Europas römische Bestimmung (III)

Auch vor 2000 Jahren im spätrepublikanischen Rom wurden Debatten über die eigene Krise und Lösungswege aus dieser Krise abgehalten. Am Ende zerfiel das Reich. Eine Besprechung des Buches „Auf dem Weg ins Imperium” in drei Teilen*.

Im zweiten Teil der Besprechung zu David Engels Buch „Auf dem Weg ins Imperium. Die Krise der Europäischen Union und der Untergang der römischen Republik. Historische Parallelen.“ (kurz: AWI) war der eigentliche Vergleich des spätrepublikanischen Roms mit der Europäischen Union der Gegenwart das Thema. Im letzten Teil wird noch einmal auf die speziellen Themen „Identität“ und „Imperium“ eingegangen.

Nationale Identität wird in der Wikipedia als „eine Menge von gemeinschaftlichen Überzeugungen, Verhaltensweisen und oft auch emotionalen Bezügen, die Individuen oder Gruppen als eine Nation verbinden“. Die Mitglieder einer Gemeinschaft würden in ihren Köpfen die Vorstellung von einer Gemeinschaft kreieren. Die Vorstellungen von der Nation fungierten als verbindende Elemente innerhalb der Gemeinschaft und als Bezugspunkte der kollektiven Identifikation. Nationale Identität lasse sich allgemein als ein Bewusstsein oder ein Gefühl der Zugehörigkeit innerhalb einer Gemeinschaft bezeichnen, das unter dem Vorzeichen der Nation stehe.

Insofern gibt es in EU-Europa 28 Nationen mit 28 Identitäten. Eine EU-Identität gibt es zur Zeit nicht, genau das ist das Problem David Engels, das er in seinem Essay immer wieder umkreist und anspricht.

Kristallisationskern Frankenreich

Das christliche Abendland als einstiges Fundament einer europäischen Identität wird von ihm benannt, ist aber in der säkularen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts kaum für die Neuauflage einer europäischen Identität geeignet. Außerdem war das christliche Abendland alles andere als tolerant in religiösen Dingen. Nach entsetzlichen Religionskriegen hatte man in Europa gelernt, dass religiöse Toleranz als Prinzip des Zusammenlebens die bessere Alternative ist. Diese Toleranz muss man auch von den Angehörigen der verschiedenen nicht-christlichen Religionen einfordern, die nun in Europa leben. Aber das erzeugt, da muss man Engels Recht geben, keine gemeinsame Identität mehr.

Auch die Vorstellung von einer westlich-abendländischen Kultur losgelöst von den religiösen Bezügen dient nicht unbedingt der europäischen Identitätsfindung. In dieser Kultur kam es zwar zu einem wissenschaftlichen Aufschwung, in dessen Gefolge Medizin und Technik den Menschen einen Lebensstandard in bisher nicht gekanntem Ausmaß sichern konnten, doch ist diese Kultur kein Alleinstellungsmerkmal Europas, sondern hat sich mit Ausbreitung der Europäer auch auf andere Kontinente verlagert.

Engels verweist auch darauf, dass man in der Vergangenheit auf die Suche nach der verschütteten europäischen Identität gehen müsse. Doch was im nationalen Rahmen einer Identitätsfindung dient, ist im EU-Rahmen äußerst schwierig. Geschichtlich gesehen, sind die Kreuzzüge die letzte gemeinsame Großaktion der Europäer, und das Reich der Franken als Kristallisationskern dessen, was wir Europa nennen, ist für uns im Grunde ebenso fremdartig wie das Römerreich.

Die Kolonialisierung der Kontinente Amerika, Afrika und Australien wurde in nationaler Eigenregie durchgeführt und ist außerdem nicht unbedingt ein positiver Identitätsfaktor, ebenso wenig wie die geschichtlichen Erinnerungen an Kriege, in denen man sich gegenseitig zerfleischt, vertrieben und beraubt hat. Europa hat es nun einmal nicht leicht. Auch der besinnliche Rückblick auf philosophische und andere geisteswissenschaftliche Großtaten der Europäer wird keinen wirklichen Schub in Richtung gemeinsamer Identität bringen.

Der „verbissene Wunsch nach Integration“

Immer wieder geißelt Engels die blutleeren universalistischen Ideen, die die politischen Eliten für die Identitätsfindung der Europäer anführen:

„So nähert sich von Jahr zu Jahr die Gefahr ein wenig mehr, dass diese Ablehnung der unmittelbaren kulturellen, politischen und wesensgleichen Besonderheiten Europas seitens der Europäischen Union den Bürger allmählich dazu bringt, sich von der europäischen Einigung abzuwenden und in dieser letztlich eine größere Gefahr zu sehen als im Nationalismus. Denn der verbissene Wunsch nach ‚Integration‘ von allem, was fremd und nicht integrierbar ist, ja eigentlich auch nicht integriert werden will, ist mittlerweile solchermaßen zu einem Glaubenssatz geworden, dass er schon die gesamte Schulbildung durchdringt. Bereits Kinder und Jugendliche werden dazu angehalten, einerseits die eigene Vergangenheit (…) gering zu schätzen, andererseits aber jedes Ziehen von Grenzen als verdammenswert zu empfinden.“ (AWI, S. 423)

So werde eine Gesellschaft aufgebaut, in der die „politisch-korrekten“ Bürger über keinerlei weltanschauliches Rüstzeug mehr verfügten, sich gegen ihre systematische Enteignung, ob kulturell, wirtschaftlich oder politisch, zu wehren, obwohl sich die Welt außerhalb des „Abendlandes“ gerade in die archaischsten religiösen, politischen und ethnischen Identitäten verhärte.

Man muss aber an Engels die Frage zurückgeben, welche Möglichkeiten, für EU-Europa identitätsstiftende Ideen zu postulieren, die politischen Eliten denn überhaupt hatten. Folgende Einschätzung der Französischen Revolution von 1789 findet sich im Spätwerk „Der Alte Staat und die Revolution“ des französischen Staatsphilosophen Alexis de Tocqueville:

„Die Französische Revolution ist hinsichtlich dieser Welt genauso verfahren, wie die religiösen Revolutionen im Blick auf das Jenseits; sie hat den Bürger in einer abstrakten Weise betrachtet, indem sie von besonderen gesellschaftlichen Bedingungen ganz absah, ebenso wie die Religionen den Menschen im allgemeinen, ohne Rücksicht auf Vaterland und Zeitalter, betrachten. Sie hat nicht allein untersucht, was das besondere Recht des französischen Bürgers sei, sondern was in politischen Dingen die allgemeinen Pflichten und Rechte der Menschen seien.

Indem sie so stets auf das zurückging, was hinsichtlich der Gesellschaftsordnung und der Regierung am wenigsten eigenartig und sozusagen am natürlichsten war, konnte sie sich allen verständlich machen und gleichzeitig an hundert Orten Nachahmung finden.

Da sie den Anschein erweckte, die Wiedergeburt des Menschengeschlechts noch mehr als die Reform Frankreichs zu erstreben, hat sie eine Leidenschaft entzündet, wie sie bis dahin die heftigsten politischen Revolutionen niemals zu erzeugen vermocht hatten. Sie hat den Bekehrungsdrang eingeflößt und die Propaganda entstehen lassen. Dadurch hat sie denn auch jenen Anschein einer religiösen Revolution zu gewinnen vermocht, der die Zeitgenossen so sehr in Schrecken gesetzt hat; oder vielmehr sie ist selbst eine Art neue Religion geworden, allerdings eine unvollkommene Religion, ohne Gott, ohne Kultus und ohne künftiges Leben, die aber trotzdem, gleich dem Islam, die ganze Erde mit ihren Soldaten, ihren Aposteln und ihren Märtyrern überschwemmt hat.“ (Der Alte Staat und die Revolution, Berlin 2014, S. 28)

Europas Optionen

Einmal mehr muss man über die gedankliche Schärfe dieses französischen Philosophen staunen, denn was er in der Mitte des 19. Jahrhunderts beschrieb hat, kann auch heute noch beobachtet werden.

Es ist keine Übertreibung, wenn man konstatiert, dass das Bekenntnis zu den universalistischen Ideen in Anknüpfung an die Französische Revolution für die politischen Eliten in Europa zu einer Ersatzreligion geworden ist, mit der sie mit den vielen immer noch starken echten Religionen in Europa konkurrieren will. Sie versuchen, auf diese Weise eine übergreifende europäische Identität zu konstruieren, die sie den vielen nationalen europäischen Identitäten entgegenstellen. Engels kritisiert, dass dieser Versuch aufgrund der Blutleere dieser universalistischen Ideen ein Elitenphänomen geblieben ist, das in der Bevölkerung keinen Wiederhall findet. Er beharrt zu Recht darauf, dass sich Identität nicht konstruieren lasse. Das stimmt zwar alles, aber ebenso wenig lässt sich z. B. die christlich-abendländische Identität, die in einem ganz anderen geschichtlichen Kontext entstanden ist, in der Moderne einfach so wieder rekonstruieren, um die EU identitätsmäßig besser in der Bevölkerung zu verankern. Identität muss eben wachsen, das braucht Zeit.

Am Ende muss noch einmal das Thema „Imperium“ aufgegriffen werden, der Umgang David Engels Umgang mit den Optionen für eine innere Ausgestaltung, die ein EU-Europa seiner Meinung nach haben soll. Engels nennt in seinem Buch insgesamt vier Optionen für die weitere politische Entwicklung der Europäischen Union:

  • Rückfall in einen „anachronistischen Nationalismus“ und damit Auflösung der EU in die einzelnen Nationalstaaten; eine durchaus realistische Option, da angesichts der Mängel der heutigen europäischen Einrichtungen das Ideal einer abgegrenzten Staatlichkeit mit kultureller Homogenität durchaus wieder an Raum gewinne
  • Auflösung der EU in einem „ultraliberalistischen Weltstaat“, in dem die sich in der heutigen EU abzeichnende „immer selbstherrlichere, von universalistischen Ideen gestützte oligarchische Technokratie“ (AWI, S. 441) ihre Herrschaft über ein „zunehmend unzufriedenes Volk“ ausübt, eine Herrschaft, die in den zugehörenden Gebieten aber eher indirekt über die jeweils lokalen Eliten durchgeführt wird; diese Option würde einfach ein Weiterwursteln in altbekannter Weise bedeuten
  • Umwandlung der EU in einen europäischen Bundesstaat, der von einer diesen Staat bejahenden und sich mit ihm identifizierenden Bevölkerung getragen wird und der eine eigenständige Machtpolitik inmitten der globalen Weltmächte betreiben kann
  • Entwicklung der EU hin zu einem undemokratischen, aber paternalistischen Imperium, das eine eigene Machtpolitik in der Welt betreiben kann; ein gemäßigt imperiales Europa unter einem mit plebiszitärer Legitimität abgestütztem europäischen Alleinherrscher, dessen Machtumfang dem der französischen Kaiser des 19. Jahrhunderts ähneln würde, ebenso dessen Art der Machtausübung; vor allem der Kaiser des „Second Empire“ (AWI, S. 436) wurde durch regelmäßige Wahlen bestätigt, konnte aber durch seine exekutiven Vorrechte die demokratische Selbstblockade der damaligen Gesellschaft durchbrechen.

Weg in die Abhängigkeit?

Im Zentrum der Betrachtungen David Engels stehen die beiden letzten Optionen. Die Option „EU als Bundesstaat“ präferiert er, weil sie unserem Verständnis nach dem richtigen Funktionieren eines demokratischen Staats entspricht. Die letzte Option „Bonapartismus auf europäischer Ebene“ erhofft er sich aber, falls die Bundesstaat-Option nicht zustande kommt. Die beiden anderen Optionen wären seiner Meinung nach für Europa absolut katastrophal.

Jegliche Überlegungen, wie katastrophal allein der Versuch der Installation eines Europäischen Monarchen sein könnte, immerhin könnte das in eine Art Bürgerkrieg ausarten, werden von Engels nicht angestellt; es sei hier nur angemerkt. Engels will, in Anlehnung an die Errichtung des Prinzipats durch Augustus, vor allem das Positive sehen: die imperialistische Staatsform hätte den Vorteil, „einen möglichst großen Teil bürgerlicher Freiheitsrechte in ein gemäßigt imperiales Europa hinüberzuretten“ (AWI, S. 474), und könnte „zumindest unsere kulturelle Besonderheit und unseren Stolz auf unsere Geschichte und Tradition mit allen Mitteln verteidigen“ (AWI, S. 475).

Im Grunde hat laut Engels Europa nur noch die Wahl, sich zu einem eigenständigen Machgebilde zu entwickeln (in welcher Staatsform auch immer) oder kulturell und politisch unterzugehen. Er kann das gerade anhand der expansiven Geschichte des römischen Imperiums und der Einbeziehung der zerstrittenen griechischen Staatsgebilde in das römische Reich ganz eindringlich begründen. So wie die griechischen Städte und Reiche langsam aber sicher sei es als Bündnispartner und Schutzbefohlene oder überwältigt von der militärischen Übermacht des Mittelmeer-Giganten Rom in das Reich einbezogen wurden, könnte es auch den Europäern gehen, wenn man in Zukunft im Spiel um die Macht auf die besser aufgestellten globalen Player USA oder China trifft:

„Während die Zukunft des gesamten Mittelmeerraums auf dem Spiel stand, Senat und Volk von Rom über das Schicksal der Alten Welt entschieden, ungeahnte Reichtümer in die Tibermetropole flossen und römische Kommunalpolitiker als Nachfolger der alten Könige in ihre Provinzen entsandt wurden, zerfleischten sich die griechischen Stadtstaaten in lächerlichen territorialen Konflikten und verspielten aus dem sturen Wunsch heraus, keinerlei eigenstaatliche Rechte preiszugeben, nicht nur die Weltherrschaft, sondern auch die eigene Freiheit.“ (AWI, S. 469)

Das mag wohl stimmen, aber wie realistisch sind die beiden Optionen, die Engels für eine Lösung zur Erhaltung der europäischen Selbstständigkeit anbietet? Muss es immer alles oder nichts sein? Man könnte durchaus eine fünfte Option anbieten, die wie der Bonapartismus auch ihren Auftritt in der europäischen Geschichte hatte.

Wider klamaukige Einzeldarsteller

In einem hochinteressanten Artikel aus dem Jahre 2006 beschrieb Michael Stürmer das Dilemma einer sich immer mehr ausdehnenden EU, die aber bisher keiner verfassungsmäßige Vertiefung von einem Staatenbund hin zu einem Bundesstaat vorweisen konnte :

„Die EU ist, wie der Staatsrechtler von Pufendorf das Heilige Römische Reich einst nannte, „monstro simile“, einem Fabelwesen gleich und keiner Staatsformenlehre subsumierbar. Aus dieser Not gilt es, eine Tugend zu machen, ein Reich als Rechts- und Friedensverband, schwaches Zentrum, starke Einzelstaaten, Schutz für die Kleinen, gestufte Zugehörigkeit. Damit aber die Kinder nicht erschrecken, nennen wir es einfach Commonwealth of Europe.“[1]

Ein solcher Staatsverband in der Tradition des Alten Reichs könnte durchaus zukunftsfähig sein. Man könnte, um über Stürmer noch hinauszugehen, sich sogar soweit verständigen, Außen- und Militärpolitik an die EU abzugeben, um in der Weltpolitik mit einer Stimme zu sprechen. Man könnte dafür Befugnisse in anderen Bereichen aber wieder zurückzuschrauben, die Verantwortlichkeit wieder an die Einzelstaaten zu rückzugeben, auch um den überbordenden Brüsseler Beamtenapparat abzuschmelzen. Auch das wäre eine Option.

Und in einer EU, die nicht mehr den vorgeschriebenen Krümmungsgrad von Gurken bestimmen will, aber in der Welt selbstbewusst mit einem einzigen Außenminister und eben nicht mit einer klamaukigen Horde sich widersprechender Einzeldarsteller auftritt, könnte sogar langsam so etwas wie eine europäische Identität entstehen.

Hier finden Sie den ersten Teil, hier den zweiten Teil und hier den dritten Teil der Besprechung.

Anmerkung

[1] Michael Stürmer, „Ein Reich für Europa“, Die Welt vom 4. Mai 2006

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