Tsipras gegen die Gescheiterten

Nicht nur Griechenland, ganz Europa hat ein Wachstumsproblem. Die EU ist gescheitert. Tsipras hält ihr den Spiegel vor. Wird er der neue Ludwig Erhard?

Alexis Tsipras ist neuer Ministerpräsident Griechenlands. Könnte er der neue Ludwig Erhard Griechenlands werden?[1] Er startete in jungen Jahren politisch als Kommunist, ist seit langem Chef des Linksbündnisses Syriza, das uns seit dem Überraschungserfolg bei den Parlamentswahlen im Mai 2012 in den Medien als linksradikal vermittelt wird. So gesehen, kann dieser Mann kaum irgendetwas mit der deutschen Ikone der Nachkriegszeit, dem Architekten des deutschen Wirtschaftswunders, gemein haben, oder?

Die meisten Konservativen, die derzeit (noch) die Oberhand im europäischen Krisenlabor haben, werden das kategorisch verneinen. Die Hüter liberalen Gedankenguts in Deutschland werden allein schon die Formulierung einer solchen Frage für absurd halten.

Aber ist es wirklich eine absurde Frage? Nein, es ist keine völlig absurde Frage, sofern man zu akzeptieren bereit ist, dass das wirtschaftsliberale Konzept, das Ludwig Erhard so erfolgreich machte, keineswegs zu jeder historischen Zeit und unter allen Umständen das bestmögliche und einzig Erfolg versprechende ist.

Andere Zeiten, andere Notwendigkeiten

Wer das behauptet, hat die Schwächen des wirtschaftstheoretischen Unterbaus dieses Konzepts verdrängt und die Fähigkeit verloren, wirtschaftliche Krisen unvoreingenommen und ergebnisoffen zu analysieren. Er (oder sie) wird deswegen immer wieder nur zu demselben Ergebnis, derselben Schlussfolgerung gelangen, was die wirtschaftspolitischen Lösungsmöglichkeiten anbelangt.

Doch „Lasst die Märkte und die Marktkräfte frei“, die auf ein Motto verkürzte Rezeptur dieses berühmt gewordenen Erhard´schen Konzepts, kann in einer von engen Oligopolen, gesättigten Märkten und massiven wirtschaftlichen Ungleichgewichten geprägten Welt nicht funktionieren. Und das ist die Welt, in der wir alle und auch Alexis Tsipras und die Griechen heute leben.

Die Märkte freizulassen bedeutet in dieser Welt de facto nichts anders als den sogenannten Raubtierkapitalismus von der Leine zu lassen.[2] Wer nicht groß und stark und einflussreich genug ist – das gilt für Unternehmen und Banken ebenso wie für Volkswirtschaften –, der hat eben Pech gehabt – und wird „gefressen“. Das dürfte so ungefähr das Gefühl sein, das unter anderem die Mehrheit der Griechen seit einiger Zeit hat.

Wer glaubt, dass sich das schon wieder von selbst ausregulieren wird, wenn man das liberale Konzept nur lange und konsequent genug durchzieht, der ist ein Zyniker. Denn darauf zu setzen, das bedeutet angesichts der angesprochenen Marktgegebenheiten nichts anderes, als es auf einen kapitalen Crash anzulegen, auf einen Kollaps des (globalen) wirtschaftlichen „Ökosystems“, der in Europa vielleicht mit Griechenland beginnt. Doch das „Fressen“ wird weitergehen und später auch große Volkswirtschaften wie Italien und Frankreich treffen.

Wer hat, dem wir gegeben

Nein, das ist kein Untergangsszenario und es ist auch keine abwegige Interpretation der Verhältnisse. Es ist die simple Logik des wirtschaftsliberalen Konzepts, konsequent und dauerhaft angewendet auf eine von engen Oligopolen, gesättigten Märkten und massiven wirtschaftlichen Ungleichgewichten geprägten Welt.

Mit anderen Worten: Würde Ludwig Erhard mit seinem wirtschaftspolitischen Konzept heute keinen Erfolg haben, schon gar nicht in Ländern wie Griechenland, Portugal oder Spanien. Wohlmeinende sagen, es ist eine das System stabilisierende Politik. Aber das ist nur ein Euphemismus für Strukturerhaltungspolitik.

Man braucht heute kein Befürworter von Keynes sein, um zu diesem Schluss zu gelangen. Es ist vielmehr sogar besser, wenn man es nicht ist. Denn auch Anhänger von dessen Lehre werden unter den oben skizzierten Gegebenheiten mit keynesianischen Konzepten kein „Wirtschaftswunder“ zustande bringen können, weil sie damit an den markt- und wirtschaftsstrukturellen Gegebenheiten in unserem globalen Wirtschaftssystem gar nichts ändern.

Im Gegenteil werden mit Konjunkturprogrammen ebenso wie mit Draghis Liquiditätsschwemme nur die bestehenden Marktverhältnisse und wirtschaftlichen Strukturen zementiert. Denn das Geld fließt genau dahin, wo es sowieso schon ist – zu den die Märkte dominierenden Oligopolisten und in die reichen Volkswirtschaften.

De facto ist das unter den gegebenen Bedingungen ebenfalls nichts anderes als Strukturerhaltungspolitik. Und nur damit das jetzt nicht wieder übersehen wird, im allgemeinen Trubel um Griechenland und Alexis Tsipras, den Linksradikalen:

Nicht nur Griechenland hat ein Wachstumsproblem, sondern die Europäische Union als Ganzes!

Tsipras trifft den Nerv

Europa dümpelt schon seit Jahren in Richtung Nullwachstum dahin. Das Problem des Alexis Tsipras ist – jenseits aller finanziellen Fragen – auch und vor allem das der Chefs der Euro-Gruppe. Davon wollen sie allerdings nichts wissen, weswegen es angebracht ist, sie einmal mit der Nase darauf zu stoßen. Und genau das hat Tsipras mit seinem Wahlsieg im Grunde gemacht, was ihm so mancher renommierte Politiker – wir nennen keine Namen – am meisten verübelt.

Seit der Finanzmarktkrise ist jedoch für jeden, der die wirtschaftliche Realität und die Fakten nicht verleugnet, klar, dass das bisherige Wachstumskonzept der Europäischen Union und mehr noch der Euro-Zone nicht mehr aufgeht. Präziser gesagt, hat Europa gar kein Wachstumskonzept mehr. Aber in den letzten Jahren wurde auf europäischer Ebene absolut gar nichts unternommen, um dieses Problem zu lösen. Damit wissen Sie jetzt auch, warum Tsipras’ offensive Art, den wunden Punkt zu berühren, von manchen als unangenehm empfunden werden dürfte.

Doch Spaß beiseite: Das ist eine alarmierende und unsere politische Elite entblößende Wahrheit. Denn sie hat dieses Problem bisher einfach immer als exklusives Problem der europäischen Krisenstaaten verkauft nach dem Motto, wer Leistungsbilanzdefizite fährt, der lebt eben über seine Verhältnisse und muss folglich einfach den Gürtel enger schnallen. Doch beißt sich dabei am Ende die Katze in den eigenen Schwanz.

Wenn nach und nach alle in Europa den Gürtel enger schnallen, das heißt, nach Spanien und Italien auch Frankreich, dann vergrößert sich in Europa das Problem der Nachfrage- und Investitionsschwäche, die die EZB doch so sehr zu überwinden bemüht ist.

So betrachtet, sollten die Chefs der Euro-Gruppe froh darüber sein, dass Tsipras es wagen will, einen anderen Lösungsweg zu finden und einzuschlagen. Griechenland würde einmal mehr zum Labor Europas – sofern sich die Euro-Gruppe darauf einlässt, das Experiment vorzufinanzieren oder es der griechischen Regierung gelingt, die Finanzierung auf andere Weise sicherzustellen.

Ein Himmelfahrtskommando

Wir werden es nie erfahren, wenn wir es ihn nicht versuchen lassen. Griechenland ist nicht Deutschland und war es auch nie. Die Möglichkeiten sind nicht vergleichbar, nicht einmal theoretisch. Tsipras wird sehr kluge Köpfe brauchen und, ja, insbesondere auch kluge Querdenker. Es wird trotzdem sehr schwer werden, eine Art Himmelfahrtskommando. Das steht fest.

Fest steht aber auch, dass die Gläubigerländer ihr Geld nicht wiedersehen, wenn Griechenland wirtschaftlich nicht wieder auf die Beine kommt. Europas bisheriges Wachstumsmodell funktioniert nicht mehr und die austeritätspolitische Sanierung, ein wirtschaftsliberales Konzept, hat bisher mehr wirtschaftlichen Schaden angerichtet als genützt – nicht nur in Griechenland. Das ist der Stand der Dinge. Griechenland fallen zu lassen, käme hingegen einer Kapitulation vor Europas zentraler Herausforderung gleich. Welches Euro-Krisenland als nächstes dran ist, wenn die bisherige Sanierungspolitik weiterhin nicht aufgeht, ist dann nur noch eine Frage der Zeit.

Es ist deswegen höchste Zeit für Europa, etwas anderes zu versuchen – und das vernünftigerweise zunächst im Kleinen. Tsipras ist nicht Erhard. Das ist völlig klar. Das heißt aber nicht, dass seine Krisenpolitik sowieso scheitern muss, wenn er dabei nicht auf das wirtschaftsliberale Konzept setzt. Im Gegenteil, er wird es anders machen müssen, weil die wirtschaftlichen Verhältnisse und Herausforderungen heute mit denen im Nachkriegs-Deutschland überhaupt nicht zu vergleichen sind.

Die Troika hat verspielt

Europa kann es sich nicht leisten, das noch länger zu ignorieren, wenn es nicht zwischen den USA und China zu einer wirtschaftlichen Restgröße zusammenschrumpfen will.

Und noch etwas sollte man vielleicht bedenken, bevor man ein neues griechisches Experiment verteufelt: Wer hat damals, als Erhard sagte was er tun will, um die deutsche Wirtschaft wieder auf die Beine zu bringen, geglaubt, dass es ihm auch nur ansatzweise so gut gelingen würde?

Die Staats- und Regierungschefs der Euro-Gruppe sollten sich auf ein neues Griechenland-Experiment einlassen. Tun sie es nicht, dann sind die bisherigen Kosten der Griechenland-Rettung nur die erste Ratenzahlung für eine missglückte europäische Krisenpolitik und der Preis, den wir für die Gesichtswahrung derjenigen zahlen, die sie zu verantworten haben.

Der europäische Karren steckt schon längst im Graben fest. Der klare Wahlsieg von Syriza in Griechenland zeigt nur erstmals mit aller Deutlichkeit, das es so ist. Das Vertrauen in die von der Euro-Gruppe beauftragte Troika, ihn da rauszuholen, ist weg. Die Griechenlandwahl wird ganz sicher kein Einzelfall bleiben. In anderen Krisenstaaten wird sich Ähnliches ereignen.

Anmerkungen

[1] Siehe auch: Günther Lachmann, „Kapital brach den Wohlsandspakt“, GEOLITICO vom 10.06.2014

[2] Siehe auch: Stefan L. Eichner, „Wirtschaftspolitik muss ganz neu gedacht werden“, GEOLITICO vom 5.10.2013

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Über Stefan L. Eichner

Als Ökonom beschäftigt sich Stefan L. Eichner seit 1990 mit den Themen: Europäische Integration, Wirtschafts- und Industriepolitik, Industrieökonomik und Wettbewerbstheorie. 2002 stellte er in einer Publikation eine neue Wettbewerbstheorie vort, die er "evolutorischer Wettbewerb" nennt. Kontakt: Webseite | Weitere Artikel

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