Snowden demaskiert Europa als politischen Zwerg

Sie debattieren über freien Handel: Wer aber hätte gedacht, dass es einem einzigen milchgesichtigen Mann zukommen würde, der Welt zeigen, wie es tatsächlich um die Freiheitsrechte in Europa bestellt ist.

Das Flugzeug des bolivianischen Regierungschefs Evo Morales wurde in der Nacht auf dem Rückflug von Moskau in Wien zur Landung gezwungen. Boliviens Außenminister David Choquehuanca erklärte in La Paz, der Grund dafür seien Gerüchte gewesen, der von den USA gesuchte Edward Snowden befände sich an Bord der Maschine.

WikiLeaks hatte die 21 Namen jener Länder bekanntgegeben, in denen Edward Snowden Asylanträge gestellt hat – vom Moskauer Flughafen aus, wo er sich offenbar noch immer aufhält. Bolivien gehört dazu, ebenso Venezuela, Brasilien, Indien und China sowie vor allem auch eine Reihe von Staaten der Europäischen Union, nämlich:

Frankreich, Deutschland, Finnland, Italien, Irland, die Niederlande, Norwegen, Österreich, Polen und Spanien.

Doch in den meisten Ländern sieht das Recht vor, dass sich ein Flüchtling im jeweiligen Land aufhalten muss, um Asyl beantragen zu können. Darauf haben sich bisher alle betroffenen europäischen Länder berufen, auch Deutschland, und den Antrag Snowdens abgelehnt. Es wurde dabei implizit oder durchaus auch explizit, z. B. seitens der österreichischen Regierung darauf hingewiesen, dass der Antrag lediglich aus formalen Gründen, nicht aber grundsätzlich abgelehnt worden sei. So hatte die österreichische Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) am 2. Juli die an sie gerichtete Frage verneint, ob Österreich Snowden abschieben würde, sollte er ins Land einreisen. Ihre Begründung: „Es liegt kein internationaler Haftbefehl vor.“

Regierungen verschleiern ihre Rolle

Nach dem Vorfall mit der Maschine von Evo Morales darf nunmehr ernstlich bezweifelt werden, ob Snowden in irgendeinem der europäischen Länder, in denen er per Fax Asyl beantragt hatte, Asyl bekäme, wenn er sich auf Landesboden befände – und das wirft die Frage auf, worum es bei dem Enthüllungsskandal inzwischen eigentlich wirklich geht.

Denn in den letzten Tagen hatten sich führende Politiker in Europa über die Abhöraktivitäten der amerikanischen National Security Agency (NSA) und – interessanterweise sehr viel weniger – jene des britischen Geheimdienstes Government Communication Headquarters (GCHQ) empört und Aufklärung von der britischen und der US-Regierung verlangt. Edward Snowden hatte diese Informationen an die Presse gegeben, die all das auslösten.

Doch jetzt verschleiern die Regierungen – offenbar– nicht nur die Rolle, die sie selbst aufgrund von entsprechenden Abkommen schon seit langem bei der Datenüberwachung der NSA überall in Europa spielen. Vielmehr sieht es beinahe auch so aus, als versuchten sie von der Frage abzulenken, in welchem Umfang sie Abhöraktivitäten in Europa zulassen und ob die Grenzen, die dabei gezogen werden, nicht möglicherweise de facto durch den 2008 erheblich gelockerten US-amerikanischen Foreign Intelligence Surveillance Act (FSIA) gezogen werden, auf dessen Grundlage die NSA operiert.

Edward Snowden / Quelle: Wikipedia/ Screenshot aus einer Produktion von Praxis Films von Laura Poitras

Edward Snowden / Quelle: Wikipedia/ Screenshot aus einer Produktion von Praxis Films von Laura Poitras

Zur Erinnerung: Edward Snowden hat seine Enthüllungen damit begründet, dass die Abhöraktivitäten, die eben dieser FISA-Act von 2008 den amerikanischen Geheimdiensten ermöglicht, die verfassungsrechtlich verbrieften Freiheitsrechte der Amerikaner praktisch aushebeln.

Mut- und Machtprobe

Wie ist es also um die Freiheitsrechte in den europäischen Staaten tatsächlich bestellt?

Verstecken sich die Regierungen europäischer Mitgliedstaaten jetzt bei der Ablehnung des Asyl-Anträge Snowdens nur hinter formalen Kriterien, um möglicherweise nicht zugeben zu müssen, dass sie die Anwendung des FISA-Act von 2008 auf ihrem Territorium nicht in Frage stellen wollen oder praktisch nicht in Frage zu stellen vermögen, etwa aus rechtlichen, politischen oder wirtschaftlichen Gründen? Dann darf nach der erzwungenen Landung des Flugzeuges des bolivianischen Regierungschefs Morales auf europäischem Boden als nahezu ausgeschlossen gelten, dass Snowden in irgendeinem einem EU-Mitgliedstaat tatsächlich Asyl gewährt werden würde, selbst wenn er sich dort persönlich einfinden sollte.

Damit ist aus dem Fall Edward Snowden, der als Enthüllungsskandal begann, eine politische Mut- und vor allem Machtprobe geworden. Sie geht so: Welche Regierung kann es sich leisten, Snowden Asyl zu gewähren und so die Regierung der Vereinigten Staaten herauszufordern oder, was aufs Gleiche herauskäme, Snowdens Enthüllungen aufzugreifen, um die Handlungsfreiräume, die sich die USA im Ausland geschaffen haben einzuschränken?

Protektionistische Welt

Die seit Jahren anhaltende wirtschaftliche Schwäche, die weiter schwelenden Schuldenprobleme und das nicht wegzudiskutierende Risiko einer neuerlichen Finanzmarktkrise haben viele Regierungen und das ganze politische System in vielen Ländern und vor allem auch in vielen Industrieländern geschwächt. Das gesamte globale wirtschaftliche und politische Gefüge ist davon nicht nur betroffen, sondern infolgedessen sukzessive immer stärker unter Druck geraten. Es gibt, entgegen den offiziellen Verlautbarungen von Regierungen, längst deutliche protektionistische Tendenzen. Das ist auch keineswegs überraschend. Denn in einer Welt, die nicht mehr reichliches Wachstum zu verteilen hat, sondern verstärkt Einbußen und Verluste, zählt am Ende nur mehr der blanke nationale Egoismus. Für die einen bedeutet das, den Status Quo mit Zähnen und Klauen zu verteidigen, z.B. für die USA. Für die anderen erwächst daraus hingegen die Chance, etwas hinzu zu gewinnen, z.B. für China.

Unter diesem „Kessel“ züngeln jetzt die Flammen der Enthüllungen Snowdens. Europa mag es noch nicht wahrgenommen haben, aber Edward Snowdens jüngste Enthüllungen haben die europäischen Regierungen unfreiwillig und unvermittelt in eine Situation gebracht, in der sie entscheiden müssen, zu welcher der beiden genannten Gruppen von Staaten sie gehören wollen.

Europa den Spiegel vorhalten

Dass sich europäische Politiker nun einerseits über die Abhöraktivitäten der USA empören, andererseits jedoch Snowden de facto für seine Enthüllungen verurteilen, zeigt ihre Ambivalenz in Beantwortung dieser Frage und deutet darauf hin, dass sie sich allzu sehr in der Vorstellung eingerichtet hatten, sie niemals beantworten zu müssen. Doch jetzt heißt es plötzlich: Was hat Europa zu verlieren, was kann es gewinnen? Vor allem aber: Kann es überhaupt gewinnen?

Die letztgenannte Frage ist die entscheidende Frage, weil es die nach dem Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein Europas als Weltregion ist und eben nicht die nach der effektiven Stärke als Wirtschaftsregion.

Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet ein junger, milchgesichtiger Mann Europa einmal den Spiegel vorhalten und es dazu zwingen würde, sich selbst und seine wahre Stärke zu erkennen? Und was sieht nun dieses „Europa“, wenn es sich heute in diesem Spiegel anschaut?

China hat sich vorerst nicht auf eine Machtprobe eingelassen, sondern Snowden sehr geschickt freien Abzug nach Moskau gewährt. Russlands Premier Putin scheint die Bälle noch in der Luft zu halten. Europas Regierungspolitiker aber haben sie bereits auf den Boden fallen lassen. Aus dem Scheider sind sie damit trotzdem noch nicht. Denn die Enthüllungsaffäre hat für Europas Regierungen möglicherweise gerade erst begonnen.

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Über Stefan L. Eichner

Als Ökonom beschäftigt sich Stefan L. Eichner seit 1990 mit den Themen: Europäische Integration, Wirtschafts- und Industriepolitik, Industrieökonomik und Wettbewerbstheorie. 2002 stellte er in einer Publikation eine neue Wettbewerbstheorie vort, die er "evolutorischer Wettbewerb" nennt. Kontakt: Webseite | Weitere Artikel

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