Nichtstun ist eine Taktik der Politik

Die Handlungsunfähigkeit der Politik mache ihr große Sorgen, sagt Sahra Wagenknecht. Und: In der Flüchtlingskrise räche sich das Nichtstun der vergangenen Jahre.

Selten hat sich ein Politik so offen über den desastörsen Zustand der Politik geäußert. Die neue Vorsitzende der Linken-Fraktion im Bundestag, Sahra Wagenknecht klagt die Regierenden an: Ihr Nichtstun sei eine Taktitik ihrer Politik. Deutschland könne nicht jedes Jahr eine Million Flüchtlinge aufnehmen, sagt sie und fordert Strafmaßnahmen gegen die „Brandstifter“ in den USA: Die Regierung  solle ihnen die Nutzung von Militärbasen auf deutschem Boden entziehen.

Frau Wagenknecht, die Linke scheint die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung vorbehaltlos zu unterstützten. Stimmt das?

Sahra Wagenknecht: Nein, das stimmt so nicht.

Aber geschlossener als die Union selbst, oder?

Wagenknecht: Dazu gehört nicht viel. Der aktuelle Rückhalt für die Kanzlerin in der Union ist ja kaum zu unterbieten. Nur: Wir sind auch nicht der Meinung, dass man es so, wie Frau Merkel es macht, tatsächlich schaffen kann. Man sieht ja, dass es nicht geschafft wird, dass die Probleme in den Städten und Gemeinden akut sind, dass gerade die Bundesebene dabei versagt, ausreichende Unterstützung zu geben. Aktuell weiß die Regierung ja noch nicht einmal, wie viele Flüchtlinge tatsächlich im Land sind. Unterm Strich erleben wir eine handlungsunfähige Regierung. Und das macht mir große Sorgen.

Weil Sie die gesellschaftlichen Folgen fürchten?

Wagenknecht: Sicher. Wenn eine Regierung in einer solchen Krise nicht handlungsfähig ist, dann wachsen in der Bevölkerung Unsicherheit und Angst. Aus dieser Angst wiederum entstehen Ressentiments, die rechte Parteien stärken. Und das ist eine Entwicklung, die wir uns überhaupt nicht wünschen.

Was genau werfen Sie denn der Regierung vor?

Wagenknecht: Zunächst einmal hat sie sich nicht vorbereitet, obwohl sie durch Frontex frühzeitig vorgewarnt war…

…Wenn sie vorgewarnt war, warum hat sie dann nicht rechtzeitig gehandelt? Sehen Sie da ein Motiv? Oder war sie einfach nur fahrlässig?

Wagenknecht: Das ist leider in der Politik oft so. Sehen Sie, die Finanzkrise kam damals auch nicht aus heiterem Himmel. Auch da hätte man vorgewarnt sein können. Damals haben die Finanzstatistiken etwa über Verschuldung ziemlich deutlich darauf hingewiesen, dass das irgendwann eskalieren würde. So wie man heute sieht, dass sich schon wieder riesige Blasen aufblähen und die Probleme der Banken nicht gelöst sind. Dieses Nichtstun ist so eine Taktik der Politik, alle Probleme, die noch nicht akut sind, erst einmal zu ignorieren, sich wegzuducken und zu hoffen, dass es vielleicht doch nicht so schlimm kommt, oder wenn, dann erst nach der nächsten wichtigen Wahl.

Und genau das haben sie in der Flüchtlingskrise auch gemacht?

Wagenknecht: Ja, sie haben wohl gedacht, der Kelch geht vielleicht doch an Deutschland vorüber, oder es werden schon nicht so viele sein. Das bestätigt natürlich, dass Merkel von vornherein keinen Plan hatte und erkennbar bis heute keinen hat.

Würden Sie der Regierung zugestehen, dass sie immerhin um einen solchen ringt?

Wagenknecht: Ich sehe vor allem, dass die Mitglieder dieser Regierung miteinander ringen. Die Städte und Gemeinden brauchen dringend mehr Unterstützung. Zwar hat der Bund gewisse Kosten übernommen, das reicht aber vorne und hinten nicht. Das Ergebnis ist, dass in den Kommunen in anderen Bereichen gekürzt werden muss, um die Integrationsausgaben zu schultern. So werden die Flüchtlinge gegen die Bevölkerung ausgespielt, das vergiftet das politische Klima. Im Übrigen rächt sich jetzt eine jahrelange falsche Politik.

Was genau meinen Sie?

Wagenknecht: Seit Jahren zerfällt in Deutschland der soziale Zusammenhalt. Millionen Menschen müssen in unserem reichen Land heute mit Niedriglöhnen, befristeten Jobs und Armutsrenten klarkommen. Immer mehr Aufgaben, die eigentlich in öffentliche Verantwortung gehören, wurden dem Markt übertragen. Der öffentliche Dienst wurde kleingespart. Im Ergebnis fehlen heute Lehrer und Polizisten, das gleiche gilt für bezahlbaren Wohnraum. Jetzt kommt die Flüchtlingskrise und verschärft all diese Probleme akut. Natürlich habe viele jetzt Angst, und es ist fahrlässig, hier nicht gegenzusteuern. Wir brauchen endlich wieder eine Politik, die den sozialen Anspruch unseres Grundgesetzes ernstnimmt.

Sie erwarten eine politische Radikalisierung der Gesellschaft?

Wagenknecht: Wir sehen aktuell, dass die AfD jede Wochen um einen Prozentpunkt zulegt. Es gibt zunehmend einen Resonanzboden für Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Die Menschen fürchten, und zwar bei der aktuellen Politik zu Recht, dass Geringverdiener und Bezieher kleiner Renten sowie die Mittelschicht für die Flüchtlingskrise zur Kasse gebeten werden. Ich halte diese Entwicklung für gefährlich. Wir brauchen eine Steuerpolitik, die die wirklich Reichen verpflichtet. Im Übrigen nicht nur wegen der Flüchtlinge, sondern weil wir uns ein chronisch unterfinanziertes Bildungssystem, akuten Personalmangel in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen und einen riesigen Investitionsstau bei Wohnungen, Straßen und Brücken einfach nicht mehr leisten dürfen.

Sie meinen im Ernst: Nicht die Flüchtlinge sind das Problem, sondern die politischen Fehler der vergangenen zehn, zwanzig Jahre?

Wagenknecht: Die sind das größere Problem. Die Bundesrepublik ist doch mal mit ganz anderen Ansprüchen gestartet. Die Väter des Grundgesetzes hatten keinen ungehemmten Kapitalismus angelsächsischer Prägung im Auge. Wollen wir wirklich in einer Gesellschaft leben, in der die soziale Ungleichheit immer größer wird und die Lebenschancen des einzelnen immer stärker davon abhängen, ob er sich die richtigen Eltern ausgesucht hat. Dass immer mehr Menschen sich von der Demokratie abwenden, hat doch damit zu tun, dass sie das Gefühl haben, starke Wirtschaftslobbys steuern die Politik, aber sie selbst können trotz harter Arbeit ihren Wohlstand nicht mehr sichern. Sie erleben, dass große Konzerne und die wirklich Reichen kaum noch Steuern zahlen, wer aber ein mittleres Einkommen bezieht, dem wird fast die Hälfte davon als Steuern und Sozialabgaben abgezogen. Nicht nur die Ärmeren, auch und gerade die Mittelschichten spüren diese Ungerechtigkeit…

…Und suchen aber nicht unbedingt Zuflucht bei der Linken, sondern auch bei AfD und Pegida.

Wagenknecht: Diese Pegida-Bewegung ist entstanden auf dem Nährboden dieser Enttäuschung und Frustration angesichts der realen Politik. Das war ja bereits vor der Flüchtlingskrise. Und sie wendet diese Enttäuschung dann in eine völkische und antidemokratische Richtung.

Dennoch scheint die Bewegung auch für Linke attraktiv zu sein. In einer Umfrage sagten zehn Prozent der Linken-Wähler, sie könnten sich vorstellen, eine Partei mit Nähe zu Pegida zu wählen.

Wagenknecht: Das war zu Beginn des Jahres, da war Pegida noch nicht so offensichtlich das, was sie heute ist. Nach dem Hitler-Schnäuzer, zynischen KZ-Sprüchen und Galgenatrappen sollte eigentlich jedem klar geworden sein, dass Pegida eine eindeutig rechte Bewegung ist. Am Anfang war es tatsächlich so, dass da viele Leute mitgelaufen sind, die einfach nur verärgert waren über die herrschende Politik. Da spielten die Renten eine Rolle, die Absenkung von Sozialstandards, Kritik an der US-Kriegspolitik und andere Punkte, die eigentlich linke Themen sind, die jedoch bei Pegida in einen ganz anderen Kontext gestellt werden.

Sie haben die Sozialstandards angesprochen: Wegen der Flüchtlinge wird nun auch der Mindestlohn wieder zur Dispositin gestellt…

Wagenknecht: … das ist brandgefährlich und unverantwortlich. Wenn man zulässt, dass Flüchtlinge missbraucht werden für Lohndumping – und darauf läuft es ja hinaus, wenn man sie als Billigstarbeiter auf den Arbeitsmarkt holt und damit eventuell besser bezahlte Arbeitnehmer verdrängt – dann ist man mitverantwortlich, dass in Teilen der Bevölkerung, die in den vergangenen Jahren ohnehin an Wohlstand verloren haben, die Wut wächst. Und oft richtet die sich dann leider nicht gegen die Verantwortlichen, sondern gegen die Flüchtlinge.

Wie viele Flüchtlinge kann Deutschland aufnehmen? Wie lange können wir so weitermachen?

Wagenknecht: Natürlich kann Deutschland nicht weitermachen wie bisher. Wir können nicht jedes Jahr Millionen aufnehmen. Aber wer die Flüchtlingsbewegung begrenzen will, muss vor allem eins tun: Fluchtursachen wirksam bekämpfen und aktuell die Verhältnisse in den Lagern in Jordanien, dem Libanon und der Türkei deutlich verbessern und alles daran setzen, dass es in der Heimat der Flüchtlinge endlich wieder Hoffnung auf Frieden gibt.

Brauchen wir Obergrenzen für die Aufnahme von Flüchtlingen?

Wagenknecht: Was wir brauchen, ist eine gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik mit festgelegten Quoten für die einzelnen Länder. Die aktuellen Flüchtlingszahlen wären an sich kein Problem, wenn sie sich auf wesentlich mehr Länder verteilen würden. Und da wundere ich mich schon über die plötzliche Zurückhaltung von Kanzlerin Angela Merkel und Wolfgang Schäuble. In der Euro-Krise haben sie die eigene Position mit der Brechstange gegen alle anderen durchgesetzt, was natürlich nicht gut war und viel Porzellan zerschlagen hat. Heute aber scheinen sie plötzlich ohne jeden Einfluss in Europa dazustehen. Irgendwas kann da nicht stimmen.

Warum, glauben Sie, ist das so?

Wagenknecht: Das frage ich mich auch. Fest steht: Wir brauchen eine europäische Flüchtlingspolitik, und Deutschland als größter Nettozahler sollte durchaus Druckmittel haben, das durchzusetzen. Gerade die osteuropäischen Länder haben viel Geld aus den diversen EU-Töpfen bekommen. Jetzt verweigern sie sich jeder solidarischen Aufnahme von Kriegsflüchtlingen. Warum sollte man über diese Diskrepanz nicht mal reden? Außerdem, und das will ich noch mal wiederholen: die Kanzlerin muss sich dafür einsetzen, dass die Lebensbedingungen in den Flüchtlingslagern vor Ort erheblich verbessert werden. Es kann doch nicht sein, dass die Weltgemeinschaft nicht in der Lage ist, die hierfür nötigen sieben Milliarden Euro pro Jahr aufzubringen. Bisher gab es immer nur leere Versprechen. Aktuell hat die UN schon wieder gewarnt, dass sie nicht in der Lage ist, die Flüchtlinge mit dem Lebensnotwendigen zu versorgen, sie müssen also Angst haben, ob sie den Winter überleben. Wer Menschen in eine so verzweifelte Situation bringt, muss sich nicht wundern, dass sie sich in immer größerer Zahl dann lieber für den lebensgefährlichen Weg nach Europa entscheiden. Solange sich das nicht ändert, ist das ganze Gerede, man wolle Fluchtursachen bekämpfen, hohles Geschwätz. Und auch sonst wird ja dafür nichts getan.

Was meinen Sie genau?

Wagenknecht: Weil die deutsche Regierung weder die Rüstungsexporte in die Krisengebiete einschränkt noch wirklich Druck auf die Vereinigten Staaten ausübt, damit die Wiener Gespräche endlich zu Ergebnissen führen. Wenn die USA weiter daran arbeiten, Staaten im Nahen und mittleren Osten zu destabilisieren und Brandherde zu legen, sollten wir nicht länger zuschauen, sondern ihnen zumindest jegliche deutsche Unterstützung, einschließlich der Nutzung von Militärbasen auf deutschem Boden, entziehen. Man kann allerdings auch nicht von der Bekämpfung der Fluchtursachen sprechen und dann Kampfpanzer nach Katar verkaufen, die im Krieg in Jemen eingesetzt werden und eine neue Flüchtlingswelle auslösen können. Das ist schlicht eine völlig unehrliche Politik.

Ein erheblicher Faktor in der Strategie der Bundesregierung ist derzeit die Türkei. Sie soll die Flüchtlingsströme aufhalten. Wie bewerten Sie dieses Vorgehen und die damit verbundenen Offerten der Kanzlerin an Staatschef Erdogan?

Wagenknecht: Um die Flüchtlingslager kümmern sich vor allem humanitäre Organisationen wie das UNHCR. Wenn wir wollen, dass es den Flüchtlingen besser geht, müssen wir diese Organisationen finanziell besser ausstatten und nicht die türkische Regierung. Wer eine Regierung hofiert, die Journalisten mundtot macht, unliebsame Fernsehsender schließt und Oppositionelle verfolgt, und wer ernsthaft darüber nachdenkt, dieses autokratische Regime in die europäische Union zu holen, der hat offenbar überhaupt keinen Wertekompass mehr.

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Über Günther Lachmann

Der Publizist Günther Lachmann befasst sich in seinen Beiträgen unter anderem mit dem Wandel des demokratischen Kapitalismus. Er veröffentlichte mehrere Bücher, darunter gemeinsam mit Ralf Georg Reuth die Biografie über Angela Merkels Zeit in der DDR: "Das erste Leben der Angela M." Kontakt: Webseite | Twitter | Weitere Artikel

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