Wenn Wahlergebnisse den Machtanspruch infrage stellen

In Niedersachsen verharrt die Wahlbeteiligung in einem historischen Tief. Bezogen auf die Zahl der Wahlberechtigten erhielt die SPD nur 18 Prozent der Stimmen, die CDU 21 Prozent. Solche Ergebnisse stellen jeden Machtanspruch infrage.

Der Wähler hat entschieden. SPD, Grüne und die FDP fühlen sich als Sieger. Regieren werden SPD und Grüne mit einer Stimme Mehrheit. Aber was hat der Wähler damit entschieden? Wird sich überhaupt etwas ändern?

Wenn die Rot-Grünen Wort halten, dann werden nun auch in Niedersachsen die Studiengebühren abgeschafft. Auch für die Schulen haben sie Pläne. Künftig sollen alle Schüler von der ersten bis zur zehnten Klasse gemeinsam unterrichtet werden. Erst dann soll entschieden werden, er einen mittleren Bildungsabschluss oder Abitur macht. Diese Schulform soll es aber noch dort geben, wo Eltern sich mehrheitlich dafür aussprechen.

Bereits heute gibt es in Niedersachsen eine Fülle unterschiedlicher Schulformen. Es gibt die Hauptschule, die Realschule, es gibt gemeinsame Haupt- und Realschulen, die integrative und die kooperative Gesamtschule, es gibt das Gymnasium und die Oberschule.

Letztere ist eine ganz neue Schulform. Dazu heißt es in den Erläuterungen der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW):

„Die Oberschule ist Regelschule und kann Haupt- und Realschulen ergänzen, aber auch ersetzen. Sie kann auf Antrag des Schulträgers anstelle von Hauptschulen, Realschulen, zusammengefassten Haupt- und Realschulen und Kooperativen Gesamtschulen geführt werden. Sie kann somit neben einem Gymnasium als alleinige Schulform geführt werden, d. h., die Oberschule kann nicht das Gymnasium ersetzen, wohl aber alle anderen Schulformen.“

Verstanden? Wenn nicht, lesen Sie’s ruhig zweimal. Zu diesem Wirrwarr also wird Rot-Grün jetzt noch das skandinavische Modell der Gemeinschaftsschule hinzufügen. Kaum zu glauben, dass dieses Land einmal mit drei Schulformen, nämlich Hauptschule, Realschule und Gymnasium auskam.

Die Bildungspolitik ist das Feld, auf dem Bundesländer weitgehende Souveränität besitzen. Die angeführten Beispiele zeigen, wie die Parteien diese Souveränität in Niedersachsen genutzt haben.

Weitgehend souverän sind sie auch in ihrer Sicherheitspolitik. Doch hier sind, wie auch in den Ressorts Wirtschaft und Finanzen, keine gravierenden Änderungen zu erwarten. Bei der Regionalförderung bevorzugen die Regierungsparteien traditionell jene Landstriche, in denen sie die meisten Anhänger haben. Das heißt, nun wird das Emsland zugunsten Ostfrieslands und des Großraums Hannover verzichten müssen. Hier kann ein gelegentlicher Wechsel nicht schaden, im Gegenteil wird er erst zur notwendigen Verteilungsgerechtigkeit führen.

Bleibt die Frage, was der Wahlausgang in Niedersachsen über den politischen Willen der Wähler aussagt. Gestern sind 59,4 Prozent der Wahlberechtigten zur Wahl gegangen. Das sind etwa 2,3 Prozentpunkte mehr als vor fünf Jahren. Damals war die Wahlbeteiligung mit 57,1 Prozent auf den tiefsten Stand seit dem Zweiten Weltkrieg gesunken. Obwohl die Wahl von den Parteien als Stimmungstest für die Bundestagswahl im September gewertet und mit dieser Wertung auch Wahlkampf gemacht wurde, blieb fast die Hälfte der Wahlbeteiligten zu Hause.

Das war nicht immer so. Ein Blick auf die Statistik bei wahlrecht.de zeigt einen kontinuierlichen Abwärtstrend. In der vergangenen Jahrzehnten ließ das Interesse der Menschen an Wahlen immer mehr nach. Auch wenn man bei diesem Trend einen gewissen Ermüdungseffekt in Rechnung stellt, dürfte auch eine permanent sinkende Hoffnung, mit dem Wählervotum tatsächlich auch gesellschaftliche und politische Veränderungen bewirken zu können, eine gewichtige Rolle spielt.

Während also die Bedeutung für die Parteien im Kern gleich geblieben ist, für sie geht es vornehmlich um Machtgewinn oder Machtverlust, wächst bei den Wählern die Enttäuschung über die mit der Wahl verbundenen Möglichkeiten politischer Einflussnahme.

Die Parteien und Politiker scheint dies nicht zu interessieren, denn sie gerieren sich nach wie vor so, als würde ihre Macht tatsächlich von einer breiten Mehrheit der Bevölkerung getragen. In Wahrheit sind von den 6,1 Millionen Wahlberechtigen nur 3,6 Millionen zur Wahl gegangen. Und von diesen 3,6 Millionen haben 32 Prozent die SPD gewählt.

Bezogen auf die Gesamtzahl der Wahlberechtigen erhielt die SPD damit 18 Prozent der Stimmen, die CDU 21 Prozent, die anderen Parteien entsprechend weniger. Von einer breiten Legitimation kann da freilich nicht mehr die Rede sein. Es ist an der Zeit, dass wir sie nach Wahlen tatsächlich auch in diesem Lichte betrachten und bewerten. Denn solche Ergebnisse kennen keine Sieger.

 

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Über Günther Lachmann

Der Publizist Günther Lachmann befasst sich in seinen Beiträgen unter anderem mit dem Wandel des demokratischen Kapitalismus. Er veröffentlichte mehrere Bücher, darunter gemeinsam mit Ralf Georg Reuth die Biografie über Angela Merkels Zeit in der DDR: "Das erste Leben der Angela M." Kontakt: Webseite | Twitter | Weitere Artikel

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