Schlummernde revolutionäre Illusion

Vor 40 Jahren befreite sich Portugal von der Diktatur. Nun lässt die Unzufriedenheit mit der EU Träume vom Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus wieder erwachen.

Heute vor genau vierzig Jahren, also am 25. April 1974, organisierte eine Gruppe von Offizieren der portugiesischen Armee einen Militärputsch, der die demokratische Revolution auslöste. Wir sprechen heute oft von der „Nelkenrevolution“, weil einige Frauen  Nelken in die Gewhrläufe steckten. Unter dem ehemaligen Regime hatte sich der Unmut wie in einem Schnellkochtopf aufgestaut, der nicht mehr in der Lage war,  auch nur etwas Hitze abzulassen. Es war unmöglich den Kolonialkrieg zu gewinnen, bei dem mehr als 600 Soldaten jährlich starben. Das Regime hatte keine politische Lösung für die afrikanischen Territorien, die für ihre Unabhängigkeit kämpften. In den 13 Jahren Krieg wurden 800.000 Männer eingezogen. Portugal war isoliert und rückständig. Die Freiheit, die wir jetzt für selbstverständlich halten, war nicht vorhanden. Die Gesellschaft war äußerst konservativ und extrem ungleich; und ein großer Teil der Bevölkerung lebte in Armut.

Es gibt nicht viele Länder in Europa, die in 40 Jahren so viel Veränderung durchlebt haben. Jetzt ist die portugiesische Gesellschaft wirklich liberal. Zum Beispiel gibt es große Toleranz gegenüber anderen Rassen oder gegenüber Homosexuellen. Die Frauen haben erheblich mehr Rechte erhalten, und die Einkommensunterschiede sind sehr viel geringer. Im Jahr 1974 starben noch 38 von tausend Kindern, bevor sie ein Jahr alt waren; jetzt liegt die Säuglingssterblichkeit bei 3,4 Promille. Das ist eine der niedrigsten Raten in Europa. 1974 gab es nur in der Hälfte der Häuser fließendes Wasser, jetzt sind es 99 Prozent. 1974 konnte einer von vier Portugiesen weder Leser noch Schreiben, was schon viel besser was als 1960, als die Rate bei 40 Prozent lag; heute  sind es nur noch 5 Prozent. Das Pro-Kopf-Einkommen hat sich in den letzten 40 Jahren verdoppelt. Aber das größte Geschenk der April-Offiziere war die politische Freiheit.

Dieses Land ist keine Kolonialmacht mit großer Armee mehr, sondern eine parlamentarische Demokratie mit Meinungsfreiheit. Es ist nicht immer leicht, den Wert dieser einfachen Tatsache zu erkennen, weil die Menschen keine klare Erinnerung mehr daran haben, wie es wahr: die Zensur in den Zeitungen, oder dass die Polizei bereits gewaltsam dazwischenging, weil sie eine Gefahr für das Regime vermutete, wenn vier Freunde auf der Straßen zusammenstanden und über aktuelle Themen sprachen.

Die Mythologie

In Portugal gibt es mit Blick auf  das alte Regime keine Nostalgie. Allerdings gibt es einige Linke, die denken, dass die Revolution letztlich betrogen worden sei. Und einige Rechte können den Militärs das abrupte Ende des Reiches bis heute nicht verzeihen. Damals kamen eine halbe Million Flüchtlinge  aus dem ehemaligen Kolonien nach Portugal, die meisten von ihnen mittellos.

Tatsächlich begann im April eine sehr gefährliche Phase politischer Instabilität. Ein Bürgerkrieg konnte nur knapp vermieden werden, als die kommunistische Partei versuchte, die Macht zu ergreifen. Im November 1975, ebenfalls am 25., gab es einen zweiten Militärputsch und die gewinnenden Streitkräfte stabilisierten die Situation. Dabei muss beachtet werden, dass es noch immer sehr schwer ist, über diesen Teil unserer Geschichte ohne Mythologie und Gefühl zu sprechen. In der Literatur und in den Medien wird noch immer von einer flauschigen Nelkenrevolution geredet. Es war aber viel mehr als nur das, es ging um extreme Gewalt in den ehemaligen Kolonien und einen schnellen Wechsel zu Hause.

Mit der neuen Verfassung (1976) war das demokratische Portugal kein isoliertes Land mehr und trat im Januar 1986 nach langen Verhandlungen, die bereits 1977 begonnen hatten, der EU bei. Die darauf folgende wirtschaftliche Entwicklung wurde weitgehend von den reichen Europäern mit jährlich durchschnittlich 3 Prozent ihres BIP finanziert. Bis 2008 gab es noch große Zustimmung für die europäische Integration,  obwohl die offizielle, historische Sicht diesen tiefgreifenden Wandel mit den Auswirkungen der April-Revolution erklärt, und nicht so sehr mit den europäischen Subventionen und Gesetzen.

Die verblassenden Vorteile

Nach der Finanzkrise 2008 veränderte sich alles zum Schlechteren. Das Sparprogramm veränderte die Stimmung. Den Portugiesen waren die Vorteile der Integration nicht mehr ganz klar. Bei den Europawahlen wird das Lager der Nichtwähler so groß sein wie nie zuvor. Und die politischen Kampagnen befassen sich mit keinem einzigen europäischen Aspekt. Die Troika (IWF , Europäische Kommission, Zentralbank) wird das Land schon bald nach der Wahl verlassen. Doch die ausländische Intervention hinterlässt eine Spur von Unzufriedenheit, und es  ist noch immer schwierig, die offensichtliche Dummheit einiger Entscheidungen zu verstehen.

Ein Beispiel ist die Zurückhaltung einiger Ländern (Finnland, Österreich) hinsichtlich der  Vorsorgemaßnahmen für eine reibungslose Rückkehr Portugals an die Finanzmärkte. Das Land wird wahrscheinlich gezwungen sein, eine saubere Ausfahrt zu finden. So wie Irland. Doch das kommt dem Verusch gleich, einen Zirkus-Stunt ohne Sicherheitsnetz zu üben. Sollte also etwas schiefgehen, dann wird es katastrophal für Portugal und ziemlich teuer für Finnland und Österreich sein.

Wir könnten es nachvollziehen, wenn es eine Strafe für schlechtes Verhalten wäre. Es ist aber eine Strafe für gutes Verhalten. Portugal hat viel geopfert durch die harten Reformen der letzten drei Jahre. Es gab einen großen Verlust an Arbeitsplätzen, Einkommenskürzungen, Steuererhöhungen, Emigration und Zwangsvollstreckungen. Mit den hohen Schulden und dem Fiskalpakt wurde nach immer mehr Opfern gefragt, aber der Grad der Geduld ist viel schmaler.

Bis jetzt hielt unsere Gesellschaft zusammen und ist noch nicht in die Radikalität abgerutscht. Auch sollte uns unsere Geschichte vor Selbstüberschätzung warnen, denn politischer Radikalismus ist eine normale Reaktion auf zu viel Druck. Die ehemalige Begeisterung für Europa in Portugal ist verblasst. Die ehemaligen revolutionären Illusionen eines populistischen Regimes zwischen Kapitalismus und Sozialismus sind noch nicht ganz verschwunden, sie befinden sich lediglich im Ruhezustand. Bereit, um mit aller Macht geweckt zu werden.

Übersetzung: Anne Lachmann

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Über Luis Naves

Luis Naves ist Journalist und Schriftsteller. Er lebt und arbeitet in Lissabon. Kontakt: Webseite | Weitere Artikel

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