Das Eingeständnis des Scheiterns

Den sogenannten Eliten ist angst und bange angesichts der Krisen unserer Zeit. Dass es am Ende gut gehen könnte, glauben sie längst nicht mehr.

Seltsam ist die Stimmung im Land. Es heißt, die Deutschen würden zu Optimisten just in der Zeit, da in der Ukraine Panzer rollen, biblische Flüchtlingsströme übers Mittelmeer ziehen und die anhaltende Euro-Krise die wundersame Geldflut der Zentralbanken als faulen Zauber entlarvt. Zwar sähen einige hier und da doch Schwierigkeiten für die Gesellschaft, räumt eine Studie des Instituts Ipsos ein.[1] Aber für sich selbst seien die Menschen zuversichtlich – vor allem die Jugend. Insgesamt habe die Zahl der Optimisten mit 45 Prozent einen neuen Höchstwert erreicht.

Wie ist das möglich, fragt man sich? Sehen wir denn nicht, was rings um uns herum passiert? Oder glauben wir der Kanzlerin, die sagt: „Deutschland geht es gut!“ [2]

„Wenn das kein Erfolg ist!“

Komisch nur, dass diejenigen, die mit der Kanzlerin schon mal beim Tee zusammensitzen, untereinander offenbar ganz anders reden. In ihren Kreisen herrscht nämlich die nackte Angst vor dem, was vielleicht morgen schon kommen mag. Sie rechnen mit dem Schlimmsten – egal, ob es um die Ukraine, den Irak, Syrien, Libyen und die damit verbundenen Flüchtlingsströme oder die Euro-Krise geht.

„Wenn der Krieg in der Ukraine weiter eskaliert und Griechenland doch pleitegeht und wenn die unsägliche Marine Le Pen französische Präsidentin wird und ihr Land isoliert und wenn die Briten aus der EU verschwinden, dann , ja dann – aber bitte schreiben Sie das nicht“, schildert Bernd Ulrich in einem bemerkenswerten Aufsatz in der „Zeit“ Gespräche mit Politikern.[3]

Ulrich war mal Büroleiter beim Fraktionsvorstand der Grünen im Bundestag, bevor er Journalist wurde. Er hat die ganzen Metamorphosen des rot-grünen Milieus mitgemacht und ist heute als stellvertretender Chefredakteur der „Zeit“ eine der wichtigsten publizistischen Stimmen eben dieses Milieus. Normalerweise schreibt er gegen Putinversteher und die ewigen Miesepeter, die immer alles schlechtreden müssen. Bis jetzt gehörte er zu denen, die den Deutschen Optimismus predigten. Noch im Februar sah er etwa die Europäische Union hervorragend aufgestellt:

„Gestern noch sah es so aus, als könne das Schlimmste passieren. Unversöhnlich standen sich der deutsche und der griechische Finanzminister gegenüber, der Grexit war nah, und Hellas sah man schon in Putins Armen liegen – der Anfang vom Ende der Europäischen Union, wie wir sie kannten. Und nun? Ein Kompromiss, ein Spiel auf Zeit, eine Lösung nach europäischer Art. Schwer zu verstehen, nicht schön anzusehen, aber grundvernünftig. Die Griechen sind wieder eingefangen, Wolfgang Schäuble hat zugestimmt, die Union bleibt beieinander. Wenn das kein Erfolg ist!“

Und er fragte sich:

„Warum fällt es der EU so schwer, ihre eigenen Erfolge zu erkennen?“

„Wie in einem bösen Traum“

Tja, warum nur? Kürzlich war Ulrich zur Feier des 75. Geburtstages von Ex-SPD-Chef Franz Müntefering eingeladen. Und was er da hörte, dürfte ihm gar nicht gefallen haben, denn es waren vor allem Zweifel. So viel „Grundstürzendes und Markerschütterndes“ geschehe, soll Müntefering gesagt haben, dass er sich „wie in einem bösen Traum“ fühle. Die Welt habe sich verändert.

Nicht nur bei Müntefering, insgesamt schwinde das Vertrauen in die Kräfte des Westens, alles irgendwie kontrollieren zu können. Längst seien die Krisen „stärker geworden als unsere Verdrängungskräfte- und Wünsche“, schreibt Ulrich.

„…Schwer zu sagen, wann genau das geschehen ist, beim Einmarsch der Russen auf der Krim, bei der Pleite von Lehman Brothers, bei der dritten Wiederkehr der Griechenlandkrise oder als man den Überblick über den Mittleren Osten verloren hat: Niemand glaubt mehr, dass wir in einer Ausnahmephase leben; fast keiner wagt zu hoffen, dass sich die Araber alsbald befrieden…“

Er berichtet von einem „gepflegten Gesprächskreis“, in dem sich vor schon einem Jahr „CEO’s global agierender Konzerne, Spitzenpolitiker und Journalisten“ über Putin und die EU-Sanktionen in die Haare gerieten. Sie hätten sich angeschrien und beleidigt.

„Was war denn passiert?“, fragt Ulrich und gibt selbst die Antwort: „Passiert war der Einbruch der Wirklichkeit ins Establishment, aber das verstand man damals noch nicht.“

„Endlich!“, müsste man rufen. Endlich sind die Politiker und Wirtschaftslenker an jenem Punkt der Erkenntnis angekommen, den GEOLITICO und andere Foren im Internet schon vor Jahren erreichten und seither eine leidenschaftliche Diskussion über die Zukunft führen. Aber es gibt keinen Grund zur Beruhigung und schon gar keinen zur Freude. Denn die so genannten Eliten wollen diese Debatte nicht.

Heimliche Beichte

Darum kommt diese Rezeption der Wirklichkeit bis heute in Teilen der Bevölkerung nicht an. Auch Ulrich sieht das: „Eine bemerkenswerte – und beunruhigende – Diskrepanz entsteht zwischen dem, was in allen Nachrichtensendungen berichtet wird, und dem, was die politische Klasse kommuniziert. “ Nie zuvor hätten sich deutsche Politiker so sehr vor der Wahrheit gedrückt.

Wenngleich es mit der Wahrheit der Politiker nie weit her war. Man denke nur an die vielen gebrochenen Wahlversprechen. Aber dass sie die Wirklichkeit aus Angst vor derselben verschweigen, stellt eine neue Qualität des Betruges dar. Und es wäre geradezu eine Ironie der Geschichte, wenn die über Jahrzehnte hinweg überaus misstrauischen und sparsamen Deutschen ausgerechnet in dieser Situation zu hoffnungslosen Optimisten mutierten und diesen Angsthasen auf den Leim gingen.

Jedoch ist es nicht diese Erkenntnis allein, die Ulrichs Analyse so lesenswert macht. Denn die eigentliche Botschaft ist eine andere: Was er aufschreibt, wie er die Angst und Handlungsfähigkeit der Herrschenden durch eine kritische Betrachtung transparent macht, ist letztlich eine Art heimliche Beichte der Politik selbst. Wenngleich namenlos, spricht sie durch seine Sätze und offenbart, wie wenig sie noch daran glaubt, dass am Ende alles gut gehen könnte. Sein Text ist das stillschweigende Eingeständnis des Scheiterns. Er ist ein Offenbarungseid.

Anmerkungen

[1]Neuer deutscher Optimismus“, FAZ.net vom 26. 12. 2014

[2] Angela Merkel, „Deutschland geht es gut!“, CDU vom 12. September 2013

[3] Bernd Ullrich, „Warum sagen sie nicht, was ist?“, Die Zeit vom 29. April 2015, Nr. 18

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Über Günther Lachmann

Der Publizist Günther Lachmann befasst sich in seinen Beiträgen unter anderem mit dem Wandel des demokratischen Kapitalismus. Er veröffentlichte mehrere Bücher, darunter gemeinsam mit Ralf Georg Reuth die Biografie über Angela Merkels Zeit in der DDR: "Das erste Leben der Angela M." Kontakt: Webseite | Twitter | Weitere Artikel

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