Bürger als Handlanger des Unrechts

Vor 200 Jahren schrieb Henry David Thoreau über den Bürger, der aus Gewissensgründen gegen den Staat aufbegehrt. Seine Gedanken erscheinen aktueller denn je.

Vor fast 200 Jahren, am 12. Juli 1817, wurde der amerikanischen Schriftsteller Henry David Thoreau in Concord, Massachusetts geboren, dort verstarb er auch 1862. Es gibt viele Schubladen, in die man ihn stecken könnte: Philosoph, Nonkonformist, Kämpfer gegen die Sklaverei, Anti-Militarist, Querulant, Anti-Bürokrat, radikaler Individualist, Aussteiger, Anarchist, egoistischer Selbstverwirklicher, Natur-Romantiker. Es ist schwierig, ihm gerecht zu werden. Vielleicht werden in den nächsten 200 Jahren noch weitere Begriffe hinzukommen, aber wirklich unmodern wird dieser querköpfige Philosoph wohl niemals werden.

Eines seiner berühmtesten Werke ist auf jeden Fall der 1849 verfasste Essay „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“ (PUS; benutzte Ausgabe: Zürich 1973, Übersetzung Walter E. Richartz), das Thoreau in den Rang eines politischen Philosophen versetzt und bis zum heutigen Tag lesenswert ist, weil hier in Ansätzen das Konzept des zivilen Ungehorsams entwickelt wurde. Es brauchte immerhin 118 Jahre, bis der Text auch ins Deutsche übersetzt und veröffentlicht wurde. Das zeigt deutlich, dass man im obrigkeitsstaatlich orientierten Deutschland, in dem auch eine Revolution lange Zeit nur durch die entsprechend geschulte und marxistisch belesene Gegenelite organisiert werden durfte, herzlich wenig mit ihm anzufangen wusste. Aber auch dem übrigen Europa war die Denke eines Thoreau eher fremd. Der Übersetzer Richartz schrieb in seinem Nachwort zu seiner Übersetzung über die Unterschiede zwischen Europa und Nordamerika:

„Auch in Amerika wurde aufgemuckt. Aber jenseits des Atlantiks äußerte es sich nicht so sehr durch den revolutionären Angriff gegen die Obrigkeit, sondern an der Basis – in der Form von neuen sozialen Konzepten.“ (PUS, S. 71)

Regierung wider das Volk

Eines der radikalsten Konzepte dieser Zeit entwickelte Thoreau. Es ist konsequent individualistisch und damit absolut amerikanisch. Auslöser der Niederschrift seiner Gedanken war ein Gefängnisaufenthalt aufgrund der mehrjährigen Verweigerung, eine Wahlsteuer zu bezahlen. Er war lediglich einen Tag im Gefängnis, weil wohl ein Verwandter seine Schulden beim Staat Massachusetts bezahlte, offenbar war ihm Thoreaus Verhalten peinlich. Aber Thoreau war in seiner Meinung bestärkt, dass der Staat ein Zwangsapparat war, der allein aufgrund seiner Existenz mit Misstrauen bedacht werden muss:

„Ich habe mir den Wahlspruch zu eigen gemacht: ‚Die beste Regierung ist die, welche am wenigsten regiert‘; und ich sähe gerne, wenn schneller und gründlicher nach ihm gehandelt würde.“ (PUS, S. 7)

Für die amerikanische Gesellschaft der damaligen Zeit war es selbstverständlich, dass einer tyrannischen oder unfähigen Regierung die Gefolgschaft verweigert werden muss. Und falls nötig muss das auch mit der Waffe in der Hand erfolgen. Dieses Denken stellt Thoreau überhaupt nicht in Frage, insofern kann man diskutieren, ob er tatsächlich ein gewaltfreier Pazifist war. In seinem Essay begründet er aber systematisch, warum er Ungehorsam und Widerstand gegenüber einer Staatsgewalt für angebracht hält, selbst wenn ihr exekutives Handeln und ihre Entscheidungen demokratisch legitimiert sind.

Thoreau merkt zunächst kritisch an, dass das Handeln der Regierung und der Wille des Volkes sich niemals wirklich decken, zu sehr kann die Regierung durch Einzelne missbraucht werden:

„Diese Regierung aber, die nichts weiter als die Form ist, welche das Volk zur Ausführung seines Willens gewählt hat, kann leicht missbraucht und verdorben werden, bevor das Volk Einfluss darauf nehmen kann. Der Krieg in Mexiko beweist es, das Werk einer vergleichsweise geringen Zahl von einzelnen, welche die ständige Regierung als ihr Werkzeug benutzt: das Volk hätte dieser Maßnahme von vornherein nicht zugestimmt.“ (PUS, S. 7)

Heute würde man sagen, es ist die ständige Einflussnahme durch Interessengruppen, Kirchen, Verbände und Vereine sowie organisierte Minderheiten auf eine gewählte Regierung, die den Mehrheitswillen des Volkes verfälschen und in den Hintergrund treten lassen. Diese Gefahr sah Thoreau auf jeden Fall auch, aber das war nicht der Kern seiner Kritik. Denn selbst wenn die unverfälschte Mehrheit des Volkes das Regierungshandeln bestimmen würde, wäre das keine Garantie, dass sie „das Recht auf ihrer Seite hat“:

„Aber eine Regierung, in der die Mehrheit in jedem Fall den Ausschlag gibt, kann nicht auf Gerechtigkeit gegründet sein, nicht einmal soweit Menschen die Gerechtigkeit verstehen.“ (PUS, S. 8/9)

Regierung von Sklaven

Schließlich kann die Mehrheit des Volkes einen Krieg befürworten (sehen wir einmal davon ab, dass diese Mehrheit propagandistisch manipuliert sein könnte), so dass die Minderheit diesen Krieg mit(er)tragen muss. Thoreau thematisierte damit ein Grundproblem der Legitimation von Herrschaft in der Demokratie. Dem Legitimationsverfahren der Abstimmung mit anschließender Akzeptanz der Mehrheitsentscheidung durch die Minderheit stellt Thoreau die Gewissensentscheidung des Einzelnen entgegen, der einen Mehrheitsbeschluss nicht akzeptiert, weil er gegen die Grundsätze des eigenen Rechtsempfindens steht. Damit umschrieb er schon den Grundsatz „Wahrheit steht über der Mehrheit“, der von vielen und gerade auch den radikalsten Kritikern der Demokratie in späterer Zeit formuliert wurde.

Henry David Thoreau wollte jedenfalls Mehrheitsentscheidungen der amerikanischen Demokratie, die seiner Meinung nach ethisch-moralisch falsch waren, nicht akzeptieren. Thoreau schrieb in einer Zeit, der aggressiven amerikanischen Expansion (damals der Krieg gegen Mexiko) und der immer noch bestehenden staatlich akzeptierten Sklaverei, beides Sachverhalte, die von der amerikanischen Mehrheitsmeinung durchaus befürwortet wurden. Und gerade in der Frage der Sklaverei ist Thoreau konsequent:

„Nicht für einen Augenblick kann ich eine politische Organisation als meine Regierung anerkennen, die zugleich auch die Regierung von Sklaven ist.“ (PUS, S. 11).

Sein zentrales Thema in „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“ ist demnach nicht die anarchistische Forderung nach einer Abschaffung jeglicher Regierung, sondern ihm geht es darum, gegen die mögliche Tyrannei der Mehrheit ein Gegengewicht zu postulieren, das für ihn nur aus dem Gewissen des einzelnen Menschen entstehen kann:

„Wozu hat denn dann jeder Mensch ein Gewissen? Ich finde, wir sollten erst Menschen sein, und danach Untertanen. Man sollte nicht den Respekt vor dem Gesetz pflegen, sondern vor der Gerechtigkeit. Nur eine einzige Verpflichtung bin ich berechtigt einzugehen, und das ist, jederzeit zu tun, was mir recht erscheint. (…). Das Gesetz hat die Menschen nicht um einen Jota gerechter gemacht; gerade durch ihren Respekt vor ihm werden auch die Wohlgesinnten jeden Tag zu Handlangern des Unrechts.“ (PUS, S. 9)

Das Gewissen des Einzelnen steht gegen Gleichgültigkeit und Desinteresse der großen Mehrheit. Thoreau verurteilt die „Krämer und Bauern“, die

„sich mehr für Handel und Landwirtschaft interessieren als für die Menschlichkeit und die nicht bereit sind, den Sklaven und dem Land Mexiko gerecht zu werden, koste es, was es wolle“. (PUS, S. 12)

Thoreau setzt somit auch dem über das Mehrheitswahlrecht demokratisch legitimierten Gesetzgeber, der allgemeine und für alle verbindliche Rechtsvorschriften erlässt, und der entsprechend legitimierten Regierung ein individuelles Gewissensrecht entgegen, das Rechtssetzung und Regierungshandeln kritisch hinterfragt und gegebenenfalls mit zivilem Ungehorsam beantwortet:

Wenn „aber das Gesetz so beschaffen ist, dass es notwendigerweise aus dir den Arm des Unrechts an einem anderen macht, dann, sage ich, brich das Gesetz. Mach dein Leben zu einem Gegengewicht, um die Maschine aufzuhalten. Jedenfalls muß Ich zusehen, daß ich mich nicht zu dem Unrecht hergebe, das ich verdamme“. (PUS, S. 18)

Verleugnung der Staatsgewalt

Thoreau, der Gewalt verachtete und als Lehrer entlassen wurde, weil er die geforderte körperliche Züchtigung der Schüler nicht durchführte, redet an keiner Stelle seines Essays von einem gewalttätigen Aufstand gegen eine existierende demokratische Regierung, sondern von anderen Widerstandsformen. Deshalb ist für seine Haltung durchaus der Begriff „ziviler Ungehorsam“ statthaft, auch wenn er erst in späterer Zeit entstanden ist. Man kann nach Ansicht Thoreaus nicht darauf warten, bis auch die Mehrheit sich der Minderheitenmeinung angeschlossen hat.

Thoreau verurteilt deshalb auch die Bittschriftenverfasser, die zwar deutlich ihren Unmut gegen bestimmte Missstände kundtun, aber als einzige Möglichkeit der Veränderung den Staat selbst ansehen. Sie wollen den Weg der Legalität nicht verlassen, ändern damit aber de facto gar nichts. Wie könne sich jemand nur damit zufrieden geben, dass er eine Meinung habe, spottet Thoreau. Was für eine Genugtuung liege darin, wenn es seine Meinung sei, dass er bedrückt sei? Würde ihm ein Nachbar Geld schulden, würde er ihm auch keine Bittschrift zustellen, sondern zur Tat schreiten:

„Wer nach Grundsätzen handelt, das Recht wahrnimmt und es in Taten umsetzt, verändert die Dinge und Verhältnisse; dies ist das Wesen des Revolutionären, es gibt sich nicht mit vergangenen Zuständen zufrieden.“ (PUS, S. 16)

Den großen utopischen Wurf, der alle Übel heilen will und, falls nötig, dann auch mit Gewalt durchzusetzen ist, lehnt Thoreau allerdings ab, er setzt auf individuelle Taten, die die Gesellschaft von unten verändern:

„Ich bin in diese Welt gekommen, um darin zu leben, ob nun schlecht oder recht, aber nicht unbedingt, um sie so zu verbessern, daß man gut darin lebt. Ein Mensch soll nicht alles tun, sondern etwas; und weil er nicht alles tun kann, soll er nicht ausgerechnet etwas Unrechtes tun. Meine Sache ist es nicht, mehr Bittschriften an den Gouverneur oder an den Gesetzgeber zu richten als sie an mich; und wenn sie dann meine Bitten gar nicht hören wollten, was soll ich dann tun?“ (PUS, S. 18)

Das ist die Grundfrage des Philosophen Thoreau: Was soll man tun, wenn man nicht gewalttätig sein will, aber auch nicht nur duldsam?

Gegen eine demokratische Regierung, die nach der subjektiven Ansicht eines ihrer Staatsbürger ungerecht handelt, hilft nach Meinung Thoreaus nur noch „eine bewusste und aktive Verleugnung ihrer Staatsgewalt“ (PUS, S. 17) durch diesen Bürger. Als Mittel der Verleugnung der Staatsgewalt wird von Thoreau ausdrücklich die Verweigerung des Kriegsdienstes genannt. Überhaupt ist ihm die Mitarbeit im staatlichen Zwangsapparat, ob es sich nun um Gefängniswärter oder Polizisten handelt, höchst suspekt. Genauso wichtig als Mittel des gewaltlosen Widerstands ist für ihn aber auch die Verweigerung, die gesetzlich festgelegten Steuern zu zahlen.

Ungehorsam der Anständigen

Die sich so dem Gesetz Widersetzenden müssen allerdings mit den Konsequenzen leben, dass diese Art von Angriff auf die Regierung von dieser mit der ganzen Härte des Gesetzes bestraft wird. Thoreau sieht das fatalistisch und geradezu als notwendig an, der gewaltlose Widerstand zumal in seiner Form als Steuerverweigerung kann eben auch ins Gefängnis führen:

„Unter einer Regierung, die irgend jemanden unrechtmäßig einsperrt, ist das Gefängnis der angemessene Platz für einen gerechten Menschen. (…). [N]ur hier sollen sie ihn finden, im Gefängnis; auf diesem abgeschiedenen, aber freieren und ehrbaren Boden, wo der Staat jene hinbringt, die nicht mit ihm, sondern gegen ihn sind: es ist das einzige Haus in einem Sklavenstaat, das ein freier Mann in Ehren bewohnen kann.““ (PUS, S. 20)

Hier geht es natürlich um die staatliche Unrechtmäßigkeit im moralischen, nicht im gesetzlich legitimierten Sinne. Für den Einzelgänger Thoreau, der keine eigene Familie hatte und auch einmal für etwa zwei Jahre einfach nur in einer Blockhütte in den Wäldern leben konnte, waren diese Konsequenzen des Ungehorsams hinnehmbar. Menschen mit familiärer Verantwortung könnten aber auch Einwände haben, indem sie auf die Risiken einer Widerstandshandlung für eher Unbeteiligte hinweisen. Doch Thoreau ist unerbittlicher Moralist, der davon überzeugt ist, dass der Ungehorsam der „anständigen Menschen“ zu einer Veränderung führen wird, gerade wenn man sie ins Gefängnis steckt:

„Vielleicht glauben manche, dass sie dort [im Gefängnis] ihren Einfluß verlieren, daß ihre Stimme das Ohr des Staates nicht mehr erreicht, sie glauben, daß ihre Feindschaft innerhalb dieser Mauern unwirksam wäre – aber sie wissen nicht, um wieviel die Wahrheit stärker ist als der Irrtum und wieviel ausdrucksvoller und wirksamer sie die Ungerechtigkeit bekämpfen können, wenn sie sie nur ein bißchen an sich selbst erfahren haben. Lege in deine Stimme das ganze Gewicht, wirf nicht nur einen Papierzettel, sondern deinen ganzen Einfluß in die Waagschale. Eine Minderheit ist machtlos, wenn sie sich der Mehrheit anpasst; sie ist dann noch nicht einmal eine Minderheit; unwiderstehlich aber ist sie, wenn sie ihr ganzes Gewicht einsetzt. Vor der Wahl, ob er alle anständigen Menschen im Gefängnis halten oder Krieg und Sklaverei aufgeben soll, wird der Staat mit seiner Antwort nicht zögern. Wenn tausend Menschen dieses Jahr keine Steuern bezahlen würden, so wäre das keine brutale und blutige Maßnahme – das wäre es nur, wenn sie zahlten und damit dem Staat erlaubten, Brutalitäten zu begehen und Blut zu vergießen.“ (PUS, S. 20/21)

Rigoroses Denken

Thoreaus rigoroses Denken ist nicht ohne Widersprüche. Wenn wirklich jeder Mensch nur nach seinem eigenen Gewissen, verbunden mit seinem subjektiven Rechtsempfinden, handeln würde, wäre das Ergebnis wohl die Anarchie und damit genau das Gegenteil von dem, was Thoreau vorschwebte. Thoreau erklärt vollmundig dem Staat den Krieg, doch er will „noch immer soviel Vorteil und Nutzen wie möglich aus ihm ziehen“, wie „das in solchen Fällen der Brauch ist“ (PUS, S. 29). Nützlich ist ein Staat aber nur, wenn er noch funktioniert, d. h. wenn es noch genügend Bürger gibt, die ihm nicht feindlich gegenüberstehen und brav ihre Steuern zahlen.

Aber letztlich hat Thoreau mit „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“ keine wissenschaftliche Abhandlung geschrieben. Seine Überlegungen, wie sich der Einzelne gegenüber einer demokratisch legitimierten Staatsmacht verhalten soll, deren Handlungen er aus Gewissensgründen aber nicht mittragen will, werden aktuell bleiben, gerade in Zeiten, die sehr interessant geworden sind.

 

 

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