenden Aggressivität bei Alleinherrschaft eines der ethischen Impulse“:

„Wer die ‚Realisierung‘ einer Idee anstrebt, wird leicht die realen Widerstände als unmoralisch empfinden, als Unebenheiten der Wirklichkeit, die man mit der Guillotine abschleifen muss.“ (MH, S. 65)

Regieren unter den Regeln der bürgerlichen Moral

Seitdem die Staatsmänner unter den Regeln der bürgerlichen Moral regierten, so formuliert Gehlen auch als bittere Erkenntnis, behielten sie weder Kriege noch ihre Folgen in der Hand und brächten keinen Frieden mehr zustande (MH, S. 177). Oder anders ausgedrückt: Alle Gesinnungskriege, zu denen man auch die Religionskriege der Neuzeit rechnen muss, drohen eben zu einem unerbittlichen Krieg zu entgleisen, an deren Ende, egal wie man das Dokument dann benennt, kein wirklicher Friedensvertrag, sondern nur noch ein zähneknirschend hingenommener Waffenstillstand stehen kann. Intolerante Moralisten haben nun einmal Probleme, einen einträchtigen und versöhnlichen Frieden zu schließen, wenn die Ergebnisse nicht „moralisch“ sind.

In der politischen Auseinandersetzung im Innern eines Staates, die Grundlage jeder demokratischen Ordnung, ist das moralhypertrophe Argumentieren der Tod jeder Debatte. Moralhypertrophes Denken oder, wie man es auch nennen kann, Gesinnungsethik mit Absolutheitsanspruch entwickelt sich in seinem jeweiligen zeitspezifischen Umfeld immer zu einer Ideologie der Gutgesinnten, zu einer vorgeblich alternativlosen Ethik, die bei Strafe der sozialen Ausgrenzung bis hin zur Existenzvernichtung nicht hinterfragt oder in Zweifel gezogen werden darf.

Für die aktuelle Zeit kann man folgendes Fazit ziehen: Gesinnungsethik, Gutmenschentum, politische Korrektheit, Einfordern eines humanitären Imperativs, all diese Begriffe, die heutzutage im Schwange sind und die Gehlen zum Teil noch gar nicht kannte, können als Symptome eines schon von Gehlen für seine Zeit beobachteten überbordenden moralischen Anspruchs angesehen werden. Die inhärente Intoleranz in dieser unguten Entwicklung hatte Gehlen auch schon gesehen und davor gewarnt.

Und zuletzt: Eine Demokratie, in der ein wesentlicher Teil der Elite in die Denkbahnen der Moralhypertrophie bzw. der Gesinnungsethik verfallen ist, muss sich fragen lassen, ob sie noch die ursprünglichen Werte dieser Herrschaftsordnung repäsentiert oder nur als deren Verfallsform angesehen werden kann.

 

Anmerkungen

[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Gesinnungsethik

[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Arnold_Gehlen

[3] a.a.O.

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