Die Neuordnung der Welt

Die EU wollte sich nach 1990 als ein von den USA unabhängiger Machtfaktor auf der Weltbühne präsentieren. Warum daraus nichts wurde, schreibt Thomas Bargatzky*.

Colin Powell war schockiert: “Wenn wir solch ein erstklassiges Militär haben, warum dürfen wir es dann nicht benutzen?”, fragte ihn Madeleine Albright zu Beginn des Bosnienkrieges 1992. Amerikanische GIs sind keine Spielzeugsoldaten, die man auf einem globalen Schachbrett umherschiebt, meinte Powell konsterniert.[1]

Er irrte. Albright hatte ein besseres Gespür für die kommende Weltordnung des “neuen amerikanischen Militarismus”[2] und der unbegrenzt/unbefristeten Selbstautorisierung zur weltweiten Anwendung militärischer Gewalt, als der damalige Chef des US-Generalstabs. Unter dem Titel “Krieg gegen den Terror” hat diese Selbstautorisierung mittlerweile Formen angenommen, die Leben und Freiheit jedes Einzelnen von uns bedrohen könnten. Im April 2015 legte die amerikanische Rechtsprofessorin Deborah Pearlstein in einem Interview dar, der US-Präsident dürfe aufgrund des Gesetzes „Authorization for the Use of Military Force“ (AUMF), das der Kongress nach dem 11. September 2001 beschlossen hat,

„gegen jene Nationen, Organisationen, oder Personen, von denen er bestimmt, dass sie die Terrorangriffe am 11. September 2001 geplant, genehmigt, durchgeführt oder unterstützt oder gegen Personen und Organisationen, die den Angreifern Unterschlupf geboten haben, alle notwendige und geeignete Gewalt einzusetzen, um alle zukünftigen Aktionen des internationalen Terrorismus gegen die Vereinigten Staaten bei solchen Nationen, Organisationen oder Personen zu verhindern“[3].

Zeitenwende

Das AUMF-Gesetz enthält keine Regelung, die besagt, dass es zu einem bestimmten Zeitpunkt auslaufen wird. Es gibt dem US-Präsidenten die Macht, auf Jahre hinaus Einzelpersonen töten zu lassen und gegen jeden Staat unbegrenzt Krieg zu führen, von dem er behauptet, er unterstütze den Terrorismus. Es ist der Ausdruck einer Entwicklung, die schon bald nach der Auflösung des Warschauer Paktes am 1.7.1991 und der Sowjetunion am 31.12.1991 einsetzte. Der Westen gab sich einem Triumphalismus sondergleichen hin: Das westliche Modell, so glaubte man, habe sich für alle Zeiten auf der ganzen Welt als überlegen erwiesen und sich durchgesetzt: Freie Marktwirtschaft und American Way of Life hätten das „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) herbeigeführt. Noch wenige Jahre zuvor rechnete jedoch kaum jemand mit dem Ende des Sowjetblocks. Das 1988 berufene „Committee on NATO in the 1990s“ machte Vorschläge für ein neues politisches Mandat der NATO.[4] Im Oktober 1990 organisierte auch der “Council on Foreign Relations“ ein Symposium zum Thema „Soviet Nationalities and American Foreign Policy“. Damals bestand auf amerikanischer Seite kein Interesse am Untergang des Gegners aus der Zeit des Kalten Krieges. Man befürchtete politische Instabilität und die daraus resultierenden unkalkulierbaren Konsequenzen:

„Die Vereinigten Staaten können es sich nicht leisten, entweder die vollständige Auflösung der Sowjetunion zuzulassen, also einen Prozess, der schon Merkmale einer Libanisierung aufweist, oder zu warten, bis eine neue, brutale Zentralgewalt mit Zwang ein postsowjetisches Reich errichtet – eine Militärregierung, eine russisch-imperialistische oder eine faschistische. Die Interessen (der USA) an wirtschaftlicher Entwicklung (der SU) als Voraussetzung für Stabilität und eine Entwicklung des politischen Systems hin zur Demokratie werden am besten dadurch bedient, dass eine Zentralregierung erhalten bleibt, wie schwach auch immer sie ist, wenn man sie mit dem alten Sowjetstaat vergleicht. Eine postsowjetische Konföderation könnte der westeuropäischen politischen und wirtschaftlichen Union auf vielfache Weise ähnlich sein … Das Ende des Kommunismus, wie wir ihn kennen, ist auch das Ende das Antikommunismus, wie wir ihn kennen“[5].

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entschied man sich jedoch dafür, die neue Lage für die Schaffung einer „neuen Weltordnung“[6] auszunutzen.

Die EU wollte sich nach dem Ende des Kalten Krieges für kurze Zeit als ein von den USA unabhängiger Machtfaktor auf der Weltbühne präsentieren. Diese Ambitionen kollidierten jedoch mit den Interessen der USA, die die europäischen Bestrebungen zunehmend als Störung ihrer Hegemonialinteressen empfanden. Der Gegensatz der Interessen kulminierte im NATO-Krieg gegen Jugoslawien um den Kosovo.[7] Erst 9/11 brachte die Wende: Die EU scherte seinerzeit völlig auf Washingtons Kurs ein. Dies ist bis heute (2015) so geblieben.

Neue Weltordnung

Die Aufdeckung weltweiter amerikanischer Hegemonialinteressen heißt nicht, „Verschwörungstheorien“ aufzusitzen, denn man kann sie anhand diverser offizieller, halboffizieller und inoffizieller politischer Schriften nachweisen. Nur ein kleiner Teil davon kann hier genannt werden.

„Defense Planning Guidance“, 1992

Ein Schlüsseldokument ist die „Defense Planning Guidance“ von 1992, auch unter dem Namen „Wolfowitz-Doktrin“ bekannt. Darin wird die These entwickelt, dass niemand den USA nach dem Ende des Kalten Krieges die Rolle des Welt-Hegemons streitig machen darf. Potentiellen Herausforderern muss man entgegentreten. In den ersten Entwürfen werden noch Deutschland und Japan als Rivalen ins Visier genommen, in späteren Fassungen dann China. Russland soll „herabgestuft“ und gegen China in Stellung gebracht werden.

Zbigniew Brzezinski: „Die einzige Weltmacht“ (1997)

Sein Buch, das 1997 unter dem Titel „The Grand Chessboard“ und in Deutschland unter dem bezeichnenden Titel „Die einzige Weltmacht“ erschienen ist, denkt ältere geostrategische Überlegungen bezüglich des eurasischen Kernlands bis in die heutige Zeit nach dem Katen Krieg fort. China soll durch die NATO mit Russland und Japan gleichsam in die Zange genommen und Russland für amerikanische Hegemonialpläne instrumentalisiert werden.[8]

„Rebuilding America’s Defenses“, 2000

Unter Federführung von Richard Cheney und Mitarbeitern wie Robert Kagan und Paul Kristol entstand in der politischen Denkfabrik „Project for the New American Century“ die im September 2000 veröffentlichte Denkschrift „Rebuilding America’s Defenses“. Dort wird gefordert, dass die USA eine globale Raketenabwehr entwickeln und stationieren muss, um über eine sichere Grundlage für die Machtprojektion der USA in die Welt zu verfügen. Kagan ist übrigens mit der Abteilungsleiterin im US-Außenministerium, Victoria Nuland, verheiratet, einer Schlüsselperson des Maidan-Aufstandes in Kiew, die sich mit ihrem Spruch „fuck the EU“ in die Geschichtsbücher eingeschrieben hat.

Nuclear Posture Review, 2001

Kaum ein Jahr im Amt, legte die Regierung von George W. Bush im Dezember 2001 ein „Nuclear Posture Review“ vor. Es beschreibt die Richtung der amerikanischen Atomwaffenpolitik der folgenden zehn Jahre.[9] Russland wird als Ziel möglicher Angriffe mit Atomwaffen genannt, da es zu jenen Ländern gehört, die über die militärischen Mittel verfügen, um die USA herauszufordern.

Madeleine Albrights „Concept for the Defense and Security“, 2010

Das im Jahr 2010 von einem Komitee unter der Leitung der ehemaligen US-Außenministerin Madeleine Albright verfasste „Strategic Concept for the Defense And Security of the Members of the North Atlantic Treaty Organisation“ verkündet die Legitimität von jedweder Aktion, die von NATO-Mitgliedsstaaten unternommen wird, die der Sicherung der Verfügbarkeit von Energiequellen dient.

Militarisierung der US-Außenpolitik

Die Militarisierung der US-Außenpolitik schlägt sich in einer Reihe von Maßnahmen, Strategien und Institutionen nieder, mit deren Hilfe das Ziel globaler Hegemonie verwirklicht werden soll:

1) Militärbasen weltweit. Der Sicherheitsexperte Chalmers Johnson beziffert beispielsweise für das Fiskaljahr 2003 die Zahl der Militärstützpunkte außerhalb des US-Territoriums, die entweder Eigentum der USA sind oder gemietet werden, auf 702 in ca. 130 Ländern. In den USA selber und ihren Territorien befinden sich noch einmal ca. 6000 Militärstützpunkte.[10]

2) Überbordende Militärausgaben. Im Dezember 2009 genehmigte der Kongreß der USA Militärausgaben in der Höhe 636.3 Milliarden Dollar. In diese Mittel sind die Ausgaben für das Nuklearprogramm sowie die Leistungen für Veteranen und Geheimdienstoperationen noch nicht eingerechnet, so dass der Militärhaushalt für 2010 – konservativ geschätzt – ca. 700 Milliarden Dollar betrug. Die USA gaben damit seinerzeit etwa genauso viel für ihr Militär aus, wie alle anderen Staaten der Welt zusammen. Etwa 300.000 Soldaten waren des weiteren gegen Ende der ersten Dekade dieses Jahrhunderts außerhalb der USA stationiert, nicht eingerechnet die ca. 90.000 Seeleute und Marineinfanteristen auf See.[11]

3) Unified Combatant Commands. Der ganze Erdball ist in sechs Zonen unter dem Kommando eines hohen US-Admirals oder Generals eingeteilt, in denen regionale Einsatzkommandos, sogenannte „Unified Combatant Commands“ mit Teilstreitkräfte überschreitenden Kompetenzen die weltweite militärische Präsenz der USA organisatorisch umsetzen. Die zahlreichen Bündnisse und Kooperationsprogramme der NATO werden durch die UCC zu einer den gesamten Globus umspannenden und von den USA kontrollierten militärischen Machtprojektionsstruktur harmonisiert.

4) Raketenschirme um das eurasische Kernland. Drei strategische Raketenschirme werden derzeit in Eurasien geschaffen. Einer legt sich um Chinas stark bevölkerte östliche und südliche Grenzen, ein anderer um den Iran und seine Verbündeten im Nahen Osten, und der dritte wird an Russlands Westgrenzen stationiert. Der nahöstliche Teil des Raketenschirms bezieht Israel (!), die Türkei und die Staaten des Golf-Kooperationsrates (Bahrain, Katar, Kuwait, Oman, Saudi Arabien, Vereinigte Arabische Emirate) ein. Der türkische Teil des Schildes würde auch dazu dienen, einem israelischen oder amerikanischen Angriff auf den Iran Feuerschutz zu geben. Der Iran muss sich zusätzlich durch die Bemühungen der USA und der NATO bedroht fühlen, Azerbaijan dazu zu bewegen, Anlagen für den Raketenschirm auf seinem Territorium zu genehmigen.[12]

5) Die Globalisierung der NATO. Der NATO war durch die Auflösung der Sowjetunion und des Warschauer Paktes der Feind abhandengekommen. Da man sie jedoch nicht auflösen wollte, musste eine neue Rolle für sie gesucht werden. Mitte der 1990er Jahre schien es so, als hätte man nach der Bedrohung durch „Rot“ einen neuen Feind hinter der Farbe „Grün“ entdeckt: den radikalen Islam. NATO-Generalsekretär Willy Claes gab am 8. Februar 1995 zu Protokoll, dass sich islamistische Militanz als die womöglich gefährlichste Bedrohung der NATO und der westlichen Sicherheit herausgebildet hat.[13]

Bei dieser Feindbestimmung blieb es aber nicht, denn das atlantische Verteidigungsbündnis wurde zu einem Instrument im Dienste globaler amerikanischer Machtprojektion umgewandelt.[14] Die Osterweiterung war der erste Schritt in diese Richtung, wenngleich die USA ihr gegenüber zunächst noch skeptisch eingestellt waren und fürchteten, die NATO könne zu einem „Allerweltsverein“ verkommen.[15] Die Zahl der Mitglieder sprang jedenfalls von sechzehn (1982) auf neunzehn (1999) und im Jahre 2009 schließlich auf achtundzwanzig Mitglieder. Da Montenegro formell zum NATO-Beitritt eingeladen wurde, könnte demnächst die gesamte Nordküste des Mittelmeers in der Hand der NATO sein.

Netz mit drei Bündnissen

Die Osterweiterung ist aber nur eine Komponente der Umwandlung der NATO zu einem komplexen, global agierenden Macht- und Militärverbund. Die USA kontrollieren über sie hinaus u.a. auch ein Netz von drei miteinander verflochtenen Bündnissen in Eurasien, die ihrerseits wiederum durch den Aufbau von drei Zweigen des amerikanischen globalen Raketenschildes ergänzt werden. Diese drei Bündnisse sind ihrerseits wieder mit der NATO verknüpft. Es handelt sich um den „Mittelmeer-Dialog“ (Mediterranean Dialogue), die „Istanbuler Kooperationsinitiative“ (Istanbul Cooperation Initiative) und die „Afghanistan-Pakistan-ISAF Tripartite Commission“, die die NATO in Afghanistan und Pakistan verankert und ihr dadurch ein Standbein im Transitgebiet zwischen Iran, Indien und China, vor den Toren des erdöl- und erdgasreichen Zentralasiens gibt.

Der Mittelmeer-Dialog wurde 1994 als Forum der Zusammenarbeit zwischen der NATO und verschiedenen Mittelmeer-Anrainerstaaten gegründet. Heute sind sieben Staaten Mitglieder: Mauretanien, Marokko, Algerien, Tunesien, Ägypten, Israel(!) und Jordanien. Damit wird auch fast die gesamte Südküste des Mittelmeers von der NATO kontrolliert; die Niederwerfung Libyens sollte die Kontrolle komplettieren. Zugleich hat sie den Fuß in der Türe zu Afrika und dem Nahen Osten.

Auf dem NATO-Gipfel in Istanbul, 2004, wurde ferner die „Istanbul Cooperation Initiative“ gegründet. Sie ist eine Erweiterung des Mittelmeer-Dialogs nach Osten hin. Bahrain, Katar, Kuwait und die Vereinigten Arabischen Emirate wurden Mitglieder. Dadurch wurde der „Golf-Kooperationsrat“ (Gulf Cooperation Council) an die NATO angebunden, denn Mitglieder des GCC sind außer den oben genannten vier Anrainerstaaten des Persischen Golfes auch Oman und Saudi-Arabien.

Durch diese Politik der Vernetzung wird über das NATO-Mitglied Türkei, die Mittelmeer-Dialog-Länder Jordanien, Israel und Ägypten, die Istanbuler Kooperationsinitiative bis zu den Ländern des Golf-Kooperationsrates ein Bündnis geschaffen, das vom östlichen Mittelmeer bis zum Persischen Golf reicht. Es ist eine de facto-Erweiterung der Atlantischen Allianz, wodurch diese ein Standbein vor den Toren des Iran erhält.

Mitglieder des GCC wie Katar und Saudi-Arabien zählen zu den engsten Verbündeten der USA und der NATO. Bei beiden Irak-Kriegen (1991, 2003) halfen sie den USA und sie unterstützten Israels Angriffe auf den Libanon im Jahre 2006. Sie haben sich am NATO-Krieg gegen Libyen (2011) aktiv beteiligt und durch ihre materielle, diplomatische und militärische Unterstützung für den „Syrian National Council“ betrieben sie die politische Isolation Syriens im Sinne amerikanischer geostrategischer Interessen.

Weitere Partnerschaftsprogramme

Zu diesen Bündnissen kommen noch sogenannte Partnerschaftsprogramme hinzu, die die Beziehungen zwischen der NATO und diversen weiteren Nicht-NATO-Staaten regeln: die „Partnerschaft für den Frieden“, der „Membership Action Plan“ und das „Contact Countries“-Programm. Die „Partnerschaft für den Frieden“ umfasst heute (2015) 23 Staaten. Dazu zählen europäische Staaten, die nicht der NATO angehören, sowie die früheren Staaten der Sowjetunion. Etliche Staaten des ehemaligen Warschauer Paktes sowie einige Teilstaaten der ehemaligen Sowjetunion, die zunächst Partnerschafts-Mitglieder waren, wurden zu einem späteren Zeitpunkt NATO-Mitglieder. Zu den Kontakt-Ländern zählen Australien, Neuseeland, Japan und Südkorea, also Staaten, die keinem der vorgenannten Programme und Bündnisse angehören, aber mit der NATO kooperieren oder Interesse an einer Zusammenarbeit haben.

In Lateinamerika wurde Kolumbien gegen die Staaten des sogenannten „Bolivar-Block“ in Stellung gebracht. Es erlaubt z.B. dem Pentagon, kolumbianische Militärstützpunkte zu nutzen. In Afrika spielt Äthiopien die Rolle des „regionalen Gendarmen“. Damit hat sich die NATO faktisch zu einer global agierenden Institution entwickelt, die keine Grenzen mehr kennt, denn USA und NATO kontrollieren auch die internationalen Wasser- und Handelswege, die Hohe See, den Schiffsverkehr.[16]

Die Bedeutung der Ukraine

Die gegenwärtige Ukraine-Krise muss vor diesem Hintergrund gesehen werden. Bereits 1997 gab Zbigniew Brzezinski die Marschrichtung der US-Außenpolitik bezüglich der Ukraine vor:

„Die Ukraine, ein neuer und wichtiger Raum auf dem europäischen Schachbrett, ist ein geopolitischer Dreh- und Angelpunkt, weil ihre bloße Existenz als unabhängiger Staat zur Umwandlung Russlands beiträgt. Ohne die Ukraine ist Russland kein eurasisches Reich mehr. Es kann trotzdem nach einem imperialen Status streben, würde aber dann ein vorwiegend asiatisches Reich werden, das aller Wahrscheinlichkeit nach in lähmende Konflikte mit aufbegehrenden Zentralasiaten hineingezogen würde, die den Verlust ihrer erst kürzlich erlangten Eigenstaatlichkeit nicht hinnehmen und von den anderen islamischen Staaten im Süden Unterstützung erhalten würden. Auch China würde sich angesichts seines zunehmenden Interesses an den dortigen neuerdings unabhängigen Staaten voraussichtlich jeder Neuauflage einer russischen Vorherrschaft über Zentralasien widersetzen. Wenn Moskau allerdings die Herrschaft über die Ukraine mit ihren 52 Millionen Menschen, bedeutenden Bodenschätzen und dem Zugang zum Schwarzen Meer wiedergewinnen sollte, erlangte Russland automatisch die Mittel, ein mächtiges Europa und Asien umspannendes Reich zu werden. Verlöre die Ukraine ihre Unabhängigkeit, so hätte das unmittelbare Folgen für Mitteleuropa und würde Polen zu einem geopolitischen Angelpunkt an der Ostgrenze eines vereinten Europas werden lassen“[17].

Am 27. August 2008 lief die Dallas, ein Küstenschutzboot der US-Coast Guard, in den Hafen der Stadt Batumi in Georgien ein, das sich damals mit Russland im Krieg befand.[18] Die US-Küstenwache im Schwarzen Meer? Die Aufnahme Georgiens und der Ukraine in die NATO würde Russland von seinem Schwarzmeerhafen Sewastopol, dem Sitz der Schwarzmeerflotte, abschneiden und das Schwarze Meer größtenteils in ein NATO-Meer verwandeln, so wie die Aufnahme Montenegros in die NATO die Verwandlung des Mittelmeeres in ein NATO-Binnengewässer einen weiteren Schritt vorwärts treiben würde.

Der europäische Abschnitt des Raketenschildes ist gegen Russland gerichtet, nicht gegen Iran oder gar Nordkorea, wie die NATO-Propaganda die Öffentlichkeit glauben machen will. USA und NATO haben erhebliche Anstrengungen unternommen, um die Ukraine, Georgien und Azerbaijan dazu zu bewegen, Anlagen für den Raketenschirm auf ihren Territorien zuzulassen. Die Küsten der NATO-Mitglieder Bulgarien und Rumänien sind ebenfalls für die Aufstellung des Raketenschirms vorgesehen. Damit wären die Grundlagen für die Stationierung eines Raketenschilds nicht nur in Polen und Tschechien, sondern längs der gesamten russischen Westgrenzen geschaffen. Ein amerikanischer nuklearer Erstschlag würde somit möglich, gegen den sich Russland nicht mehr wehren könnte. Moskau kann daher gar nicht anders, als sich durch die offensive Haltung bedroht zu fühlen, die der Westen insgesamt und die NATO im besonderen seit dem Ende des Kalten Krieges an den Tag legen.

Der unbedingte Wille zur weltweiten Hegemonie

Aus welchen psychomentalen Quellen speist sich dieser unbedingte Wille zur weltweiten Hegemonie? Dem amerikanischen Syndrom der „offenkundigen Bestimmung“ (manifest destiny)[19] entspricht einerseits ein offenkundiges wirtschaftliches Interesse: Die Versorgung der NATO-Mitglieder mit Energie durch die Staaten der früheren Sowjetunion und die OPEC ist von solch hoher Bedeutung, dass der US-Senator Richard Lugar, seinerzeit Vorsitzender des Senatsausschusses für Auswärtige Beziehungen, 2006 dazu aufforderte, die NATO müsse auch solchen Mitgliedstaaten zu Hilfe kommen, deren Energieversorgung gefährdet ist.[20] Artikel 5 des NATO-Vertrags bestimmt den Angriff auf ein NATO-Mitglied als Angriff auf das gesamte Bündnis. Sollte ein Mitglied von der Energieversorgung abgeschnitten werden, dann könnte die NATO beschließen, ihm auch militärische Hilfe zu gewähren. Dazu müsste man die Einstellung der Energiezufuhr an ein Mitglied als Aggression definieren und Sanktionen aller Art gegen energieproduzierende Länder verhängen.

Wirtschaftlichen Interessen entsprechen andererseits auch geostrategische Absichten. Die Einkreisung des eurasischen Kernlands ist das überragende Ziel. Iran ist das regionale „Kraftwerk“ am Persischen Golf und im Nahen Osten, Indien ist die stärkste Macht in Südasien und China in Ostasien. Indien spielt in amerikanischen Überlegungen eine wichtige Rolle als Gegengewicht zu China und Störfaktor gegen die Bildung einer eurasischen Allianz zwischen Russland, China und dem Iran. Die Russische Föderation ist eine Barriere, die das Ausgreifen nach Osten verhindert, es sei denn, die Ukraine schließt sich der NATO an und Russland verliert seine Kaukasus-Republiken. Durch die „Rosen-Revolution“ in Georgien (2003), die „Orange-Revolution“ in der Ukraine (2004) und die Unterstützung der Sezessionsbewegungen Im Kaukasus haben die USA versucht, diese Barriere zu durchbrechen.

Hinter den offenkundigen wirtschaftlichen und geopoltischen Absichten verbirgt sich noch ein tieferer Grund. Der renommierte Politik- und Ostasienwissenschaftler Chalmers Johnson, ein sicherheitspolitischer “Insider”, der in den fünzfiger Jahren in der US Navy diente und von 1967-1973 CIA-Berater war, deckte 2006 in einem Interview die verdeckte militär-monopolistische Staatswirtschaft der USA auf. Vier große Hauptproduzenten von Waffen und Rüstungsgütern dominieren die USA wirtschaftlich. Sie haben ganze US-Bundesstaaten und Wahlbezirke von sich abhängig gemacht: Boeing, Lockheed Martin, Northrop Grumman und General Dynamics.[21]

“Vier gewaltige Hersteller und nur ein Hauptabnehmer – das ist Staatssozialismus”, meint Johnson.

Zurück zu Madeleine Albright. Sollte Johnson recht haben, dann geht es nicht darum, ob die USA ihr “erstklassiges Militär” einsetzen dürfen, dann müssen sie es einsetzen, um die Wirtschaft am Laufen zu halten. Die USA wären dann ein Land, das Krieg führen muss, um als Staat zu überleben! Abraham Lincolns berühmte Worte aus der “Gettysburg Adress” müssten neu buchstabiert werden: Es ginge dann heute nicht mehr um eine “Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk”, sondern um ein Land des Krieges, durch den Krieg und für den Krieg.

Wir müssen nicht erst auf den Krieg mit Russland warten, in den die NATO uns immer offenkundiger hineintreibt; die Folgen der US-Machtentfaltung bekommen wir heute schon zu spüren. General Wesley Clark, der ehemalige Oberkommandierende der NATO-Streitkräfte im Kosovo-Krieg, enthüllte der Journalistin Amy Goodman in einem Interview am 2. März 2007, dass das Pentagon bereits 2001 plante, innerhalb der kommenden fünf Jahre sieben Länder zu „entfernen“ (take out), sprich: zu zerstören.[22] In einem Vortrag vor dem Commonwealth Club of California wiederholte er dies am 3. Oktober 2007; auf youtube ist die Aufzeichnung zu sehen, neuerdings auch mit deutschen Untertiteln. Es handelt sich um die Staaten Irak, Syrien, Libanon, Libyen, Somalia, Sudan und zu guter Letzt: Iran.

Was den Iran angeht, so hatte man noch keinen Erfolg, aber zu Irak, Libyen, Somalia, und dem Sudan darf man wohl sagen: „mission accomplished“. Den Libanon und Syrien hat man fast schon zerstört. Die Rechnung für Europas Mittäterschaft bei der Aufrichtung der neuen Weltordnung wird dieser Tage präsentiert: Die Menschen fliehen aus diesen Ländern, landen an Europas Küsten und drängen über seine Grenzen. Wer kann es ihnen verdenken?[23]

Es gilt das Verursacherprinzip. Beschwerden nimmt entgegen: NATO Headquarters, Boulevard Léopold III, Brüssel, Belgien.

 

*Thomas Bargatzky ist Emeritierter Professor für Ethnologie. Hier geht’s zu seiner Vita auf der Internetseit der Universität Bayreuth hier zu seiner eigenen Website.

 

Redaktioneller Hinweiszu § 51 Urheberrechtsgesetz: Sämtliche in diesem Text verwendete Zitate sind vom Autor selbst übersetzt worden!

 

Anmerkungen

[1] Reluctant Warrior. The Guardian, 30. 09. 2001.

[2] Andrew J. Bacevich: The New American Militarism. How Americans Are Seduced by War. – Oxford: Oxford University Press 2005.

[3] Terror-Gesetze: US-Präsident kann jeden Staat der Welt angreifen. deutsche-wirtschafts-nachrichten.de, 4. April 2015.

[4] Ton Frinking: Preface. In: Stanley R. Sloan (Hg.): NATO in the 1990s.- Washington etc.: Pergamon-Brassey’s International Defense Publishers, 1989, S. xi.

[5] Ronald Grigor Suny: The Soviet South: Nationalism and the Outside World. In: Michael Mandelbaum (Hg.): The Rise of Nations ins the Soviet Union. American Foreign Policy and the Disintegration of the USSR, S. 64-88 (hier: S. 85f.). – New York: Council on Foreign Relations Press, 1991.

[6] „Toward a New World Order“. A transcript of former President George Herbert Walker Bush’s address to a joint session of Congress and the nation. 11. September 1990

[7] David N. Gibbs: First Do No Harm. Humanitarian Intervention and the Destruction of Yugoslavia. – Nashville: Vanderbilt University Press, 2009.

[8] Zbigniew Brzezinski: The Grand Chessboard. American Primacy and Ist Geostrategic Imperatives. – New York: Basic Books, 1007.

[9] Siehe Charles D. Ferguson: Nuclear Posture Review. Nuclear Threat Initiative (NTI), 1. August 2002.

[10] Chalmers Johnson: America’s Empire of Bases. Tomdispatch.com, 15. Januar 2004. www.tomdisparch.com/blog/1181; sowie Ch. Johnson: Nemesis. The Last Days oft he American Empire. –New York: Mtropolitan Books, 2006.

[11] Andrew J. Bacevich: Washington Rules. America’s Path to Permanent War. – New York: Metropolitan Books 2011, S. 25ff., 251f. – Eine gute Übersicht bietet auch die Zeitschrift loyal Nr. 11/2012, S. 7-22.

[12] Mahdi Darius Nazemroaya: The Globalization of NATO. – Atlanta: Clarity Press 2012, S. 198, 268.

[13] Daniel Pipes: Who is the Enemy? Commentary No.113, Januar 2002.

[14] Andrew J. Bacevich: Washington Rules. America’s path to Permanent War. – New York: Metropolitan Books, 2010; Mahdi Darius Nazemroaya: The Globalization of NATO. – Atlanta: Clarity Press, 2012.

[15] Heinz Brill: Geopolitische Analysen. Beiträge zur deutschen und internationalen Sicherheitspolitik 1974-2008 (2. Auflage). – Bissendorf: Biblio-Verlag 2008, S. 335.

[16] Nazemroaya, S. 268, 348-352.

[17] Brzezinski 1997, S. 74f.

[18] Andrew E. Kramer: NATO Ships in Black Sea Raise Alarms in Russia. The New York Times (online), 28.08.2008.

[19] Thomas Bargatzky: Hegemon und Samariter – Amerikas „offenkundige Bestimmung“. Sezession 53, 2013.

[20] Judy Dempsey: U.S. senator urges use of NATO defense clause for energy. International Herald Tribune, 28. November 2006 (über Global Research, 3. Dezember 2006).

[21] Cold Warrior in a Strange Land. A Tomdispatch Interview with Chalmers Johnson (Part I, 21. März 2006). www.TomDispatch.com/blog/70243

[22] Gen. Wesley Clark Weighs Presidential Bid: „I Think About It Everyday“. Democracynow.org, 2. März 2007.

[23] Thomas Bargatzky: Migrationsprobleme und die „Neue Weltordnung“. Kopp Online, 03.01.2016.

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Über Thomas Bargatzky

Prof. Dr. Thomas Bargatzky lehrte von 1990 bis zu seiner Pensionierung 2011 Ethnologie an der Universität Bayreuth. Zuvor hatte er Lehrstuhlvertretungen in Tübingen und Heidelberg inne. Er unternahm Forschungsreisen in den Südpazifik und den Südwesten der USA. Seit mehreren Jahren beschäftigt er sich mit sicherheitspolitischen Fragen. m Juni 2020 ist sein Buch "Der große Wahn – Der neue Kalte Krieg und die Illusionen des Westens" im Tectum-Verlag erschienen. Kontakt: Webseite | Weitere Artikel

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