Masterplan für Griechenland

Klaus Kastner war viele Jahrzehnte als Banker im Ausland. Zur Griechenlandwahl stellen wir seinen industriepolitischen Entwicklungsplan für das Land vor.

Die Griechen sind heute aufgerufen, ein neues Parlament zu wählen.[1] Wie bereits im Mai 2012 und dann nochmals im Juni 2012 wird es wieder eine Abstimmung über den mit der sogenannten Troika (Europäische Kommission, EZB, IWF) ausgehandelten austeritätspolitischen Sanierungskurs werden. Und genau wie 2012 wird auch dieses Mal von maßgeblichen Politikern der Eindruck erweckt, das Sanierungskonzept der Troika sei alternativlos, sofern die Griechen den Euro nicht verlassen wollten. Nicht wenigen mag es deswegen so vorkommen, als seien Europa und Griechenland auf ihrem krisenpolitischen Kurs zweieinhalb Jahren vorangeschritten, aber letztlich doch nur im Kreis herumgeirrt.

Warum ist Griechenland jetzt wieder in derselben, politisch heiklen Situation wie im Frühjahr 2012? Und warum reagieren maßgebliche Politiker darauf wieder genauso? Vor allem aber: Wohin soll es führen, jetzt denselben Kreislauf nochmals zu beginnen?

Keine offene Debatte

Das Problem ist, dass es rein sachlich betrachtet falsch ist zu behaupten, der austeritätspolitische Kurs sei alternativlos, sofern Griechenland im Euro bleiben will. Es gibt nur keine offene Diskussion über Alternativen. Die Zuspitzung auf die Formel „Austeritätspolitik oder Grexit“ ist vornehmlich politisch motiviert und sie ist wirtschafts- und parteiideologisch bedingt. Auf diese Weise wurde bisher – ganz im Sinne der etablierten großen politischen Parteien – eine ergebnisoffene Debatte über die europäische Krisenpolitik und ihre Alternativen stets wirksam verhindert.

Nicht nur Griechenland, sondern Europa kann sich das nicht mehr länger leisten. Denn der austeritätspolitische Kurs hat die wirtschaftliche, finanzielle, politische und vor allem auch gesellschaftliche Realität in anderen europäischen Krisenstaaten in sehr ähnlicher Weise verändert. Das ist alarmierend und darf nicht länger unter den Teppich gekehrt werden. Denn was in Griechenland jetzt im Zuge der Neuwahlen geschieht, kann sehr bald auch in anderen Mitgliedstaaten Europas geschehen.[2]

Dringender Aufruf

Der vorliegende Beitrag von Klaus Kastner wurde im September 2012 auf seinem Blog „ObservingGreece“ unter dem Titel „Volkswirtschaftlicher Entwicklungsplan für Griechenland“ veröffentlicht.[3] Es handelt sich dabei um einen konstruktiven alternativen Lösungsvorschlag für Griechenland, der absolut nichts von seiner Aktualität eingebüßt hat, sondern im Gegenteil angesichts der Entwicklung in Griechenland und anderen europäischen Krisenländern heute aktueller ist denn je.

Ihn erneut vorzustellen, möchten wir als dringenden Aufruf verstanden wissen, die europäische Krisenpolitik nicht länger als Spielwiese parteipolitischer Interessen zu missbrauchen, sondern stattdessen in einen längst überfälligen offenen und konstruktiven Dialog über sinnvollere Alternativen einzutreten. Wir haben bereits zweieinhalb Jahre verloren. Hier nun Kasterners Beitrag:

 

Endspiel um Griechenland

(überarbeitete Fassung vom 12.09.2012)
 
von Klaus Kastner*

Die griechische Wirtschaft liegt darnieder und es sind noch keinerlei überzeugende Maßnahmen erkennbar (weder seitens der griechischen Politik noch seitens der EU), wie man die Wirtschaft wieder in Gang bringen möchte. Es fehlt ein industriepolitischer Entwicklungsplan, wie man eine Volkswirtschaft von einer verkrusteten und korrupten Amigo-Wirtschaft in eine wertschöpfende Marktwirtschaft „drehen“ kann. Das ist kein Projekt für ein paar Monate oder 2-3 Jahre; das ist ein Generationenprojekt und muss entsprechend langfristig angelegt werden.

Blick zurück

Volkswirtschaftler haben errechnet, dass Griechenland seit dem Euro gegenüber Deutschland um ca. 40% teurer geworden ist. Die internationale Kaufkraft des griechischen Euro ist jedoch dieselbe geblieben wie jene des deutschen Euro. Somit hat Griechenland Produkte und Dienstleistungen in dramatischen Dimensionen im Ausland gekauft statt sie selbst herzustellen. Die griechische Wirtschaft hatte ihr Geschäftsmodell schon vor Beginn der Finanzkrise verloren: mit 80% Dienstleistungen wurde sie eine Zombie-Wirtschaft, wo man sich gegenseitig Souvlaki zu erhöhten Preisen verkaufte und mit Geld bezahlte, das man sich im Ausland borgte.

Von 2001-10 importierte Griechenland 446 Mrd. EUR und exportierte nur 146 Mrd. EUR. Griechische Exporte deckten weniger als 45% der Importe. Das Leistungsbilanzdefizit summierte sich in diesem Zeitraum auf 199 Mrd. EUR! Dieser Luxus der Wirtschaft wurde mit den Spareinlagen anderer Länder finanziert.

Von 2001-10 sind Griechenlands Auslandsschulden von 121 Mrd. EUR auf 409 Mrd. EUR gestiegen; das ist eine Netto-Erhöhung um 288 Mrd. EUR! Die Staatsschulden konnten mittlerweile von einem Schuldenschnitt profitieren. Die Auslandsschulden des Bankensektors sind jedoch deutlich über 200 Mrd. EUR und steigen mit jeder neuen Finanzierung der EZB weiter an. Selbst wenn man Griechenland alle seine Staatsschulden erlassen würde und wenn der Haushalt ausgeglichen werden könnte, wäre das Problem der Wirtschaft nicht gelöst.

Die griechische Wirtschaft „verbrennt“ Geld. 2011 betrug das Leistungsbilanzdefizit immer noch 21 Mrd. EUR. Außerdem verlor der Bankensektor seit 2010 rund 70 Mrd. EUR an Einlagen. Bisher hat die EZB dieses „Loch“ im Bankensektor gefüllt. Man führe sich vor Augen, dass die EZB Steuerzahlergeld nach Griechenland schickt, damit wohlhabende Griechen ihr eigenes Geld – ganz legal via Bankkonten – ins Ausland überweisen können und damit die Wirtschaft massiv importieren kann, statt Produkte selbst herzustellen! Wie lange wird die EZB das noch machen können?

Diagnose

Griechenland ist zwar kein Fass ohne Boden, jedoch ein Fass mit 3 großen Löchern: Haushaltsdefizit, Leistungs-bilanzdefizit und Kapitalflucht. Beim Haushaltsdefizit wurden bereits (an und für sich sehr beeindruckende) Maßnahmen umgesetzt, aber viel ist noch zu tun. Solange man aber nicht das Leistungsbilanzdefizit und die Depositenflucht in den Griff bekommt, hat Griechenland keine Chance. Ein industriepolitischer Entwicklungsplan muss darauf abstellen, dass das Leistungsbilanzdefizit reduziert und dass die Depositenflucht gestoppt wird.

Von Exporten ist kurzfristig keine rasante Steigerung zu erwarten, weil Griechenland (noch) nicht sehr viel zum Exportieren hat. Auch die Einkünfte aus dem Tourismus wird man nicht rasant steigern können, weil sie bereits hoch sind und weil Griechenland – objektiv betrachtet – auch hier nicht wirklich wettbewerbsfähig ist (der griechische Tourismus lebt vom Kult).

Somit verbleiben als letzte Stellschrauben nur mehr Importe und Depositenflucht, diese beiden stellen jedoch ganz große Stellschrauben dar. Importe müssen drastisch eingedämmt und soweit wie möglich mit Inlandsproduktionen substituiert werden. Und die Depositenflucht muss ganz einfach gestoppt werden.

Würde Griechenland Euroland verlassen und zur Drachme zurückkehren, dann würde all dies von selbst geschehen und zwar rasch: die neue Drachme würde 30-40% abwerten (mindestens!) und die Importe (und zwar alle Importe!) würden analog teurer werden. Kapitalflucht via Bankkonten gäbe es keine, weil dem Bankensektor die notwendigen Devisen fehlen würden. Ein Euro-Austritt – noch dazu ein ungeordneter – wäre jedoch das größte von allen Übeln. Außerdem würden die Finanzvermögen der Griechen über Nacht um 30-40% (oder mehr!) entwertet werden. Bye, bye sozialer Friede!

Lösungsansatz

Wenn ein Euro-Austritt das größte von allen Übeln ist und wenn Griechenland es mit der jetzigen Euro-Struktur nicht schaffen kann, dann muss Griechenland mit dem Euro – zumindest vorübergehend – eine Situation simulieren, als wäre es zur Drachme zurückgekehrt!

Vorübergehende Maßnahmen: Sonderabgaben auf Importe, die die Importe insgesamt um 30-40% verteuern (allerdings gestaffelt nach Priorität; z. B. 0% für lebenswichtige Güter und 100% für Luxusgüter); selektive Freihandelszonen, wo international wettbewerbsfähige Rahmenbedingungen geschaffen werden, damit neue Produktionen für Importsubstitution aufgebaut werden können; und Kapitalkontrollen.

Damit würde man EU-Verträge verletzen (freier Güter-/Kapitalverkehr), aber Verträge kann man – vor allem vorübergehend – ändern. Ein Notstand erfordert Notstandsgesetze. Es ist für die EU allemal vorteilhafter, vorübergehende Ausnahmeregeln zu bewilligen, damit sich Griechenland in eine wertschöpfende Wirtschaft entwickeln kann, statt Steuerzahlergeld nach Griechenland zu schicken, um eine Zombie-Wirtschaft am Leben zu erhalten.

Ein neues Investitionsgesetz im Verfassungsrang muss gemacht werden, das dem Investor alle jene international wettbewerbsfähigen Rahmenbedingungen zusichert, die er sich wünscht. Die EU sollte dieses Gesetz garantieren, damit die Investoren kein politisches Risiko tragen müssen (wirtschaftliches Risiko schon!).

Der Investor findet ein wirtschaftliches Nirwana vor: Er kann wettbewerbsfähig produzieren und er hat bereits einen Absatzmarkt. Und Sicherheit hat er auch.

Vermögende Griechen verfügen über geschätzte 3-stellige Mrd. EUR Beträge auf Bankkonten im Ausland. Das neue Investitionsgesetz muss darauf zielen, dass zumindest ein Teil dieser Gelder freiwillig nach Griechenland für Investitionen fließt. Griechen sind gute Geschäftsleute und erkennen Geschäftsmöglichkeiten rasch. Warum sollten vermögende Griechen im Ausland 2% verdienen wollen, wenn sie mit Investitionen in Griechenland bei gleicher Sicherheit ein Vielfaches davon verdienen könnten?

Warum selektive Freihandelszonen und nicht gleich das ganze Land? Weil man die ganze Wirtschaft eines Landes nicht auf einmal von A-Z umstrukturieren kann; das ergäbe eine Revolution. Stattdessen muss man hoffen, dass die Freihandelszonen gut funktionieren und dass im Zuge der Jahre die dortigen Rahmenbedingungen auf den Rest der Wirtschaft abfärben.

Oberste Priorität müsste sein, dass die Geschäftsgebarung in diesen Freihandelszonen absolut korrekt ist. Sollte sich auch dort das „griechische Wesen“ durchsetzen (Steuerhinterziehung, Korruption), dann müsste man das Projekt von Anfang an als gescheitert betrachten. Begleitmaßnahmen (anerkannte Wirtschaftsprüfer; möglicherweise sogar EU-Inspektionen) müssten gewährleisten, dass das griechische Wesen nicht Einzug halten kann.

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Das große Risiko bei Importkontrollen ist, dass dieser Schutz vom Inlandshersteller missbraucht wird. Angenommen, eine importierte Zahnpastatube kostet 1 EUR und die neuen Rahmenbedingungen in den Freihandelszonen ermöglichen es dem Investor, zu diesem Preis profitabel zu wirtschaften. Nehmen wir weiter an, dass die Sonderabgaben für importierte Zahnpastatuben vorübergehend mit 100% festgelegt werden, damit der Investor sein Geschäft aufbauen kann. Somit würde die importierte Zahnpastatube 2 EUR kosten. Die Gefahr ist, dass der gewitzte griechische Unternehmer dann seine Zahnpastatube um 1,99 EUR verkauft.

So kann das nicht funktionieren! Die Freihandelszonen haben zum Ziel, dass in Griechenland eine nachhaltige Inlandswertschöpfung aufgebaut werden kann. Sie sind nicht dazu da, dass ein gewitzter Unternehmer wettbewerbsfähig produzieren und zum doppelten Preis verkaufen kann. Die Benchmark muss immer der internationale Preis sein.

Schlussbemerkung

All das klingt stark nach Planwirtschaft, ist es aber nicht. Es hängt von der Gestaltung des Investitionsgesetzes ab, dass es keine Planwirtschaft wird. Wenn das Gesetz dem Investor ein interessantes Verhältnis Risiko/Ertrag gewährleistet, dann wird der Investor von selbst kommen.

Chile hatte Ende der 1970er Jahre gezeigt, dass ein gutes Investitionsgesetz eine vormalige kommunistische Planwirtschaft in kürzester Zeit zum „Darling“ von internationalen Investoren „drehen“ kann. Warum sollte das Griechenland nicht auch gelingen? Argentinien hat in den letzten Jahrzehnten mehrere Stabilitätspläne gemacht, die dann auch jeweils eine Zeit lang funktionierten. Auslandsvermögen kamen immer rasch ins Land zurück und beschleunigten die Erholung. Beim Auftauchen der ersten Wolken am Wirtschaftshimmel verflüchtigten sie sich wieder. Der „Trick“, den Griechenland schaffen muss, ist, dass die Auslandsvermögen der Griechen nachhaltig im Land bleiben.

Die Regierung muss dafür sorgen, dass zahlreiche Investitionsmöglichkeiten – mit Business Plänen – ausgeschrieben werden. Wenn von geschickter PR-Arbeit begleitet, könnte es sogar gelingen, dass ein „Run“ auf diese Investitionsmöglichkeiten entsteht (nach dem Motto: „treten wir ein, bevor die Türe wieder zugemacht wird“).

Das griechische Staatsschuldenproblem wurde hier bewusst nicht angesprochen, weil es im Vergleich das einfachere Problem ist. Das Staatsschuldenproblem kann man mit ein paar Hundert Leuten in einem Konferenzsaal lösen (solange sich alle einigen). Einen industriepolitischen Entwicklungsplan zu erarbeiten und erfolgreich umzusetzen, das erfordert die besten Köpfe nicht nur Griechenlands, sondern von ganz Europa.

Wenn es aber einmal einen industriepolitischen Entwicklungsplan gibt, dann ist das Staatsschuldenproblem wesentlich einfacher zu lösen, weil die Geldgeber die Hoffnung haben dürfen, dass es doch wieder Licht am Ende des Tunnels geben könnte.

Der Norden verliert langsam den Geduldsfaden mit dem Süden und möchte kein Geld mehr schicken. Der Norden muss sich jedoch bewusst werden, dass man den Kuchen nicht gleichzeitig anschauen und essen kann. Entweder der Norden unterstützt eine angemessene Verlagerung der Wertschöpfung in den Süden, damit sich dort eine eigenständige und selbsterhaltende Wirtschaft entwickeln kann oder der Norden wird auf Dauer Trans-ferzahlungen leisten müssen.

* Klaus Kastner ist Österreicher und war 40 Jahre lang als Banker in sechs verschiedenen Ländern tätig und er kennt Griechenland sehr gut.

Anmerkungen

[1] Siehe auch: Günther Lachmann, „Athen steuert auf Neuwahlen zu“, GEOLITICO vom 19.1.2014. Darin nimmt Lachmann die Entwicklungen des Jahres bereits vorweg.

[2] Günther Lachmann, „Grieche kündigt Euro-Austritt an“, GEOLITICO vom 28.12.2014

[3] Klaus Kastner, „Volkswirtschaftlicher Entwicklungsplan für Griechenland“, Observing Greece vom 12.9.2012

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Über Stefan L. Eichner

Als Ökonom beschäftigt sich Stefan L. Eichner seit 1990 mit den Themen: Europäische Integration, Wirtschafts- und Industriepolitik, Industrieökonomik und Wettbewerbstheorie. 2002 stellte er in einer Publikation eine neue Wettbewerbstheorie vort, die er "evolutorischer Wettbewerb" nennt. Kontakt: Webseite | Weitere Artikel

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