Der neue Ost-West-Konflikt

In Osteuropa verfestigt sich das Gefühl zur Gewissheit, Moskau zwar noch immer nicht ganz entronnen, dafür aber zum Befehlsempfänger Brüssels geworden zu sein.

Der Flüchtlingszustrom hat wie kein zweiter Vorgang die Schwächen EUropas offengelegt. Im Osten der EU rückt die Visegrad-Gruppe immer enger zusammen, um sich gegen ein sie ausschließendes „Mini-Schengen“, bestehend aus Deutschland, Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Luxemburg, zur Wehr zu setzen. Tschechien, Polen, Ungarn und die Slowakei betreiben die Gründung einer „Freunde von Schengen“ benannten Vereinigung, welche sich die Einhaltung der Schengen-Regeln sowie die Registrierung von Flüchtlingen, also eigentlich geltende EUroparechtliche Vertragsregeln, zum Ziel setzt.

Die Visegrader verlangen entschiedene Schritte für eine bessere Überwachung der EU-Außengrenzen. Strikt lehnen sie die bereits per EU-Mehrheitsbeschluss ins Auge gefasste Umverteilung von 160 000 Asylberechtigten ab, womit Griechenland und Italien entlastet werden sollten. In Ungarn sind im Rahmen der seit 6. November laufenden, von der Fidesz-Regierung initiierten Petition, welcher eine „Nationale Konsultation“ vorausgegangen war, bereits mehr als eine Million Unterschriften gegen die Aufnahme umzuverteilender Asylanten zustandegekommen. Auf dieser Grundlage wehren sich Bratislava (Pressburg) und Budapest mittels Klage vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) wider den als Brüssler Oktroi empfundenen und von ihnen als Verstoß wider das EUropäische Vertragsrecht erachteten Beschluss.

Ignoranz des östlichen Nationalen

Nun ist es ja nicht so, dass die Regierenden der Visegrad-Gruppe sowie jene der baltischen Republiken Estland, Lettland und Litauen mit ihrem Widerstreben gegen Flüchtlinge – in Sonderheit jener aus der Levante und der islami(sti)schen Hemisphäre – sowie ihrer verbalen Fronde gegen Brüssel, vor allem aber gegen Berlin, allein stünden. Auch weiter westwärts sind ähnliche Töne zu vernehmen. In Frankreich, wo der Front National der Damen Le Pen trotz gestiegener Beliebtheit des Präsidenten Hollande seit dessen Kriegserklärung an den um sich greifenden IS-Kalifatsterror in Urnengängen immer erfolgreicher wird, ist man alles andere als glücklich über das, was der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán mit Blick auf die deutsche „Wir-schaffen-das-Willkommenskultur“ des großkoalitionären CDUSPD-Duos Merkel-Gabriel „moralischen Imperialismus“ nennt. Und nicht allein aus dem britischen Oberhaus sind Bemerkungen überliefert, wonach Deutschland „wieder einmal einen Sonderweg“ einschlage.

Man kann bei alldem dem Westen (der EU und insgesamt) sowie seinen Staaten- und Wirtschaftslenkern den Vorwurf nicht ersparen, sich hinsichtlich der in die Union aufgenommenen Ost-Staaten nicht wirklich mit Bedürfnissen, Interessen und Sehnsüchten der darin lebenden Menschen und deren Bewusstsein von nationaler Zusammengehörigkeit auseinandergesetzt, ihre und ihrer Regierungen nationale Leidenschaften unterschätzt und/oder nicht genügend Rücksicht auf die jeweiligen volkstümlichen Eigenarten genommen zu haben.

Woher rührt die westliche Ignoranz des östlichen Nationalen? Nach dem Zweiten Weltkrieg gewann die Vorstellung Raum, im Zuge der Europäisierung verschwinde allmählich der Nationalstaat; man glaubte, die „nationale Frage“ sei als eine Erscheinung des 19. und 20. Jahrhunderts für das 21. längst beantwortet.

Stattdessen erwies es sich, dass seit Öffnung des Drahtverhaus an der ungarisch-österreichischen Grenze 1989 zwar die Friedhofsruhe der Völker unter der Pax Sovietica beseitigt worden und dass unter (zum Teil kriegerischem) Lärmen auseinandergebrochen war, was bis dahin mehr oder weniger mit der Ideologie vom neuen, dem sowjetischen Menschen zusammenzuschweißen versucht wurde. Doch da der Terror des marxistisch-leninistischen Internationalismus gewichen war, meldeten sich dort Nationen und Völkerteile zu Wort, die es eigentlich gar nicht mehr hätte geben dürfen, hätte das kommunistische Weltbild vom Aufgehen in einer neuen, friedliebenden und allen zwischennationalen Hader hinter sich lassenden Menschengemeinschaft gesiegt.

Der Irrtum des Westens

Vor allem die (westeuropäische) Linke – aber nicht nur sie – leistete mit der theoretisch-ideologischen Fixierung auf eine „multikulturelle Gesellschaft“ der Blickverengung Vorschub, die bis in unsere Tage den politischen und medialen Mainstream beherrscht. Mit dem Sezessionismus im Osten und den militärischen Auseinandersetzungen auf dem Balkan stürzte ein, was die von dem Georgier Iossif Wissarionowitsch Dschugaschwili (Stalin) mit brachialer Gewalt ins Werk gesetzte Fiktion von der Aufhebung der nationalen Gegensätze durch die Schaffung des Homunkulus „Sowjetmensch“ bezweckte und letztlich in der Assimilation, also der Verschmelzung der „Sowjetvölker“ ihre quasi eschatologische Endbestimmung erhalten sollte, damit aber auf nichts anderes denn in deren Aufgehen im Russentum hätte hinauslaufen sollen.

Des Kroaten Jozip Broz (Tito) balkanische Spielart ebenjener übertragenen volklichen Sowjetisierung, der „Jugoslawismus“, war gleichermaßen auf die Einebnung der nationalen Eigenheiten und die Verwischung der kulturellen Traditionen des Vielvölkerstaats gerichtet – unter der gesellschaftlichen Dominanz und Observanz des Großserbentums.

Während sich im Westen die Nationalstaaten überlebt zu haben schienen – die Völker setzen dem Streben ihrer Regierungen, aus geschichtlicher Erkenntnis heraus in freien Stücken unter dem europäischen Dach zusammenzufinden, ohne damit in einen Schmelztiegel zu geraten, vergleichsweise wenig entgegen – ,sind die Völker Ost- und Südosteuropas jedoch noch immer dabei, erst einmal den Sowjetismus völlig abzustreifen und ihr jahrzehntelang unter Zwang verborgen gehaltenes nationales Zusammengehörigkeitsgefühl auslebend verwirklichen zu können.

Der Denkfehler in den Köpfen der Westeuropäer, der westlichen Welt überhaupt, bestand derweil darin, zu glauben, Gebilde wie die einstige „Jugoslawische Föderation“ oder die „Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken“ hätten, sobald dort die Fesseln des Kommunismus nur abgestreift seien, sogleich etwas gemein mit der Europäischen Gemeinschaft (EG) und der EU als deren Weiterentwicklung. Und die darin Aufgenommenen, sowie aus den Fördertöpfen Alimentierten, hätten sozusagen die Pflicht und Schuldigkeit, auf ewig dankbar – „solidarisch“ – zu sein, sich also unterzuordnen und ihren nationalen Interessen zu entsagen.

Der Druck Brüsseler Zwingherren

Besonders an der Flüchtlingsmisere und dem damit verbundenen Aspekt der aufteilungspolitischen Mehrheitsentscheidung wird deutlich, was gemeint ist, wenn sich in Reval, Riga, Wilna, Warschau, Prag, Pressburg, Budapest, Bukarest und Sofia – und wohl nicht allein dort – mehr und mehr das Gefühl zur Gewissheit verfestigt, Moskau zwar noch immer nicht ganz entronnen, dafür aber zum Befehlsempfänger Brüssels geworden zu sein. Daher kann es für die Slowakei nicht infrage kommen, per „Ordre de Bruxelles“ zur Aufnahme von Muslimen gezwungen zu werden. Ist sie doch gemäß ihrer Verfassungsbestimmung eine „christliche Republik“, und darauf beharrt ihre mit absoluter Mehrheit ausgestattete sozialdemokratischen Regierung unter Robert Fico, der diese Mehrheit bei der Parlamentsneuwahl am 5. März 2016 erhalten wissen möchte.

Ähnliches gilt für die national- und geschichtsbewussten Ungarn. Unzählige Generationen ihrer Vorfahren waren im Kampf gegen die Heere des Sultans verblutet. Das einstige Königreich hatte zudem die Teileingliederung in das Osmanische Imperium hinnehmen müssen. Schließlich hatte man sich nach Jahrhunderten vom türkischen Joch befreit. Und im zweiten Dezennium des 21. Jahrhunderts soll sich die Nation unter dem Gebot einer „moralischen Imperialistin“ in Berlin der Durchmischung mittels islamischer Massenimmigration und das Ungarntum insgesamt dem Druck Brüssler Zwingherren preisgeben? Da sei die nationalkonservativ-christdemokratische Regierung des Viktor Orbán vor.

In dieser Art west-östlichen Diwans mache sich niemand etwas vor – so sich die fundamentalen immanenten Gegensätze nicht überwinden lassen, ist die EU in ihrer derzeitigen Beschaffenheit und Gestalt am Ende, bevor ihre Zukunft beginnt.

 

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