Das Desaster Währungsunion erzwingt keine politische Union

In Europa wird das Recht relativiert, Staaten werden zwangsintegriert. Doch in Teilen der deutschen Bildungsschicht wächst das Unbehagen über die politischen Vorgänge dieser Zeit. Eine Analyse.

Der Konflikt in Mali, in dem es vor allem um die Sicherung französischer Rohstoff-Interessen im frankophonen Westafrika geht (z.B. Uran für die französischen Kernkraftwerke) und in den die EU durch eine nicht abgesprochene Aktion des französischen Präsidenten François Hollande hinein gezogen wird, macht deutlich, dass es eine „europäische Außenpolitik“ nicht gibt. Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton spielte hier die Rolle, die sie auch bei anderen Vorgängen innehat: die Zuschauerrolle. Während sich im Innern der EU eine erstickende Überstruktur herausbildet, existiert nach außen eine Pseudo-Struktur der Einheitlichkeit, hinter der sich die alte Machtpolitik der einzelnen Nationalstaaten verbirgt. Die falsche Entwicklungsrichtung der EU wird hier greifbar.

Ein immer wieder vorgebrachtes, fast als Mantra wiederholtes Argument der offiziellen deutschen Politik lautet, dass die seit 2007/2008 andauernde Finanzkrise nun die vertiefte politische Union in Europa erzwingen würde. Gemeint ist damit in den meisten Fällen eine Fortsetzung der bisherigen Politik des Brüsseler Regelungs- und Verordnungsapparats, erweitert um weitere Felder wie z.B. die Fiskal- oder Sozialpolitik und mit größerer Verbindlichkeit für die einzelnen Staaten, wobei es relativ unklar ist, wie sich die Durchsetzung verbindlicher Entscheidungen und Vorgaben bei Nichtbefolgen gestalten soll. Dieser größere EU-Machtapparat, von dem also keiner so recht sagen mag, wie er letztendlich aussehen könnte, wie und ob die bisherigen nationalen Regierungen darin eingebunden werden, soll schließlich irgendwie demokratisch legitimiert sein durch ein frei gewähltes europäisches Parlament. Daneben wird es aber, dieses Faktum können die europäischen Politiker nicht leugnen, weil es tiefste Überzeugung in der Bevölkerung der meisten EU-Mitglieder ist, weiterhin die nationalen Parlamente und die dazugehörigen Souveränitätsrechte geben.

Dogma der weiteren Integration

Außerhalb Deutschlands wird die Kritik an der Entwicklungsrichtung der EU immer lauter, während die Argumentation, dass es notwendig sei, die Integration zur Beilegung der Krise zu vertiefen, in den meisten Medien in Deutschland kaum hinterfragt wird. Nur vereinzelt werden Beiträge oder Interviews veröffentlicht, welche die offiziell gut geheißene Form der EU-Integrationspolitik infrage stellen.

In der FAZ-/FAS-Online ist schon am 15.12.2012 ein exzellenter Beitrag des Professors für politische Wissenschaften im Ruhestand, Peter Graf Kielmansegg, mit dem interessanten Titel „Zwangsintegration“ erschienen, , der die falsche Entwicklungsrichtung der EU und der Eurozone zum Thema hat. Leider ist er im allgemeinen Meinungsgetümmel untergegangen. Dieser Beitrag ist es wert, noch einmal angesprochen und zur Kenntnis genommen zu werden.

Die Sorbonne in Paris / Quelle: Wikipedia

Graf Kielmanseggs Kritik am Dogma der weiteren Integration ist meines Erachtens  ungewöhnlich scharf. Es ist aber wohl kein Zufall, dass es sich bei Peter Graf Kielmansegg um einen emeritierten Wissenschaftler handelt, dem wohl weder Politik noch Universitätsverwaltung noch etwas anhaben können. Er ist schlichtweg nicht mehr erpressbar, etwa durch Mittelkürzungen oder Stellenstreichungen.

Sakraliserung des europa-Projektes

Der Wissenschaftler lässt keinen Zweifel an seiner pro-europäischen Haltung. Er nennt den europäischen Einigungsprozess einen einzigartigen Vorgang, der ein in andauernde Kriege verwickeltes Staatensystem in ein auf das Recht gegründete Föderation verwandelt hat. Doch nun ist eine ungute Entwicklung eingetreten, das „Projekt Europa“ beginnt kontraproduktiv zu werden. Es sei zu einer Art von Sakralisierung des Europa-Projektes gekommen:

„Sakralisierung des Projektes meint: Nicht nur die Idee hat sakralen Rang gewonnen, auch die Einigungspolitik mit ihren konkreten Entwürfen und Weichenstellungen hat etwas von dieser sakralen Würde für sich in Anspruch genommen.“

Anders ausgedrückt: Das hohe Ziel des friedlichen Europas, das mit dem Einigungsprojekt erreicht werden sollte, wird dazu benutzt, die aktuelle Richtung, die diese Politik genommen hat, vor jeglicher Kritik zu immunisieren. Mit dem Anspruch, dass nur noch diese Art der Integration, diese Form der Europapolitik die einzige Option ist, um die krisenhafte Entwicklung zu beherrschen und letztlich den Frieden in Europa zu bewahren, werden alle Kritiker an dieser Politik quasi zu Gegnern der europäischen Einigung und des Friedens.

„Desaster der Währungsunion“

Und über Graf Kielmansegg hinausgehend könnte man fragen, wann die Kritiker der herrschenden EU- und Euro-Politik endgültig als unverbesserliche Nationalisten, Kriegstreiber oder pure Populisten abgestempelt werden. Graf Kielmansegg fordert eigentlich etwas Selbstverständliches: eine Öffnung der Debatte über den Kurs der europäischen Integration. Eine offenen Debatte – das wäre allerdings eine Frage an den Politikwissenschaftler zum Verständnis seines Beitrags – müsste auch zulassen, darüber zu diskutieren, die Integrationsdichte wieder zurückzunehmen, oder den Kreis an Staate, die am Projekt Europa teilnehmen, wieder einzuschränken bzw. nicht weiter auszudehnen.

Europa und der Stier, Fresko aus Pompeiii / Quelle: Wikipedia

Die weitere Kritik von Graf Kielmansegg an der offiziellen Berliner bzw. Brüsseler Politik geht in zwei Richtungen. Er kritisiert ganz allgemein den von der Politik hergestellten Zusammenhang zwischen „Desaster der Währungsunion“ und einem daraus folgenden notwendigen in aller Eile betriebenen Umbau der EU, der für ihn zu einer legitimitätslosen „Zwangsintegration“ der EU- bzw. Euro-Staaten wird. Peter Graf Kielmansegg greift die herrschende Meinung im politischen Europa an, dass man durch Krisen eine weitere Integration innerhalb der Europäischen Union erzwingen könne und müsse. Er stellt ganz am Anfang seines Beitrags klar, dass das Desaster der Währungsunion keine politische Union erzwinge. Die Währungsunion in ihrer jetzigen Ausprägung wird in den etwas feiner gesetzten Worten eines adligen emeritierten Politikwissenschaftlers als „nicht zu Ende gedachtes Tun“ charakterisiert; etwas unfeiner könnte man es auch als Pfusch nennen:

„Integration nicht als Folge einer frei geführten Debatte über das Wünschbare und Notwendige, sondern als Resultat von Zwängen, die sich aus vorangegangenem, nicht zu Ende gedachtem Tun ergeben.“

Ein Europa ohne Legitimität

Sein Kritikpunkt ist, dass die Krise eiskalt instrumentalisiert wird, um einen Bundesstaat Europa ohne die Beteiligung und Gestaltungsmöglichkeit der Bevölkerung aufzubauen. Ein schnell zusammen gestückeltes EURO-Europa ohne Beteiligung der Bevölkerung löst die Probleme der Währungsunion nicht, bringt aber Gefahren für Europa. Es entsteht ein Europa ohne Legitimität, ohne Rückhalt in der Bevölkerung.

„Es wäre ein von einer wohlmeinenden politischen Klasse oktroyiertes Europa. Ein oktroyiertes Europa wäre ein wurzelloses Europa.“

An einer Stelle seines Beitrags spricht der Professor von dem „grandiosen Vorhaben der Umkehrung der europäischen Geschichte“ im Zusammenhang mit der europäischen Einigung. Im Grunde ist das nur der Widerhall des im Politsprech der „wohlmeinenden“ Berliner oder Brüsseler Politikelite gängigen Satzes, der da lautet: „Wir müssen dafür sorgen, die europäische Vereinigung unumkehrbar zu machen“.

Besprechungssaal der EU-Kommission / Quelle: Wikipedia/JLogan

Allerdings wäre ein solch zwangsintegriertes Europa nicht das letzte politische Gebilde, dessen Unumkehrbarkeit sich als bloßes Wunschdenken erweisen würde, man denke nur an ähnliche Sprüche im Zusammenhang mit dem unaufhaltsamen Fortschreiten des Sozialismus. Auf die Gefahr einer fundamentalen Gegenreaktion will Graf Kielmansegg auf jeden Fall hinweisen. Dass der europäische Einigungsprozess demokratische Defizite hat, wird im Übrigen vom Großteil der heutigen Politiker zugegeben. Das wird meistens mit einem Hinweise bewältigt, dass künftig das Europäische Parlament eine viel größere Rolle spielen müsse. Das führt uns aber unmittelbar zu einem weiteren Thema und Kritikpunkt des Politikwissenschaftlers.

Es geht nämlich in seiner Kritik auch um die angestrebte endgültige Form der „politischen Union“ Europas, die diese europäische Einigungspolitik schließlich hervorbringen soll. Mit dem Begriff „Zwangsintegration“ kritisiert er natürlich das „Wie“ im Vorgehen der europäischen Politik, nämlich undemokratisch und von oben aufgesetzt. Wie steht es aber um das „Was“ der bisherigen Integrationsbemühungen in Europa. Welches Ziel hat die Integrationspolitik und mit welcher Argumentation wird eine solche Politik offenbar an den meisten Menschen in Europa vorbei betrieben?

Vier Thesen

Mit vier Thesen untermauert Graf Kielmansegg seine Kritik am „Was“, also an der aktuellen Zielsetzung der europäischen Einigungspolitik, die er letztlich als riskant und dem europäischen Gedanken nicht förderlich einstuft.

 

1.         Die Integrationsdynamik zielt in die falsche Richtung

 

„Die Integrationsdynamik der Europäischen Union zielt mit beunruhigender Eindeutigkeit in die falsche Richtung. Föderationen haben im Allgemeinen die primäre Bestimmung, den Gliedstaaten durch Bündelung der Kräfte mehr Sicherheit zu geben und sie zu gemeinsamem Handeln nach außen zu befähigen. Und dies mit so viel Respekt vor der inneren Eigenständigkeit der Glieder wie nur möglich.“

Statt dass Europa eine nach außen hin einheitliche Form annimmt, um sich im globalen Spiel der multipolaren Welt behaupten zu können, entwickelt es sich zu einem Apparat der Regelungswut nach innen, der eine unheilvolle Dynamik entwickelt hat, sich immer weiter zu vergrößern und sich immer mehr in die Detailbelange der Einzelglieder einzumischen. Die Fixierung von erlaubten Krümmungsgraden bei Gurken oder das Glühbirnenverbot haben bei den Bürgern Zustimmung zur EU nicht gefördert. Man muss sich die Frage stellen: „Würde es uns schlechter gehen, wenn es diese Verordnungen nicht gäbe? Die Antwort ist ein klares Nein. Auch Graf Kielmansegg sieht keine Notwendigkeit in solch einer Integrationspolitik.

„Tatsächlich hat sich die EU ganz anders entwickelt. Gemeinsame Handlungsfähigkeit nach außen zu gewinnen, ist ihr nur in bescheidenen Ansätzen gelungen. Die Europäische Union ist nicht wirklich zu einem politischen Akteur mit eigenem Gewicht auf der Weltbühne geworden. Sie hat von Anfang an alle ihre politischen Energien nach innen gerichtet. Sie hat sich auf die Schaffung eines europäischen Wirtschaftsraumes konzentriert, in der Konzentration auf diese Aufgabe aber zu einer Gesetzgebungsmaschinerie entwickelt, die ihren Auftrag weiter und weiter auslegt. Unaufhörlich arbeitet sie daran, das Netz homogenisierenden europäischen Rechtes enger zu flechten (…). (…). Das ist für eine Gemeinschaft von Nationalstaaten mit einer im Bewusstsein ihrer Bürger wie in der Geschichte tief verankerten Eigenständigkeit alles andere als eine vernünftige Entwicklung. Die Richtung stimmt nicht.“

Nationale Großmachtfantasien

Was Graf Kielmansegg nur andeutet, könnte man auch konkreter fassen. Wenn man versucht, einen realistischen Blick auf die Welt zu behalten, kommt man an der Existenz von Atomwaffen und hochgerüsteten Armeen nicht vorbei. Das Ziel einer atomwaffenfreien Welt ist ein schöner Traum, aber es ist damit zu rechnen, dass die Zahl der Atomwaffenstaaten in Zukunft wächst und nicht abnimmt. Solange keine weltweite Abschaffung der atomaren Waffen durchgesetzt ist, muss auch Europa darauf achten, dass es nicht durch skrupellose Machtpolitiker oder imperialistisch ausgreifende Diktatoren mit der Androhung des Einsatzes von Atomwaffen erpresst werden kann.

Unter diesem Gesichtspunkt ist es fast zum Verzweifeln, in welch seltsamer Weise Europa sich nur auf sich selbst konzentriert und nach außen hin ein Bild der Zerrissenheit abgibt. Wäre es nicht an der Zeit, dass uns Frankreich zeigt, wie wichtig Europa auch für die Grande Nation ist? Wäre nicht ein großer Sprung in der europäischen Entwicklung, wenn die französischen Atomwaffen und der UN-Sitz Frankreichs europäisiert würden, ein einheitliches europäisches Heer aufgestellt würde und Europa wenigstens auf diese Weise ein einheitliches Auftreten in der Welt hätte? Aber Frankreich (von manch anderem Staat gar nicht zu reden) wird sich wohl kaum bewegen, zu sehr ist man hier noch auf den Nationalstaat und den eigenen Großmachtstatus fixiert. Die Vorgänge in Mali zeigen es nur allzu deutlich. Wie soll aber ein föderales Europa funktionieren, das zwar die Steuereinnahmen der Bürger am liebsten europäisieren und nach Maßgabe der Brüsseler Politelite neu verteilen will, aber keine Anstalten macht, seine Außen- und Verteidigungspolitik abzusprechen und zu vereinheitlichen?

Die weitere Gefahr, dass es zwischen den reinen EU-Staaten und den Eurozonen-Staaten im Zuge der immer weiter voran getriebenen Vertiefung der „Zwangs“-Integration zu immer größeren Verwerfungen kommen könnte, die letztendlich zu einem Auseinanderbrechen der EU selbst führen könnte, thematisiert Graf Kielmansegg allerdings nicht, auch zu dieser Entwicklung, die durch die aktuelle Politik verursacht wird, wären ein oder zwei Sätze interessant gewesen.

2.         Das Subsidiaritätsprinzip wirkt nicht verlässlich

 „Allen Bekenntnissen zum Trotz ist es nicht gelungen, institutionelle Vorkehrungen oder politische Verhaltensmuster zu entwickeln, die dem Subsidiaritätsprinzip verlässlich Wirksamkeit verleihen. Natürlich ist das Subsidiaritätsprinzip im Vertrag über die Europäische Union – für den Bereich der geteilten Zuständigkeiten – an herausragender Stelle festgeschrieben. Aber das bedeutet wenig. (…) Bundesstaaten können mit einer Zentralisierungsdynamik leben, wenn und soweit sie dem politischen Selbstverständnis ihrer Bürger entspricht. Die Europäische Union kann es nicht. Für eine Föderation aus Nationalstaaten ist es lebenswichtig, eine stabile föderale Balance zu entwickeln. Das Leitmotiv „immer enger“ steht einer solchen Balance entgegen.“

Beim Subsidiaritätsprinzip geht es darum, den einzelnen Mitgliedern einer Gemeinschaft genug Selbstbestimmung und Selbstverantwortung auf der Eben zu lassen, auf der sie sehr gut selbst über sich bestimmen können. Auch hiermit ist die Fehlentwicklung der EU angesprochen, eine Überstruktur in Innenpolitik zu entwickeln, die langsam, aber sicher absurde Formen annimmt und zu einer Ablehnung durch die Bürger führen muss. Kielmansegg nennt es das Leitmotiv „immer enger“, man könnte es auch auf die finanzielle Ebene beziehen, dort ist das Leitmotiv dann „immer teurer“.

3.         Der Integrationsprozess wird nicht korrigiert

 „Dem Integrationsprozess fehlt weitgehend die Fähigkeit zur Selbstkorrektur. (…). Die einmal eingeschlagene Richtung wird beibehalten, einmal getroffene Entscheidungen determinieren Folgeentscheidungen, „weiter so“ ist das Leitmotto des Integrationsprozesses. Die über Jahrzehnte gegen alle Vernunft betriebene Landwirtschaftspolitik der Europäischen Gemeinschaft ist ein klassisches Beispiel. Selbst die offensichtlichsten Schwächen der Strukturförderung scheinen unkorrigierbar zu sein. Und auch die hektischen Anstrengungen der Politik, der Schuldenkrise beizukommen, bleiben, durch keine Erfahrung beeindruckbar, auf der gleichen Spur.

(…). Befristungen, Konditionierungen, regelmäßige Prüfverfahren könnten Instrumente einer Politik sein, die sich ein Minimum an Chancen des Lernens, der Selbstkorrektur beim Aufbau einer ganz und gar neuartigen politischen Ordnung bewahren möchte. Die amtliche Europapolitik setzt dem eine eigenartige Gewissheit, mit jedem Schritt auf dem richtigen Wege zu sein, entgegen. Sie mag mit jener Überhöhung des europäischen Projektes zu tun haben, von der eingangs die Rede war.“

Hier spricht Graf Kielmansegg das Missbehagen der meisten Bürger an diesem politischen Koloss namens EU an: Es werden auf Dauer Strukturen geschaffen (z.B. Agrarsubventionen), die auch bei offensichtlicher Absurdität nicht mehr geändert oder abgeschafft werden können, weil dazu Einstimmigkeit erforderlich wäre. Auch das führt zu einer immer größeren finanziellen Belastung der großen Länder und zu einem immer größeren Verwaltungsapparat in Brüssel, der diese Umverteilung lenken soll.

Im Grunde ist Kilemanseggs Kritik vernichtend, denn man kann seine Worte durchaus so interpretieren: zur Zeit gibt es in der EU nicht einmal ein Minimum an Chancen, aus politischen Fehlern zu lernen.

Der Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789 / Quelle: Wikipedia

4.         Das Recht wird relativiert

 „Die Europäische Union hat in der Krise einen Weg der – vorsichtig formuliert – Relativierung des Rechts eingeschlagen, den sie nicht weitergehen kann, ohne sich selbst in Frage zu stellen. Sie hat sich im Kampf gegen die Staatsschuldenkrise dafür entschieden, die geltende Finanzverfassung in wesentlichen Punkten zu ignorieren. Nicht mutwillig, sondern unter dem Druck einer existenziellen Herausforderung. Aber eben doch – sie hat sich entschieden, sie zu ignorieren.

(….).

Was diese, wie man meinte, der Not geschuldete Relativierung des Rechts für die Europäische Union bedeutet, haben die Akteure vermutlich nicht zu Ende gedacht, obgleich sie ja oft genug die erstaunliche Floskel gebraucht haben, sie wollten den Euro „um jeden Preis“, also auch um den Preis des Rechts, retten. Dass die Europäische Union eine Rechtsgemeinschaft ist, ist nicht nur ein schmückendes Beiwort. Der Begriff benennt ihre Essenz: Die Europäische Union ist ihrem Wesen nach ein Gebilde des Rechts. Ihre Funktionsfähigkeit, ihre Wirkungsmöglichkeiten hängen ganz und gar daran, dass das Recht von den Mitgliedstaaten wie von den Bürgern respektiert wird. Wenn die Union durch die, die für sie handeln, das Recht für sich faktisch ad hoc außer Kraft setzt, mag sie das in noch so guter Absicht tun. Die Maxime, der sie dabei folgt, die Maxime, dass das europäische Projekt wichtiger sei als das Recht, in dem es sich verwirklicht, bleibt ein Sprengsatz. Ohne selbst Rechtsgehorsam zu üben, kann die Union auch keinen Rechtsgehorsam einfordern. Das Desaster der Währungsunion erzwingt keine politische Union.“

Das lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Man kann diese Einschätzung in wirklich jedem Internet-Blog nachlesen, in dem es kritische Stimmen zu aktuellen Euro-Politik gibt. Es wurde das Recht gebrochen, um den Euro um jeden Preis zu retten. Das ist per se schlecht, egal wie die Erfolgsaussichten, mit diesen Rechtsbrüchen die Eurozone zu erhalten, auch aussehen mögen. Ob diese Rechtsbruch-Politik überhaupt  zur Erhaltung der Eurozone beiträgt, wird von Graf Kielmansegg nicht ausdrücklich thematisiert. Am Schluss seines Artikels spricht er aber vom „Desaster der Währungsunion“ und zweifelt auch an Aussagen wie „Es gibt keine Alternative“.

Fazit: Es ist bemerkenswert, dass das grundlegende Ziel der aktuellen Europa-Politik und die Begründung dafür so offen von einem Mitglied der wissenschaftlichen Elite (2001 Erhalt des Schade-Preises, die höchstdotierte Auszeichnung für Geisteswissenschaftler in Deutschland; 2006 Bundesverdienstkreuz 1. Klasse; Mitglied d. Heidelberger Akademie d. Wiss.; Vizepräs. d. Union d. dt. Akademien d. Wiss.; Vizepräs. d. Studienstift. d. dt. Volkes ) angegriffen wird. Das zeigt, dass sich zumindest in bestimmten Teilen der deutschen Bildungsschicht ein immer größeres Unbehagen an den politischen Vorgängen seit der Installierung des ersten Rettungsschirms für einen Eurozonen-Pleitestaat im Jahre 2010 regt. Kielmanseggs Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen u.a. in der politikwissenschaftlichen Demokratieforschung, er kann die aktuellen Entwicklungen nicht gutheißen.

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