Europas römische Bestimmung (I)

Auch vor 2000 Jahren im spätrepublikanischen Rom wurden Debatten über die eigene Krise und Lösungswege aus dieser Krise abgehalten. Am Ende zerfiel das Reich. Eine Besprechung des Buches „Auf dem Weg ins Imperium“ in drei Teilen*.

Im letzten Jahr erschien ein Buch mit äußerst ungewöhnlichem Thema und Titel: „Auf dem Weg ins Imperium. Die Krise der Europäischen Union und der Untergang der römischen Republik. Historische Parallelen. Berlin/München, 2014“. Geschrieben hat dieses 544 Seiten lange Werk der deutschsprachige belgische Althistoriker David Engels, der seit 2008 den Lehrstuhl für Römische Geschichte an der Université libre de Bruxelles (ULB) bekleidet.

In einer kühnen Herangehensweise wird schon im Titel unterstellt, dass die Europäische Union in einer vergleichbaren Transformation hin zu einem kaiserlichen Imperium befindet, wie man es bei der sich im Niedergang befindenden römischen Republik in den zwei Jahrhunderten vor unserer Zeitrechnung beobachten konnte, wobei auch Engels betont, dass Imperien nicht unbedingt eine monarchische Spitze haben müssen.

Es ist ein ungewöhnliches Buch, dessen Lektüre immer interessant war, den Leser aber manchmal, ob der meinungsfreudigen Auslassungen des Autors über den Zustand der Europäischen Union, etwas ratlos zurücklässt. Man muss nicht alle Aussagen und Ansichten Engels teilen. Im Grunde ist das Buch ein historisch-politischer Essay; diese Literaturform beinhaltet ja eine sehr persönliche und nicht unbedingt bis ins Letzte allen wissenschaftlichen Kriterien genügende Herangehensweise eines Autors an ein Thema.

Der drohende Untergang

David Engels sieht die Europäische Union ähnlich wie das spätrepublikanische Rom in einer schweren Krise, durch falsche Politik „an den Abgrund gebracht“ (Auf dem Weg ins Imperium, S. 8; in der Folge: AWI), so dass nur ein grundlegender Kurswechsel hier noch Rettung bringen könne.

Es ist eine Krise, „die nicht nur den institutionellen oder wirtschaftlichen Bereich umfasst, sondern sich auf alle anderen Felder menschlicher Selbstentfaltung wie Familie, Staat, Kultur, Politik oder Spiritualität erstreckt und sich daher im eigentlichen Sinne als grundlegende Identitätskrise der europäischen Zivilisation entpuppt“ (AWI, S. 15).

Das Buch erschien 2013 zuerst in französischer Sprache und wurde unter dem Titel „Le déclin. La crise de l’Union européenne et la chute de la République romaine. Quelques analogies“ veröffentlicht. In der französischen Ausgabe wird schon im Titel deutlicher, worum es Engels eigentlich geht: um den (drohenden) Niedergang, ja Untergang der Europäischen Union. Die EU ist zwar mit Europa nicht deckungsgleich, sie zeigt aber als einziges Staatsgebilde der Europäer einen Zukunftsweg für Europa auf. Engels ist überzeugt, auch wenn es so nicht wortwörtlich in seinem Buch steht: Scheitert die Europäische Union, dann scheitert Europa als Ganzes.

Auch vor 2000 Jahren im spätrepublikanischen Rom wurden Debatten über die eigene Krise und Lösungswege aus dieser Krise abgehalten, nur dass in der damaligen Situation keine Lösung gefunden und das Staatswesen schließlich in ein kaiserliches Imperium umgeformt wurde. Um also der „Krise der westlichen Kultur“ zu begegnen, um dem drohenden „Weg ins Imperium“ eine Alternative entgegenzustellen, verwendet Engels diesen ungewöhnlichen komparatistischen Ansatz, wobei er selbst sich durchaus in der Tradition interkultureller Vergleiche sieht, wie sie auch schon Spengler oder Toynbee in ihren Werken präsentiert haben.

Kampf für ein anderes Europa

Im Vergleich des antiken Staats der späten römischen Republik mit der Europäischen Union Anfang des 21. Jahrhunderts gilt es „die politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Parallelen“ (AWI, S. 18) zwischen zwei Schlüsselsituationen der Weltgeschichte zu untersuchen, „sind doch alle Schlüsselprobleme dieser Krise bereits mehrfach in der Geschichte der menschlichen Hochkulturen erlebt und auch gewissermaßen überwunden worden“ (AWI, S. 37). Auch Engels wagt wie Spengler eine Prognose der künftigen Entwicklung Europas; bei Spengler ist es der „Untergang des Abendlandes“, bei Engels der déclin, der Untergang der EU. Als Unterschied wäre zu vermerken, dass Spengler die Entwicklung als unabänderlich ansah, während Engels immerhin noch einen Weg abseits des Untergangs sieht.

Die Diagnose einer Krise der Europäischen Union allein ist trivial, jeder politisch Interessierte kann das erkennen. Für David Engels ist zur Beschreibung der Krise der EU der Begriff „Identität“ zentral, denn – so muss man ihn wohl verstehen – ohne europäische Identität gibt es kein europäisches Staatsvolk, das einen demokratischen europäischen Staat tragen könnte. Sollte Europa nicht eine eigene Identität entwickeln können, gibt es für ihn keinen Ausgang aus der politischen Sackgasse, in der es steckt. So wie sich für die römische Republik vor 2000 Jahren aus dem Unvermögen ihre Identitätskrise zu lösen schließlich eine Krise ohne Alternative ergeben hat.

Es geht Engels nicht nur darum, den europäischen Niedergang zu beschreiben, sondern bei der Diskussion um den Begriff der „europäischen Identität“ wird seine Absicht deutlich, in der Auseinandersetzung mit der Geschichte der römischen Republik zum einen ein mahnendes Beispiel für ein grandioses Scheitern aufzuzeigen und zum anderen die in den antiken Debatten schon aufgeführten Faktoren für Identität wiederzuentdecken und für die augenblickliche Situation fruchtbar zu machen.

David Engels ist überzeugt, dass „die richtige Antwort auf die sich allmählich abzeichnende Krise nicht in der Rückkehr zum Nationalstaat und dem Zerfall der europäischen Einigung, sondern im Kampf für ein anderes Europa liegt“ (AWI, S. 9). Es wäre ein Europa, das einiger und bürgernäher wäre und sich endlich zu den eigenen kulturellen Werten bekennen würde. Gefährdet sieht Engels dieses Europa durch die „euroskeptischen nationalistischen Tendenzen“ die „überall weiter an Boden gewinnen“ (AWI, S. 16).

Sollte das so weiter gehen, „dann können selbst die kleinsten äußeren Unannehmlichkeiten hinreichende Argumente dafür liefern, den Einigungsprozess umzukehren und die daraus hervorgehende, erneut zersplitterte und geschwächte europäische Staatenwelt der Gewalt der neuen asiatischen und amerikanischen Großmächte auszuliefern“ (AWI, S. 16).

Zeugnisse einer untergegangenen Hochkultur

Der „europäische Erdteil“, hier ist dann nicht mehr nur die EU gemeint, hätte eine dunkle Zukunft vor sich:

„Will sich der europäische Erdteil in diesem neuen Konzert der Mächte behaupten, so muss die Lösung der europäischen Identitätskrise zur zentralen Aufgabe unserer nahen Zukunft werden. Es wird um nichts weniger gehen als um die Frage, ob Europa nach 65 Jahren politischen Niedergangs endlich ein unabhängiger und glaubwürdiger Akteur der Weltgeschichte werden wird oder ob der Einigungsprozess wesentlich auf die Einrichtung einer von außen immer stärker bedrängten wirtschaftlichen Freihandelszone beschränkt bleiben und Europa sich durch Bevölkerungsrückgang, Vergreisung, Arbeitslosigkeit und Delokalisierung allmählich in einer Art Freilichtmuseum seiner eigenen Vergangenheit verwandeln wird, finanziert von chinesischen und japanischen Touristen, welche die verwitterten Zeugnisse einer untergegangenen Hochkultur besichtigen und einige Andenken an die örtliche Folklore erwerben wollen, ganz so, wie man auch in frühbyzantinischer Zeit der verfallenden ehemaligen Welthauptstadt Rom einen kurzen Pietätsbesuch abstattete.“ (AWI, S. 19/20)

Doch der europäische Einigungsprozess ist rein institutionell, für die Mehrheit der Europäer ist er ein Elitenprojekt, kein Projekt, das die Masse der Menschen bewegt, oder in den Worten Engels: Es waren die Leiter, nicht die Geleiteten, die die Initiative ergriffen haben. Dort, wo es darauf ankommt, fehlt es leider an einer entsprechenden Identität, und nur „eine nicht nur geistig ansprechende, sondern auch gefühlsmäßig befriedigende gemeinsame Identität vermag es, dass Individuen, welche dasselbe Gemeinwesen teilen, sich mit der Vergangenheit verbunden fühlen, sich mit ihrer Gegenwart solidarisch zeigen und eine gemeinsame Zukunft errichten wollen“ (AWI, S.21). Hier ist die EU im Vergleich zu anderen Welt- und Großmächten ein Projekt in der Krise:

[Es] „ist letztlich nicht die gegenwärtige Wirtschaftskrise, welche die Existenz der Europäischen Union gefährdet, sondern die seit Jahrzehnten latent schwelende und nun angesichts der verbissenen Verteilungskämpfe stärker denn je hervorbrechende Identitäts- und Sinnkrise unserer Zivilisation, welche das Überleben der europäischen Institutionen und die Zukunft des Einigungsprozesses gefährdet“ (AWI, S. 17).

Während früher über den Begriff „Abendland“ trotz der antagonistischen und sich in regelmäßigen Abständen bekämpfenden Nationalstaaten ein Minimum an Identität gestiftet worden sei, sei heute eine „europäische Identität“ kaum noch begrifflich fassbar. Im Vertrag von Lissabon von 2007 würden, so Engels, als verbindliche Grundwerte für das geeinte Europa einige ganz allgemeine Regeln des Zusammenlebens genannt, die für einen weltstaatlichen Werterahmen taugten, aber keine Ideen für eine kulturelle Identität Europas enthielten (AWI, S. 64- 67).

Die ganze Hilflosigkeit der politischen Elite Europas im Umgang mit dem Identitätsbegriff zeige sich darin, dass man letztlich als „europäisch“ definiere, was geographisch als zu Europa gehörig zugeordnet werden könne. Europa aber nur als geographischer Begriff ist ohne Inhalt und Bindewirkung. Es sei kein Wunder, so Engels, dass dem EU-Staat die Bürger davonliefen, nicht unbedingt ins Ausland, aber in die innere Emigration (AWI, S. 289).

Zwölf Identifikationsmerkmale

David Engels schreibt aus der Position eines – nennen wir es mal – patriotischen Europäers, der sich als Angehöriger eines „Staates“ sieht, den es in der geschlossenen, machtpolitischen Form wie die Euro-Patrioten es gern sähen, noch gar nicht gibt. Dieses Europa im Konzert der Mächte müsste die breite emotionale Zustimmung der Masse der Bevölkerung haben, und um das geht es ja, wenn von Identität die Rede ist.

Wie kann aber eine europäische Identität aussehen, fragt sich der Althistoriker Engels? Bestimmt nicht, indem sie von Philosophen, Soziologen und Kommunikationswissenschaftlern konstruiert wird. Kann man den Wertekanon für eine solche Identität aus der Geschichte Europas ermitteln? Man muss es versuchen, antwortet David Engels, indem man eben aus den historischen Parallelen zwischen untergehender römischer Republik und der in die Krise gekommenen EU seine Schlüsse zieht. Er stellt deshalb für sein Herangehen über einen Vergleich zweier doch sehr unterschiedlicher Staatsgebilde folgendes „Postulat“ auf:

[Die] „gegenwärtige Identitätskrise der Europäischen Union ist kein einmaliges geschichtliches Ereignis. Sie ist vielmehr Ausdruck eines allgemeinen Missstands, der überall innerhalb der alternden abendländischen Zivilisation verspürt wird und für den eine direkte historische Parallele in der Identitätskrise der spätrömischen Republik vorliegt – einer Krise, deren Auflösung im augusteischen Principat auch für die Zukunft der europäischen Einigung einen richtungsweisenden Denkanstoß geben könnte“. (AWI, S. 70)

Engels entnimmt aus einer Bürger-Befragung der EU zwölf Identifikationsmerkmale, die – da von ihr selbst vorgegeben – durchaus als Werte gelten können, „mit denen die Europäische Union selbst am liebsten von ihren Bürgern identifiziert werden möchte“ (AWI, S. 70):

  • Toleranz
  • Respekt gegenüber menschlichem Leben
  • Gleichheit
  • Selbstverwirklichung
  • Religion
  • Respekt gegenüber anderen Kulturen
  • Freiheit des Einzelnen
  • Demokratie
  • Rechtsstaatlichkeit
  • Menschenrechte
  • Frieden
  • Solidarität

Er benutzt die Werte aus diesem Katalog als Krisenindikatoren, über die er dann im Weiteren den Vergleich der beiden „Hochkulturen“ in ihrer krisenhaften Entwicklung durchführt.

Wie kam es zur Monarchie?

Auf dem Weg ins Imperium © Europaverlag

Auf dem Weg ins Imperium. ISBN 978-3-944305-45-5, WG 1970 € 29,99 (D) © Europaverlag

Auf dem Weg ins Imperium © Europaverlag

Die Europäische Union ist uns zu Genüge bekannt. Zum Einstieg in die Thematik muss aber auch jenes andere Vergleichsobjekt genauer betrachtet werden: das Imperium Romanum. Es ist zeitlich für uns heutige Europäer weit entfernt, seine Kultur erscheint uns so fremd wie die gleichzeitig mit diesem Imperium existierenden asiatischen Großreiche. Es geht um jenen Abschnitt in der Geschichte des Mittelmeer-Reiches, das in der Wissenschaft als die späte Römische Republik bezeichnet wird, also die Zeit ab Mitte des 2. Jahrhunderts bis zum Jahre 31 v. Chr., in dem Oktavianus, der Großneffe und Adoptivsohn des ermordeten Diktators Gaius Julius Caesar, in der Schlacht bei Actium die Alleinherrschaft im Imperium erringen konnte. In diesem Jahr endete die Herrschaft des Senats endgültig, das war dann auch das Ende der Republik.

Wie kam es zu diesem Machtwechsel? Warum wurde die Republik zur Monarchie? Es ist schwierig, ein solch komplexes Thema wirklich kurz zu beschreiben, auch eine skizzenhafte Darstellung der wichtigsten Entwicklungen braucht Raum (auch in Engels Buch umfasst es ein größeres Unterkapitel):

  • Ein übergreifender Erklärungsansatz für das Ende der römischen Republik sieht als eigentlichen Grund das Zerbrechen des Konsenses innerhalb der römischen Oberschicht, wie das Staatswesen im Innern politisch weiter geführt werden sollte, die Interessengegensätze wurden zu groß und nach einem Ausgleich immer weniger gesucht. Im Verlauf der immer erbitterten erst politischen, dann auch gewalttätigen Auseinandersetzungen wurden die Gesetze und Regeln, die für das Funktionieren der Republik substanziell waren, nach und nach ausgehebelt. Am Ende standen sich im Bürgerkrieg feindliche römische Armeen gegenüber, die die Interessengegensätze mit dem Schwert ausfochten.
  • Im zweiten Jahrhundert v. Chr. hatte der römische Staat durch seine ständige Expansion eine Ausdehnung erreicht, die die gesellschaftlichen und politischen Strukturen der stadtstaatlichen Adelsrepublik überforderten. Die immer weitere Ausdehnung des Machtbereichs war kein unabwendbares Schicksal Roms, wie die römischen Geschichtsschreiber sich selbst und der Nachwelt weismachen wollten. Sie ging aus von der politischen Elite Roms, der Senatsaristokratie, deren Mitglieder nur in immer neuen Kriegen sowohl den militärischen Ruhm als auch Einfluss und Reichtum ihrer Familien steigern konnten. Mit jedem neuen gewonnenen Krieg flossen neue Beutegelder und neue Sklaven nach Italien. Gleichzeitig stiegen in den eroberten Gebieten die Anforderungen nach ständiger Truppenpräsenz. Vor allem die in den punischen Kriegen den Karthagern abgenommenen Gebiete in Spanien konnten erst gegen Ende des 2. Jahrhundert vor Chr. nach jahrzehntelangen Kämpfen mit den sich erbittert wehrenden Iberern vollständig als Provinzen ins eigene Machtgebiet integriert werden. Dies alles hatte langfristig Auswirkungen auf die römische Gesellschaft und auf die Machtverhältnisse in der Politik.
  • Der unglaubliche Reichtum, den manche, aber eben nicht alle Adelsfamilien erlangt hatten, führte zu einer deutlichen Differenzierung innerhalb der Senatsaristokratie. Neben dem senatorischen Adel entstand mit der Ausdehnung der römischen Macht außerdem eine reiche Kaufmannsschicht, der Stand der Ritter. Die Ritter waren zwar zum Teil mit den Adelsfamilien verbunden, hatten aber auch eigene Interessen z. B. als Steuerpächter. Am anderen Ende der Gesellschaft wurden immer mehr italische Kleinbauern zu land- und mittellosen Proletariern, die nach Rom siedelten, wo sie durch öffentliche Gelder unterstützt werden mussten. Ein Grund für diese Entwicklung kann in der ständigen Belastung durch den Militärdienst liegen, da die Soldaten für Roms Legionen aus den wehrpflichtigen Bauern rekrutiert wurden, die von keinem Adligen abhängig waren und als Vollbürger genug Geld hatten, um sich selbst auszurüsten. Eine Schlüsselrolle für die Verschärfung der Krise spielte sicherlich die immer größere Konkurrenz durch landwirtschaftliche Großbetriebe, die von der reich gewordenen Adelsschicht aufgebaut werden konnten. In den großen Latifundien arbeiteten in den Kriegen „erbeutete“ Sklaven, mit denen man konkurrenzlos billig produzieren konnte. Neue Provinzen wie z.B. Nordafrika waren wahre Kornkammern, aus denen gleichzeitig weiteres billiges Getreide nach Italien importiert wurde, was die Situation für die italienischen Bauern weiter verschärfte.
  • Es entstand eine städtische Unterschicht, die Plebs, die in der römischen Politik eine immer wichtigere Rolle spielen sollte. Die besitz- und landlosen Angehörigen der stadtrömischen Plebs, die wohl nicht nur durch Zuzug vom Land, sondern auch durch steigende Geburtenraten anwuchs, waren zwar nicht mehr wehrpflichtig, aber durchaus stimmberechtigt. Die alte Senatsaristokratie bekam das in den Volksversammlungen zu spüren, in denen Angehörige ihres eigenen Standes diesen Teil der Bürgerschaft gegen sie mobilisieren konnten.
  • In der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts fiel jedenfalls auch Teilen der Senatsaristokratie auf, dass ein gefährlicher Punkt erreicht war, die Ausdehnung des römischen Reiches und die damit verbundenen sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen hatten auch für sie wahrnehmbare Folgen. Mit dem Zerfall des römischen Bauerntums, das im Grunde die römischen Mittelschicht darstellte, und der wachsenden Zahl an Besitzlosen, aus welchen Gründen auch immer sie besitzlos wurden, zerfiel die alte stadtstaatliche republikanische Basis des römischen Staatswesens.
  • Aber die beiden einzigen Versuche eines ernsthaften Gegensteuerns in den Jahren 133 bzw. 123/121 in Gestalt der Ackerlandreformen der Gracchen misslangen. Es sollten Zuteilungen von Land an Besitzlose geben, entnommen aus früherem Staatsland, das schon längere Zeit von Angehörigen der Oberschicht okkupiert worden war. Das wurde von den Hardlinern unter den Senatoren mit der Ermordung der Reformer brutal unterbunden. Die Beibehaltung der bisherigen Besitzstände war nun einmal für die Mehrheit der Senatoren und ihrer adligen Familien alternativlos.
  • Wie immer, wenn eine Politik des Aussitzens betrieben wird, meldet sich irgendwann die ignorierte Realität kräftig zu Wort. Nach verheerenden Niederlagen römischer Heere gegen die Kimbern und Teutonen wurde unter Gaius Marius, einem Anhänger der Popularen, also der Richtung unter der römischen Oberschicht, die in Anknüpfung an die Politik der Gracchen eine am Volk orientierte Politik betrieb, um 100 v. Chr. eine konsequente Umgestaltung des römischen Militärsystems durchgesetzt. Jetzt wurde jede Vermögensbegrenzung für den Heeresdienst abgeschafft, der Eintritt von land- und besitzlosen römischen Bürgern in die Legionen wurde zum Normalfall. Die Ausrüstungen der Soldaten wurden nun vom Staat bezahlt, es entstand so eine Berufsarmee. Darüber hinaus hatte Marius damit begonnen, den Legionären nach Ausscheiden aus dem Militärdienst ein Stück Land zu versprechen. Dies wurde im weiteren Zeitverlauf zu einem selbstverständlichen Anspruch, den auch spätere Feldherrn zu erfüllen hatten. Anstatt sozialer Reformen, die im Rom der späten Republik nicht durchsetzbar waren, kam es lediglich zu einer Reform des Militärwesens, die auch sozialpolitische Aspekte hatte. Das veränderte Militärsystem führte ohne Zweifel zu einer Entlastung in Rom, da nun auch prekaritäre junge Männer aus der stadtrömischen Plebs wieder „eingegliedert“ werden konnten.
  • Es war aber eine Sozialpolitik mit Nebenwirkungen. Denn mit dieser Änderung des römischen Militärwesens begann der eigentliche Totentanz der römischen Republik, da nun einzelne Angehörige der Aristokratie über eine Beauftragung mit einer militärischen Mission eine Machtstellung erhielten, die den bisherigen Rahmen der Republik endgültig sprengte, und militärische Missionen wurden nicht nur aufgrund unruhiger Grenzen, sondern auch wegen der Aufstände der Bundesgenossen und der Sklaven sowie einer mörderischen Piraterie im Mittelmeer zum Normalfall für das Imperium Romanum der späten Republik. Die römischen Feldherren waren nun nach Beendigung eines Krieges die einzigen Garanten dafür, dass die landlosen Legionäre mit einem entsprechenden Stück Land für ihr weiteres Auskommen bedacht wurden. Im Gegensatz zu den Gracchen hatten sie die militärische Macht, Besitzübertragungen auch durchzusetzen. Die Loyalität der Soldaten galt nicht mehr der Republik, sondern ihrem jeweiligen Militärführer, zu dessen Klientel sie sich zählten und der als Patron nach den römischen Sitten auch die innere Verpflichtung hatte, für sie zu sorgen. Die römische Republik wurde nun in einem ca. siebzig Jahre dauernden Machtkampf römischer Warlords (Marius, Sulla, Pompeius, Caesar, Crassus, Antonius, Lepidus, Oktavianus) solange zerrieben, bis es Gaius Julius Oktavianus, der später den Ehrentitel Augustus erhielt, gelang, die Macht über die römischen Legionen bei sich zu monopolisieren. Auch wenn Oktavianus formal die Republik wiederherstellte, de facto wurde Rom ab jetzt von einem Monarchen unter dem die wahren Machtverhältnisse verhüllenden Titel „Princeps“ (Erster unter Gleichen) regiert, dessen alleinige Machtbasis die römischen Legionen waren. Und überwiegend waren es später auch die Legionen, die bestimmten, wer in Rom Kaiser sein durfte.

Das römische Reich war durch den Bürgerkrieg nicht untergegangen, es dauerte im Westteil noch 500 Jahre an, im Ostteil als Byzantinisches Reich sogar noch fast 1500 Jahre. An Stabilität und Dauer gemessen, die das Imperium Romanum unter den Caesaren danach noch hatte, kann man diese Transformation des Herrschaftssystems als durchaus erfolgreich bezeichnen.

Hier finden Sie den ersten Teil, hier den zweiten Teil und hier den dritten Teil der Besprechung.

*Vor diesem geschichtlichen Hintergrund ist man gespannt, welche Vergleiche David Engels zur Europäischen Union der heutigen Zeit denn ziehen wird. Das wird im zweiten Teil der Besprechung geschildert.

 

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