Diese teuflische Lust am Untergang

Wir sehen die Krise wie einen Krimi, der nie Wirklichkeit wird. Doch das Drohende ist real, das System am Ende. Von seinen Profiteuren haben wir nichts mehr zu erwarten.

Wir lieben Crash-Prophetien, Untergangsszenarien. Ganz besonders populär waren diese Szenarien, nachdem es im September 2008 zum größten Crash seit 1929 gekommen ist. Aber wir haben inzwischen zunehmend wieder das Interesse daran verloren, weil nichts dergleichen tatsächlich geschehen ist.

Das ist menschlich. Skandale und Chaos sind aufregender als Routine. Gute Nachrichten von den Märkten und der Wirtschaft sind nicht wirklich „sexy“. Die meisten interessieren sich nicht dafür und diejenigen, die sich dafür interessieren, finden gute Nachrichten nicht aufregend, sie geben uns keinen Kick – im Gegensatz etwa zur Fußball-WM.

Was uns alle aufregt, ist, wenn wir uns einem roten Bereich nähern, der große Gefahren signalisiert, wenn deswegen erst medial die Alarmglocken zu schrillen beginnen und dann infolgedessen allgemeine Aufregung herrscht. Wir verfolgen dann gebannt, ob und inwieweit Untergangsprognosen in der Realität Bestätigung finden und diskutieren intensiv, ob und unter welchen Umständen sie sich bestätigen könnten.

Der Crash als virtuelle Realität

Doch andererseits sind wir auch träge und passiv. Wir lieben unseren Trott, und wir glauben tief in unserem Innersten, dass sich im Wesentlichen doch nichts für uns ändern wird – jedenfalls nicht für uns selbst. Irgendwer wird es schon irgendwie richten, und wahrscheinlich kommt es sowieso nicht so schlimm. Es ist ja meistens so. Deswegen warten wir ab. Deswegen ändert sich auch nichts, oder besser gesagt, wir ändern nichts, das heißt, niemand sieht sich selbst zum Handeln, zu verändertem Verhalten veranlasst, um es nicht zum Schlimmsten kommen zu lassen.

Vielleicht ist das eine instinktive Reaktion. Vielleicht hat uns auch unsere heutige TV-Kultur derart stark geprägt, dass wir alles für eine lediglich virtuelle Realität halten, die sich hinter der Mattscheibe abspielt – jedenfalls so lange sie nicht zu uns ins Wohnzimmer kommt, was uns sehr überraschen würde. Wir sind engagierte Zuschauer. Das gilt für die Griechenland-Krise, die Euro-Krise und ebenso etwa auch für die Ukraine-Krise. China und Japan sind schon viel zu weit weg. Ob es da kriselt und wie sehr, das interessiert uns deswegen schon viel weniger.

Wir wollen uns nicht verändern

Und wie steht es mit Politik? Die interessiert uns so wenig wie kaum etwas anderes. Sie dringt durchs TV, durchs Internet und den Hörfunk in unsere Wohnungen, obwohl wir nichts davon hören wollen – und darum hören wir weg und lassen sie machen. Crash-Prognosen und Skandale geben unserem Leben als selbsterklärtem Zuschauer und Schiedsrichter die Würze. Wir sind engagierte Kritiker und Richter. Und wir sind Weltmeister im Verdrängen jeglichen Änderungsbedarfs, der bei uns selbst und mit eigenem Handeln beginnt.

Was draußen, außerhalb unseres engeren Lebens-umfeldes geschieht, nehmen wir de facto im günstigsten Fall als Unterhaltung, oft allerdings überhaupt nicht wahr. Wir wollen in unserem Lebensumfeld keine Veränderungen. Vor allem wollen wir uns selbst nicht verändern. Deswegen wehren wir uns mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln dagegen – und das letzte sowie zugleich scheinbar auch effektivste Mittel ist die Verdrängung.

Die drohende Gefahr

Im September 2008 gab es den größten Crash an den Finanzmärkten seit 1929 und in den dessen Folge die zweite globale Finanzmarkt- und Weltwirtschaftskrise. Jetzt, im Juni 2014, also fast sechs Jahre später, ist davon für viele – abgesehen von vielen in den aktuellen Krisenstaaten – nichts mehr zu spüren.

Doch jeder, der die Finanzmärkte und die globale Wirtschaft aufmerksam beobachtet, weiß, dass die Gefahr eines neuerlichen Crashs desselben oder eines noch größeren Kalibers definitiv nicht geringer geworden, die Fallhöhe inzwischen aber beträchtlich gestiegen ist. Mit anderen Worten könnte es bei einem neuerlichen Crash für die Finanzmärkte und die Weltwirtschaft viel weiter abwärts gehen als nach der Lehman-Pleite im September 2008. Niemand ist darauf wirklich vorbereitet oder weiß, wie ein solcher freier Fall zu stoppen wäre.

Dass es nach der Finanzmarktkrise und auch in der akuten Euro-Krise, die im Sommer 2012 endete, so lange gut und an den Börsen fast ununterbrochen immer weiter aufwärts ging, ist kein Beleg dafür, dass die Crashgefahren gebannt sind oder wirksam kontrolliert werden können. Denn die wichtigen Notenbanken haben einfach so viel billiges Geld in die Finanzmärkte gepumpt – und sie tun es immer noch –, dass es schwierig geworden ist, dafür noch rentierliche Anlagen zu finden.

In der Wirtschaft, die eigentlich von der Liquiditätsflut profitieren soll, kommt jedenfalls bis heute kaum etwas von diesem billigen Geld an. Die Folge davon: Kurse und Asset-Preise sind quer durch alle Anlageklassen gestiegen und steigen entweder weiter oder stagnieren auf einem historisch hohen Niveau.

Wankende Immobilienmärkte

Das ist eine Tatsache. Eine Blasenbildung oder vornehmer ausgedrückt „Übertreibungen der Märkte“ will darin – von wenigen Ausnahmen abgesehen[1] – trotzdem niemand sehen.[2] Die Notenbanker nicht, weil sie weiter an den „Erfolg“ ihrer Geldpolitik glauben wollen, die Banker, Investoren und Anleger nicht, weil sie weiter gut verdienen wollen und die Politiker nicht, weil wirksame vorbeugende Maßnahmen sie politisch teurer zu stehen kämen als weiterzumachen wie bisher und im Ernstfall einfach hinterher die Scherben zusammenzukehren.

Niemand will, dass die Musik zu spielen aufhört, zu der sie alle tanzen. Es ist schlicht Business. Klar, es ist ein abgegriffenes Bild, aber die Möglichkeit, dass sich die Flut nur deswegen zurückgezogen hat, weil sich ein Tsunami aufbaut, mag niemand gerne in Betracht ziehen.

Und so verwundert es auch nicht weiter, dass sich die Immobilienmärkte beispielsweise in den Niederlanden[3], Schweden[4] [5], Großbritannien[6] [7]sowie insbesondere auch in China[8]   [9] schon länger im „roten Bereich“ befinden – sofern man diesen an den Zahlen und der zunehmenden Zahl der ausgesprochenen Warnungen festmacht. Oder dass der Derivatemarkt, also der Markt für Wettgeschäfte im Finanzsektor, der nur von wenigen großen Banken dominiert wird, wieder ein neues Rekordvolumen von nominal über 710.000 Milliarden Dollar erreicht hat.[10] Das entspricht rein betragsmäßig etwa dem zehnfachen der globalen Wirtschaftsleistung. Und es verwundert deswegen auch nicht, dass trotz allem die Schulden – nicht nur die Staatsschulden – weiter und scheinbar unaufhörlich steigen, während das Wirtschaftswachstum in den Industriestaaten weiter schwach geblieben ist, auch wenn es in Einzelfällen, etwa Großbritannien, ein wenig aufwärts zu gehen scheint.

Frankreich ist der nächste Kandidat

Die akute Euro-Krise begann in Griechenland, erfasste dann Portugal sowie anschließend die viert- und die drittgrößte Volkswirtschaft der Euro-Zone, nämlich Spanien und Italien. Eine weitere Ausbreitung – sie war von Politikern und Notenbankern zuvor für unmöglich erklärt und dann hektisch bekämpft worden – wurde im Sommer 2012 letztlich allein durch die EZB gestoppt, genauer gesagt durch das Versprechen der EZB, alles für den Erhalt des Euro zu tun. Die EZB hatte damit alle Wetten gegen den Euro platzen lassen. Der nächste Krisenkandidat wäre damals wahrscheinlich Frankreich gewesen, also die zweitgrößte Volkswirtschaft der Euro-Zone. Allerdings hat die EZB damit die Probleme nicht beheben können, sondern den politischen Akteuren lediglich Zeit verschafft.

Jetzt, zwei Jahre später, sieht es in den Krisenstaaten immer noch nicht wirklich besser aus, weswegen die EZB erneut massiv eingreift. Und Frankreich ist wirtschaftlich, finanziell und politisch sowieso stärker angeschlagen als je zuvor. Es ist der gefährlichste Wackelkandidat Europas, und dort könnte die akute Euro-Krise ihre Fortsetzung finden – vielleicht eingeleitet durch einen politischen Umbruch in Griechenland, eine Immobilienkrise in den Niederlanden oder Großbritannien.

Vielleicht sind aber auch soziale Unruhen und eine Krise der Kommunistischen Partei in China der Auslöser. Vielleicht fällt der Dominostein Frankreich auch deswegen, weil die Märkte die Abenomics des japanischen Premiers für gescheitert ansehen oder „plötzlich“ ein Weltkonzern in Schieflage gerät und dies als Zeichen für weitreichende, ungelöste wirtschaftliche Probleme gewertet wird, die wieder hervorbrechen. Wie sehr belastet beispielsweise die nicht enden wollende Serie kostspieliger Rückrufaktionen den US-Automobilhersteller General Motors? Wie krisenanfällig sind überhaupt die global operierenden Konzerne?

Grenze der Leistungsfähigkeit

Keine Frage: Wir leben in einer hochgradig oligopolisierten, vernetzten und interdependenten Wirtschafts- und Finanzwelt. Das ist in wirtschaftlich guten Zeiten von Vorteil, stellt aber in Krisenzeiten wegen der hohen Verwundbarkeit des Gesamtsystems einen gewaltigen Nachteil dar. Genau das erklärt die tiefgreifenden und weitreichenden sowie vor allem sehr rasch eintretenden Konsequenzen der Lehman-Pleite für die globalen Finanzmärkte und die Weltwirtschaft. So hoch, wie die Verwundbarkeit des Gesamtsystems heute gegenüber einzelnen, punktuell eintretenden Ereignissen ist, war sie niemals zuvor. Und vor allen Dingen: Es ist längst an der Grenze seiner Leistungsfähigkeit angelangt. Stellen Sie sich dieses System als einen hochgezüchteten, leistungsstarken Motor vor, der am absoluten Limit gefahren wird. Wie lange hält er das wohl aus?

Interessiert das alles überhaupt jemanden? Nein!?

Für eine Antwort schauen Sie im Internet einmal nach den Einschaltquoten der Spiele der Fußball-WM in Brasilien. Dann wissen Sie auch, warum sich die Bundeskanzlerin und eine Reihe von Abgeordneten in den Flieger setzten, um beim ersten Spiel der deutschen Nationalmannschaft Präsenz zu zeigen.

Für Veränderung gibt es keine Lobby

Eines scheint sicher: Es wird auch künftig niemanden geben, keine Regierung, keine Institution und schon gar keine Einzelperson, die rechtzeitig die Notbremse zieht. Im Gegenteil freuen sich alle und gerade auch die Regierungen darüber, dass Ihnen die Fußballweltmeisterschaft vier Wochen Ruhe an dieser Front beschert.

Und danach?

Danach wird weiter gewurschtelt in der Hoffnung, dass es noch eine Weile weiter gut geht und man irgendwie über die Runden kommt. Die EZB wird’s schon richten. Gibt es daran etwas zu bedauern? Nein, denn im Grunde wollen es alle so. Verdrängen, bis es nicht mehr geht und dann Überraschung und Ahnungslosigkeit heucheln.

Wann ändert sich etwas daran? Wenn es keine Möglichkeit mehr gibt, die bestehende Form des Finanzmarkt- und Wirtschaftssystems zumindest so weit am Leben und funktionstüchtig zu erhalten, dass man damit noch Geld verdienen und politisch erfolgreich sein kann. Niemand, der Profiteur dieses Systems ist, interessiert sich dafür wie sehr dadurch der Schaden vergrößert wird, der am – möglicherweise abrupten – Ende, wenn die Musik zu spielen aufhört, eintritt. Denn mit dem Aufräumen werden sie dann sowieso nichts mehr zu tun haben. Das müssen andere machen.

 

Anmerkungen:

[1] Forbes, „Why Singapore’s Economy Is Heading For An Iceland-Style Meltdown“: http://www.forbes.com/sites/jessecolombo/2014/01/13/why-singapores-economy-is-heading-for-an-iceland-style-meltdown/

[2] Forbes, „It’s Not A Bubble Until It’s Officially Denied, Singapore Edition“: http://www.forbes.com/sites/jessecolombo/2014/01/16/its-not-a-bubble-until-its-officially-denied-singapore-edition/

[3] Querschüsse, „Niederlande: Immobilienmarkt weiter schwach“: http://www.querschuesse.de/niederlande-immobilienmarkt-weiter-schwach/

[4] Real World Economics Review Blog, „Shiller’s and Roubini’s fears of Swedish housing bubble are justified“: http://rwer.wordpress.com/2013/12/09/shillers-and-roubinis-fears-of-swedish-housing-bubble-are-justified/

[5] DWN, „ „IWF: Sorge um finanzielle Stabilität in Schweden“: http://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/2014/06/13/iwf-sorge-um-finanzielle-stabilitaet-in-schweden/

[6] The Telegraph, „Bubble fears as house prices jump most in four years“: http://www.telegraph.co.uk/finance/economics/10548381/Bubble-fears-as-house-prices-jump-most-in-four-years.html

[7] Querschüsse, „UK: Allzeithochs bei den Immobilienpreisen“: http://www.querschuesse.de/uk-allzeithochs-bei-den-immobilienpreisen/

[8] The Wall Street Journal, „Platzt Chinas Immobilienblase?“: http://www.wsj.de/article/SB10001424052702304610404579403240931162838.html

[9] Bloomberg, „China No-Money-Down Housing Echoes U.S. Subprime Loan Risks“: http://www.bloomberg.com/news/2014-06-12/china-s-no-money-down-housing-echoes-u-s-subprime-lending-risks.html

[10] Querschüsse, „Nominales OTC-Derivatevolumen bei 710,182 Billionen Dollar“: http://www.querschuesse.de/nominales-otc-derivatevolumen-bei-710182-billionen-dollar/

 

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Über Stefan L. Eichner

Als Ökonom beschäftigt sich Stefan L. Eichner seit 1990 mit den Themen: Europäische Integration, Wirtschafts- und Industriepolitik, Industrieökonomik und Wettbewerbstheorie. 2002 stellte er in einer Publikation eine neue Wettbewerbstheorie vort, die er "evolutorischer Wettbewerb" nennt. Kontakt: Webseite | Weitere Artikel

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