Gottes Diener sind Kapitalisten

Gott lässt den Kapitalismus zu, oder? Also verüben US-Unternehmen Job-Massaker und gehen auf Lobby-Kreuzzüge. Und die EU ist nur einen Schritt vom Kollaps entfernt.

Die Welt hängt am Kliff, und die Aktien schießen nach oben. So verkürzte das Wall Street Journal[1] am Wochenende die Lage auf diesem Planeten. Völlig daneben ist dieser Befund nicht. Im Irak rasseln auf die ISIS-Terroristen amerikanische Bomben nieder. Der Krieg im Gazastreifen ist alles andere als zu Ende. Vom südchinesischen Meer über Nordkorea bis zum Nahen Osten halten regionale Spannungen und Konflikte an.

Und am Freitag sauste der DOW über 180 Punkte nach oben, weil die Wall Street in Präsident Putins Kopf geschaut hat und zu dem Schluss kam, dass er keine Invasion im Osten der Ukraine plant. Aber das ist ja eine Lagebeurteilung, die man schnell über den Haufen werfen und falschen Signalen in die Schuhe schieben kann. Was kümmert uns die Diagnose von gestern?

Ein paar Händler und Banken wollten nach Tagen des Trübsals in New York einfach wieder mal einen dreistelligen Zuwachs sehen. Sonst haut es ja die ganze Quartals-Bilanz aus den Gleisen! – Die entsprechenden Nachrichten dafür sind ja schnell kreiert und verbreitet. Im Finanz-Orbit mit seinen angeschlossenen Verlautbarungs-Organen ist das erstens ganz leicht und zweitens bestens einstudiert.

Inflationierte Krisenherde und gelähmte Politik

Immerhin ist es ja schon erstaunlich genug, dass sich ein Leib-und-Magenblatt der Kapitalmärkte Gedanken über diesen Spannungsbogen zwischen Konflikten und himmelstürmenden Börsenkursen am Freitag macht. Sobald heute die Börsen-Glöckchen für die neue Woche bimmeln ist das alter Tobak. Und der Osten der Ukraine könnte bereits überrannt sein.

Die Welt ist mittlerweile dank aufgepumpter Geldmengen, drastisch verschuldeter Staaten, inflationierter Krisenherde und gelähmter Politik so aus dem Ruder, dass neue Erklärungen her müssen. Die gewohnten Koordinaten-Systeme und Schemata passen nicht mehr. Und wer keine guten neuen Erklärungen findet, der beschwört halt dafür die alten Denkschablonen, Ideologien und Konzepte.

Forbes ist für diese Methode heute ein schönes Beispiel.[2] Dort wird in einem Beitrag geschildert, wie die Pastoren in den Gemeinden des frühen Amerika nicht nur die christliche Lehre ins Kirchenvolk trugen, sondern umgekehrt auch von den Gemeindemitgliedern lernten, wie herrlich der Kapitalismus funktioniert – und wie sie ihn lieben lernten.

Wirtschafts-Lehre mit Kanzel-Qualität

Das ganze klingt so, als wäre dieses verrottete System, dessen ungebremste Auswüchse uns an den Rand des Abgrunds gebracht haben – und seit 2008 hartnäckig dort festhalten – eigentlich ganz simpel. Und es würde selbst von den – Verzeihung – Pfaffen verstanden.

Wenn einer, der sich mehr mit Moses als mit den Monetaristen befasst hat, sich zum „wahren Glauben“ (Sicht der Wall Street) bekehren lässt, dann kann dieses ganze Gebilde mit seinem theoretischen Unterbau so falsch nicht sein. Anders gesagt: Wenn Gott es zulässt, dass seine Propheten und Botschafter bekennende Kapitalisten werden, dann hat diese Wirtschafts-Lehre Kanzel-Qualität und den Segen von ganz oben. Wie soll man das mit Fug und Recht angreifen?

Noch so eine fürchterliche Verdrehung von Ursache, Wirkung, Entstehung und neben-Effekt ist dieser Kommentar bei MarketWatch[3]: „Warum Steuer-Inversionen der Wirtschaft helfen und nicht schaden.“ Dieser furchtbar technokratische Ausdruck „Inversion“ beschreibt eine neue Mode an der Wall Street.Es sind Übernahmen europäischer Firmen durch amerikanische, damit die übernehmenden US-Firmen zum Zwecke der Steuervermeidung in Amerika die Zentrale aus dem Land verlegen können. Natürlich verleiht das einem Unternehmen mehr Firepower, wenn es ein anderes übernimmt, vorausgesetzt, dass die Übernahme nicht mit enormen Schulden finanziert wird, die man der Zielfirma aufs Auge drückt.

Job-Massaker und Lobby-Kreuzzüge

ABER: Viele US-Firmen die so etwas tun, wie diejenigen, die Gewinne im Ausland parken, geben den Banken in den USA die ausländischen Gewinne oder Beteiligungen als Sicherheit, um neue Kredite aufzunehmen. Die Kette, die daraus entsteht, sieht so aus: Man parke Gewinne im Ausland und entziehe sie so dem amerikanischen Fiskus. Der verliert Einnahmen, die bei der Finanzierung von Schulen, Krankenhäusern und Straßen fehlen, also – allgemein gesagt – bei der Produktion von jenem Nachwuchs, den die Firmen, die ihre Gewinne den USA vorenthalten, ja sehr gerne einstellen und als selbstverständlich nehmen.

Dann nehme man in den USA Bankkredite auf und stelle diese als Kosten in die Bilanz, um noch mehr Steuern zu sparen als man mit dem Outsourcing der Gewinne bereits gespart hat. Gewinn-Maximierung war gestern! Steuer-Minimierung, Job-Massaker und Lobby-Kreuzzüge sind heute.

Dabei nehmen Manager nicht nur das amerikanische Volk und den Fiskus aus, sie behandeln Unternehmen auch noch wie Geldautomaten, an denen man nicht nur altmodisch abhebt, sondern die man auspresst wie eine Zitrone, bis selbst Aktionäre, denen die Firma eigentlich gehört, sie nicht mehr wiedererkennen.

Übrigens: Der Kongress in den USA schiebt den als Übernahmen getarnten Steuervermeidungs-Komplotts keinen Riegel vor. Warum auch? Über die Hälfte der Abgeordneten in Washington sind Millionäre. Aus welchem Grunde sollte man denn auch ausgewachsenen Vorständen Steine in den goldenen Weg legen?

Scheinwelten der Propagandisten

Die wissen ja viel besser als der Staat, was sie tun. Das haben wir alle 2008 gesehen.

Und was am Ende passiert, wenn Propagandisten Scheinwelten viel zu weit von der Realität weg aufgestellt haben, das sehen wir derzeit an dem Stirnrunzeln in der EZB und in Berlin. Die deutschen Konjunktur-Indizes, zuletzt vor allem die Industrie-Orders für den Juni, machen eine scharfe Wende nach Süden.

Der Euro-Anker beginn zu wackeln. Mario Draghi weiß, dass Deutschland und die Euro-Zone nur einen externen Schock weit von einem scharfen Rückschlag in die Hochzeiten der Krise entfernt sind.

Im Telegraph wurde das am Wochenende von Ambrose Evans-Pritchard so auf den Punkt gebracht:[4]

„Die EZB ignoriert den Rat führender Ökonomen für eine Stärkung der Abwehrkräfte der Eurozone, bevor sie von einem externen Schock getroffen wird und bevor die US-Notenbank tatsächlich eine restriktivere Geldpolitik umsetzt und damit das gesamt System erschüttert.“

Bis Washington hört man das Vibrieren in der Erde unter der Euro-Zone. Im American Enterprise Institute wird in der neuesten Analyse daher die besorgte Frage gestellt, ob ein erneutes Aufflammen der Schuldenkrise auf der anderen Seite des Atlantiks den Rest der zweiten Amtszeit von Barack Obama vermasseln wird.[5] – Muss man diese Frage überhaupt noch stellen?

 

Anmerkungen

[1] Steven Russolillo, , „Why Stocks Are Up While the World Is on Edge“, The Wall Street Journal: http://blogs.wsj.com/moneybeat/2014/08/08/why-stocks-are-up-while-the-world-is-on-edge/

[2] Jerry Bowyer, „How Early American Pastors Learned To Embrace Capitalism By (Eventually) Listening To Their Members“, Forbes: http://www.forbes.com/sites/jerrybowyer/2014/08/06/how-early-american-pastors-learned-to-embrace-capitalism-by-eventually-listening-to-their-members/

[3] Diana Furchtgott-Roth, „Tax inversions help, not hurt the economy“, MarketWatch: http://www.marketwatch.com/story/tax-inversions-help-not-hurt-the-economy-2014-08-08

[4] Ambrose Evans-Pritchard, „Germany close to recession as ECB admits recovery is weak“, The Telegraph: http://www.telegraph.co.uk/finance/financialcrisis/11020183/Germany-close-to-recession-as-ECB-admits-recovery-is-weak.html

[5] James Pethokoukis, „Will a new eurozone debt crisis ruin the rest of Obama’s term?“, American Enterprise Institute: http://www.aei-ideas.org/2014/08/will-a-new-euro-zone-debt-crisis-ruin-the-rest-of-obamas-term/

 

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Über Markus Gaertner

Markus Gaertner war über viele Jahre freier Wirtschafts-Korrespondent mit Sitz in Vancouver. Heute arbeitet er für den Kopp-Verlag. Weitere Artikel

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