Das Versagen der Europäer

Europa macht unzufrieden; aber es sind die Europäer mitsamt ihrer europäischen Kultur, die enttäuschen. Weil sie den jahrhundertelangen Blutrausch um Macht und Geld beschönigen und die Macht heute den Fremdenlegionären der Globalisierung überlassen.

Es gibt viele Gründe für die Unzufriedenheit mit diesem EU-Europa und den Europäern. Drei davon sollen hier ein bisschen breiter behandelt werden, es gibt weit mehr. Und das ist jetzt keine wissenschaftlich-objektiv entzerrte (oder verzerrte) Thematisierung, sondern ein kleiner individueller Essay, geboren aus Enttäuschung und verlorenen Hoffnungen.

1. Das Weiterbestehen der fatalen Europäischen Geschichtsschreibung

Egal ob im Geschichtsunterricht in den Schulen, in Büchern und in den immer flacher werdenden Zeitungs-Beiträgen[i], oder in den vielen Fernsehsendungen, die sich – in nachkriegsdeutschem Bildungsbestreben – mit geschichtlichen Themen beschäftigen: Nahezu immer stehen die europäischen Gebieter, Könige, Fürsten, Diktatoren im Zentrum. Die Länder und Herrscher, Staaten und Dynastien geraten in eins, sie rinnen zusammen,  Herrschernamen und die Jahreszahlen der Schlachten sind die Wegemarken dieses herkömmlichen und weiter gepflegten Geschichtsverständnisses. Immer ging und geht es dabei um die Exzesse dieser Herrscher und ihrer machtversessenen Klüngel, aber ohne dass das auch beim Namen genannt wird.

Man braucht sich nur als ein Beispiel das Jahr 1866 mit der Massenabschlachtung bei Königgrätz auf Wikipedia[ii] ansehen. „Den Anlass zum Krieg gab der Konflikt um den Besitz der von Österreich und Preußen gemeinsam verwalteten Gebiete Schleswig und Holstein im Anschluss an den deutsch-dänischen Krieg“ heißt es da ganz sachlich und damit stets schöngeredet; Österreich ist das Stellvertretungswort für den Massenmörder Kaiser Franz Joseph, und Preußen für den König Wilhelm I.

Die Massenmörder

Nirgendwo steht, daß diese Massenmörder ihre Völker in einem fort grauenhaft haben abschlachten lassen. Niemand sagt, daß diese Herrscher im eigentlichen Wortsinn hundertausendfache Mörder, Raubmörder waren, die sich überhaupt nicht um die Schicksale ihrer Mitmenschen geschert haben. Schlachtvieh waren unsere Ururgroßväter, Menschenmaterial, das man hämisch, zynisch eingesetzt hat. Mitsamt den Schicksalen ihrer Eltern, Frauen und Kinder.

Bis heute korrigiert niemand dieses In-Eins-Setzen von Staaten und Völkern mit ihren Tyrannen, immer noch heißt es: Preußen wollte mit Österreich dies und jenes militärisch klären, oder umgekehrt. Keiner spricht die Wahrheit aus: Diese skrupellosen, gierigen Mördercliquen in Preußen oder Österreich haben ihre Völker immer wieder vernichtet und ganz blutig für ihre schmallippigen Neurotizismen und Machtgelüste geopfert, niemand hat ihnen, diesen Mördern, denen es nur um Macht und Erhalt von Luxus ging, das Handwerk gelegt. Verbrecher, Aristokraten-Gesindel, die heute noch immer staatstragend gehuldigt werden, als hätten sie im Namen einer höheren Macht so, genauso und nicht anders handeln müssen und das mußte schicksalhaft oder gottgewollt eben alles so sein.

Bild: Karl Kollmann

Bild: Karl Kollmann

Skelettierte Geschichte

Das ist die skelettierte Europäische Geschichte, der Skandal ihrer immer gleichen Erzählung und das vergangenheitsgleichgültige, indolente Leben der 500 Millionen auf diesem Erdteil. Ein mörderisches Abschlachten von Millionen und Millionen Menschen, das sich über Jahrhunderte hingezogen hat. Angefangen von Karl dem sogenannten Großen bis hin zum Faschismus mitsamt aller ihrer unzähligen Schergen, Mitnicker, Mitläufer, Hetzer und Blockwarte. Diese Blutgeschichte ist den Europäern gleichgültig, sie läßt sie gefühlskalt sich zurücklehnen.

Erst mit Hitler und Stalin setzt das Grausen vor der Massenvernichtung ein, aber die Jahrhunderte davor bleibt die blutige Geschichte staatstragend, abscheulos, und zu unser aller Identität empfohlen. Das Militär, das Kriegführen, das massenhafte Abschlachten von Menschen bleibt legitim, selbstverständlich, stets von der Aura des Ruhmreichen, des Alternativlosen umweht. Die exzessive deutsche Fernsehaufarbeitung des Naziterrors ändert auch nichts daran. Selbst in der ZDF-Serie „Die Deutschen“ (Produktion 2008 und später) ist der jahrhundertelange Massenmord im Interesse der Machtcliquen nur ein selbstvergessenes Achselzucken.
Allein schon aus diesem traditionellen, aber wahnwitzigen Geschichtsdenken heraus, machen sich die Europäer obsolet. Es hat sich, außer in Nuancen bis heute nichts geändert. Ein diplomatischer Militäreinsatz in Afghanistan, geschämige Unterstützung in Libyen oder in Mali – Herrschaften ordnen an, Tote kommen im Sarg per Flugfracht zurück, die ausländischen Toten sieht man nicht. Die Staatsräson schickt nach wie vor ihre Untertanen – mittlerweile gut bezahlt und auf deren Ehrgeiz setzend – in neue Schlachtfelder. Moderner halt als vor 150, 100, 75, oder wenn man an den Balkan denkt, vor einem Dutzend Jahren. Europa hat keine Kriege verhindert.

2. Die falsche Demokratie

Der Staatenbund, der sich Europäische Union nennt, reklamiert für sich, das heißt, die Funktionäre reklamieren für sich, demokratisch, die Ultima ratio von Kultur zu sein – und alternativenlos. Und da gibt es ein Europäisches Parlament, in dem die Lobbyisten drängeln, auch teilweise selbst drinn sitzen, Vielflieger-Abgeordnete, die vor lauter Arroganz und Selbstgefälligkeit jedes Model in den Schatten stellen können, eine Europäische Kommission, die eine Unmenge schön in Szene gesetzter Hearings anberaumt, wo dann aber Diskussionen regelmäßig ganz schnell abgewürgt werden, weil so wenig Zeit geblieben ist. Es geht dabei nur um den Anschein, um die Wirkung, nicht um Inhalte. Dazu gehören auch die vielen Beamten, die zwar eloquent mehrsprachig parlieren können, aber eben nur Phrasen und neoliberale Binsenweisheiten wiederholen und schönreden.

Das ist das Ergebnis eines schon längst in eine – zugegeben sanfte (Enzensberger[iii])  Diktatur entrückten Staatenbundes, der aus rigid-repräsentativen Demokratien besteht, in denen die Wähler alle paar Jahre darüber abstimmen dürfen, welche von den nationalen Parteien sie für das kleinere Übel halten.

 

Bild: Karl Kollmann

Bild: Karl Kollmann

Die EU-Monarchien

Übrigens, mehr als ein Viertel der EU-Staaten sind im 21. Jahrhundert immer noch Monarchien. Belgien, Dänemark, Großbritannien, Holland, Luxembourg, Schweden, Spanien. Die haben noch bis heute ein auf Volkskosten ausgehaltenes Königshaus, ein adeliges Schmierentheater mit Hofzeremoniell und Luxus sondergleichen, bezahlt von den Bürgern, den Untertanen. Diese Länder sollen als Demokratien durchgehen? Das soll die Wirklichkeit zweieinviertel Jahrhunderte nach der französischen Revolution sein?

Klar, stimmt schon, viele Menschen lieben oder verehren ihre Monarchen und deren Luxusleben, für das sie offenbar gern bezahlen, und viele kaufen sich auch noch die Glamourmagazine, die über die Gemütsregungen dieser Hoheiten berichten. Was geht in diesen Europäern eigentlich vor?

Nun, man kann über die 20 Republiken der EU natürlich auch kritisch denken und die hier herrschende Struktur aus Parteien, Verbänden und vor allem der (organisierten) Wirtschaft als selbstreferentielle nacharistokratische Klasse sehen, die zwecks Selbsterhalt der neuen Klasse die Bürger instrumentalisiert. Am republikanischen Selbstverständnis der Schweiz gemessen, sind auch diese anderen 20 Länder in der demokratischen Entwicklung steckengeblieben – obschon dort ebenfalls der Einfluß der organisierten Wirtschaft immens ist. Da wie dort gäbe es viel zu tun.

3. Die Fremdenlegion der Funktionäre

Das EU-Europa ist eine Wirtschaftsinteressensgemeinschaft, ein Staatenbund mit sanfter Diktatur der globalisierten Industrie. Der Dokumentarfilm „Das Brüssel Business“[iv] hat das recht deutlich nachgezeichnet. Der „European Round Table“ der großen Industrie gibt die Ziele der Wirtschaft, die Reden und Rechtstexte vor, und die EU-Kommission verlautbart genau das kurze Zeit später als europäischen Vorschlag im Interesse aller.

Das EU-Parlament ist durchsetzt von Lobbyisten; insbesondere auf konservativer Seite, die rosarote und blaßgrüne Seite schaut hier mit großen Augen zu und riskiert da und dort vielleicht einmal ein paar abmildernde Vorschläge. Der EU-Rat (der nationalen Regierungsvertreter) hat meist nur Interesse an irgendeinem Konsens und national nutzbaren Befindlichkeiten. Alle handelnden Personen sind sich jedoch einig, daß diese EU eine wunderbare Sache und vor allem: alternativenlos ist. Obschon es überall im Gebälk ziemlich korrupt zugeht, 1999 mußte die Kommission als Ganzes zurücktreten, ab und zu erwischt es einen Kommissar oder einen Ministerpräsidenten oder Minister, – die Korruption ist überall zuhause, eben auch in der Politik.

In so einer Konstellation kann man, wie das in Griechenland oder Italien geschehen ist, die nationalen Parlamente widerspruchslos entmündigen, oder wie im Fall der EZB (Europäischen Zentralbank) einfach mit Augenzwinkern Recht brechen. Und neue handelnde Personen werden aus dem Freundeskreis von Goldman-Sachs geholt, die mittlerweile als Netzwerk die USA wie die EU beraten und kontrollieren.

Nebenbei erwähnt, in so einer Lage muß man dem britischen Premierminister Cameron direkt dankbar sein. Mit der von ihm angesprochenen Option eines EU-Austritts (wohl vornehmlich zur innenpolitischen Beruhigung gesagt), hat es erstmals einen Tabubruch gegeben, ein kleines Erdbeben für das monolithische Denken der Alternativenlosigkeit dieser Europäischen Union.

Nicht nur die Industrie ist im Hintergrund der EU tätig, auch die multinationalen Organisationen wie WTO (World Trade Organisation) und die OECD (Organisation for Economic Cooperation and Development), „Better Policies for Better Lives“ ist deren PR-Motto, die OECD ist durch die PISA-Studien bei vielen Mitteleuropäern bekannt. PISA dient dazu, Druck auf die nationalen Bildungssysteme zu machen. Vielmehr: auf die Ausbildungssysteme, denn Bildung interessiert nur, soweit sie als Personalressource für Unternehmen verwertbar ist.

Marktentwicklung und moderner Kolonialismus

Beide Organisationen hatten sich neben der EU-Kommission vor ein paar Jahren intensiv für das MAI-Abkommen (Multilateral Agreement on Investment) eingesetzt, das die Nationalstaaten vollständig entmündigt, gewissermaßen modern kolonialisiert hätte. In letzter Minute ist es damals einigen NGOs gelungen, einen Wirbel zu schlagen, sonst wäre das einfach so durchgelaufen wie das Glühlampenverbot und viele andere Dinge. Die Brüsseler Söldner der Industrie raffen sich ja unter dem Motto des Binnenmarktes auch Sachverhalte, die sie gar nichts angehen, etwa den Umbau der Universitäten. O je, hätten dann wohl viele nationale Minister gesagt – das haben wir gar nicht gemerkt.

Nein, die Akteure in Brüssel sind Fremdenlegionäre der Industrie, die auf zivilem Weg Europa industrieorientiert umgestalten, die das machen, was die organisierte große Industrie haben möchte, um bessere Wettbewerbschancen zu haben = mehr Geld in den Unternehmen zu verdienen und üppige Managerboni einzustreichen. Stets begleitet von der Universalrhetorik, daß Wettbewerb und natürlich der Freihandel ja immer Wohlstand für alle bringen. Dazu gibt es dann und wann auch ein paar Zuckerl für die Verbraucher, Höchstgrenzen bei Roaming-Tarifen etwa, Kostenbegrenzungen bei Auslandsüberweisungen, Schadenersatz bei Urlaubsreisen. Hat auch den angenehmen Nebeneffekt, diese Segmente im Wachstum anzukurbeln.

Bild: Karl Kollmann

Bild: Karl Kollmann

Zweifel

Einerseits schaut es in Europa, bei den Europäern schlimm aus. Andererseits ließe sich noch  genügend machen, miserable Entwicklungen wären korrigierbar, na klar gäbe es Alternativen. Die Finanzmärkte könnten gebändigt werden, wenn die Politik nur wollte; die Politik ließe sich bändigen, wenn es in den Republiken mehr partizipative Elemente gäbe; das könnten sich die Bürger sicherlich ertrotzen; in den EU-Monarchien könnten die Bürger ihre Könige verjagen; dem Militärischen ließe sich sein verdinglichter Charakter entzaubern; das Wort „alternativenlos“ könnte geächtet werden; mit den vielen Milliarden, die in Rüstung und technische Entwicklung a la CERN, Weltraumforschung und militärisch-polizeistaatliche Entwicklung gesteckt werden, könnte Armut vollständig beseitigt, ein ansprechenderes Europa hergestellt werden.

Die meisten Menschen wären für eine friedlichere Zukunft zu haben, aber es hat den Anschein, sehr viele sind müde. Von der Alltagspolitik vergrämt bis angeekelt, wird die verbliebene Energie in den Konsum gesteckt, den mitgelieferten Arbeitszwang nimmt man in Kauf[i]. Und die kleinen Freuden, die die Konsumindustrie verheißt, die wird man sich nicht nehmen lassen: ein neues Notebook, ein etwas größeres Auto, einmal eine schöne Reise um die Welt, ein eigenes Häuschen vielleicht. Überschaubares, frustriertes Glück, der kleine Schrebergarten in einem unwirtlichen und voller Probleme steckenden Europa.



[i] Karl Kollmann: In den Fesseln der Arbeits- und Konsumgesellschaft,  Diskussionspapier Konsumökonomie und Konsumökologie, Juni 2012; http://goo.gl/dPQsi .



[i] Marcus Klöckner: Brüderle-Debatte: Die passive Revolution im Journalismus, telepolis 04.02.2013,
http://www.heise.de/tp/artikel/38/38498/1.html .

[iii] Hans Magnus Enzensberger: Sanftes Monster Brüssel oder die Entmündigung der Bürger, Berlin 2011.

[iv] Friedrich Moser, Matthew Lietaert: The Brussels Business – Wer regiert die EU? Österreich 2010.

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Über Karl Kollmann

Karl Kollmann, Titularprofesser der WU-Wien, Vorsitzender des österreichischen Verbraucherrates (ASI), viele Jahre in der Verbraucherpolitik tätig, früher auch Berater der Europäischen Union in Verbraucherfragen. Beschäftigt sich mit Konsum- und Haushaltsökonomie sowie Technikökonomie. Weitere Artikel

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