„TTIP bringt Armut und Unruhen“

Mit dem Freihandelsabkommen TTIP werde Deutschland ein anderes Land, warnt Freie-Wähler-Chef Aiwanger. Er fürchtet soziale Verwerfungen und den Verlust kultureller Identität.

So eindringlich hat bislang noch kein deutscher Politiker vor dem US-Freihandelsabkommen TTIP gewarnt. Sollte das Abkommen mit den USA in seiner bisherigen Fassung Realität werden, drohten in Deutschland und den anderen Ländern Europas schwere soziale Unruhen, sagte der Vorsitzende der Freien Wähler, Hubert Aiwanger.

„Wenn ich alles nur noch durch die Investoren-Brille sehe, dann mache ich aus Deutschland ein anderes Land“, sagte Aiwanger. Das Ergebnis wären tiefgreifende soziale Verwerfungen mit einer bisher in Deutschland nicht gekannten Armut und all ihren Folgen.

Massiver Privatisierungsdruck

„Dann bekommt eben derjenige, der nicht gut verdient, keinen Zahnersatz. Und derjenige, der die Miete nicht aufbringen kann, liegt unter der Brücke. Ich muss die Beispielländer nicht aufzählen, in denen wir diese Situation haben“, sagte er.

Die deutsche Gesellschaft werde dieses Schleifen von sozialen Standards nicht akzeptieren, da sie eine Entsolidarisierung wie in der anglo-amerikanischen Welt mit sich brächte. „Bei uns würde dies zu sozialem Unfrieden, ja zu sozialen Unruhen führen, wenn hier Leute auf diese Weise aus der Gesellschaft hinausgestoßen würden. Das würde Deutschland nicht aushalten. Und davor warne ich eindringlich“, sagte der Vorsitzende der Freien Wähler.

Vielen Menschen sei noch gar nicht bewusst, wie umfassend das TTIP in ihren Alltag eindringe. TTIP übe einen massiven Privatisierungsdruck auf die gesamte öffentliche Daseinsvorsorge aus. Heftig kritisiert Aiwanger in diesem Zusammenhang die im Abkommen enthaltenen Negativlisten. Sie enthalten staatliche Dienstleistungen, die nicht dem Markt geöffnet werden. Für alle Dienstleistungen, die nicht auf den Negativlisten stehen, müssen die Kommunen einen freien Marktzugang gewährleistet werden.

Es gehe etwa um die Privatisierung des Trinkwassers und der Energieversorgung. „Es geht um die Müllentsorgung, den öffentlichen Personennahverkehr, es geht um Krankenhäuser. All diese Bereiche dürften nicht mehr durch Zuschüsse der Kommunen oder Kreise unterstützt werden. Aiwanger: „Aber ich brauche nun mal ein Geburtsklinikum, auch wenn die Kommune draufzahlen muss. Mit TTIP müsste es geschlossen werden.“

Medikamenten-Schwemme aus den USA

TTIP zerstöre viele funktionale Strukturen, die notwendig seien, um das Leben der Menschen vor Ort zu sichern. Auch der gesamte kulturelle Bereich sei betroffen. „Das Vorbild ist auch hier Amerika: Am Ende könnte es keine Bibliotheken mehr geben, die Buchpreisbindung würde aufgehoben, kleine Buchläden müssten schließen und ein Monopolist könnte am Ende den Markt der Druckerzeugnisse beherrschen.“ Gravierende Folgen hätte das Abkommen auch für Theater und Opern, so Aiwanger: „Ich fürchte, dass es am Ende einer Stadt untersagt wird, ein Stadttheater oder eine Oper zu bezuschussen, weil ein US-Anbieter erklärt, er wolle ein Theater oder eine Oper betreiben.“

Letztlich könnten kommunale Zuschüsse dann durch den Investorenschutz zu immensen Schadenersatzforderungen führen. „Wir müssen die Negativlisten des Abkommens durch Positivlisten ersetzten“, sagte Aiwanger. Wer, wo auch immer Probleme sehe, solle diese genau benennen. „Und dann müssen wir für die Probleme Lösungen finden, statt erst einmal alles zu liberalisieren“, forderte der Freie-Wähler-Chef.

In der Medizin drohe das Abkommen europäische Standards bei der Zulassung von Medikamenten zu unterlaufen. Derzeit müsse jedes in Deutschland auf den Markt kommende neue Medikament einen Zusatznutzen nachweisen und dürfe nicht teurer sein. Sonst werde es nicht zugelassen. Diese Regelung gebe es in den USA nicht. Außerdem müsse heute jedes US-Medikament, das auf den deutschen Markt wolle, noch einmal kontrolliert werden. Diese „doppelte Sicherheit“ entfalle durch TTIP.

„Ich sehe die Gefahr, dass die Arzneimittelmärkte mit Produkten überschwemmt werden, von denen keiner mehr weiß, ob sie überhaupt noch einen Nutzen haben“, sagte Aiwanger.

„Wir müssen TTIP stoppen!“

Hubert Aiwanger. Quelle: Privat

Hubert Aiwanger. Quelle: Privat

Wie sehr TTIP die politischen Handlungsmöglichkeiten der Bundesregierung einschränke, erläuterte Aiwanger am Beispiel der Energiepolitik. „Mit TTIP wäre ein Ausstieg aus der Atomenergie nicht möglich gewesen“, sagte er. Auch in der Zukunft könnten immer wieder politische Kurskorrekturen notwendig sein. „Und wenn die Politik dann wegen der im Freihandelsabkommen festgeschriebenen wirtschaftlichen Interessen, sprich wegen des Investorenschutzes nichts tun kann, ist Deutschland wie ein Auto, bei dem das Lenkrad festgeschweißt ist“, sagte Aiwanger. „Es wird auf plötzlich auftauchende Hindernisse nicht mehr reagieren können.“

Zudem ergäben sich aus Verbrauchersicht gravierende Nachteile und Einschränkungen. So würden in Deutschland landwirtschaftliche Produkte aus den USA auf den Markt kommen, die mit dem Herbizid Glyphosat verseucht seien. Glyphosat stehe im Verdacht, krebserregend zu sein, werde in den USA aber standardmäßig eingesetzt. Üblich sei in den USA zudem der Einsatz von Wachstumshormonen etwa bei Rindern.

Darum ruft Aiwanger zum sofortigen Stopp der TTIP-Verhandlungen auf. „Wir müssen alles auf Anfang setzten, also ganz von vorn anfangen“, sagte er. „Und dann müssen wir von unten nach oben debattieren, also von den Kommunen über die Verbraucherschutzverbände, den Mittelstand und die NGO’s hinauf auf die europäische Ebene. Und dann muss das Europäische Parlament abklären, wie weit es mitgeht.“ Nur so könne sichergestellt werden, dass ein solches Abkommen in Einklang mit den Interessen der Bevölkerung stehe.

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Über Günther Lachmann

Der Publizist Günther Lachmann befasst sich in seinen Beiträgen unter anderem mit dem Wandel des demokratischen Kapitalismus. Er veröffentlichte mehrere Bücher, darunter gemeinsam mit Ralf Georg Reuth die Biografie über Angela Merkels Zeit in der DDR: "Das erste Leben der Angela M." Kontakt: Webseite | Twitter | Weitere Artikel

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