Türken wollen wegen der Schuldenkrise nicht mehr in die EU

In der Türkei wachsen die Vorbehalte gegenüber Europa dramatisch. Seit Ausbruch der Schulden- und Finanzkrise aber erteilt eine große Mehrheit der Türken einer EU-Mitgliedschaft ihres Landes eine deutliche Absage. Nur noch 17 Prozent befürworten einen Beitritt ihres Landes.

Zu diesem Ergebnis kommt eine repräsentative Umfrage der Türkisch-Europäischen Stiftung für Bildung und wissenschaftliche Forschung (TAVAK) zwischen dem 20. und 30. Juni 2012. Befragt wurden 1.110 Bürger im Alter zwischen 18 und 60 Jahren in den Großstädten Istanbul, Ankara, Izmir und Antalya sowie in den entwickelnden Regionen Kayseri, Südosttürkei, Gaziantep und in der Schwarzmeerregion Artvin und Trabzon.

Chef der Stiftung ist Faruk Şen, der früher das Zentrum für Türkeistudien in Essen leitete. Şen macht die Schulden- und Finanzkrise in Europa für die ablehnende Haltung der Türken verantwortlich. Er spricht sogar davon, dass die Krise bei den Türken zu einem „Bewusstseinswandel“ geführt habe. Denn der Anteil derer, die angaben, nicht mehr an einen EU-Beitritt der Türkei zu glauben, liegt inzwischen bei nahezu 80 Prozent.

 

Antworten auf die Frage, welcher EU-Staat das größte Hindernis im Beitrittprozess der Türkei darstellt. Quelle: TAVAK

Tatsächlich hat sich das Verhältnis der Türken zur EU in den vergangenen Jahren grundlegend gewandelt. Noch im vergangenen Jahr sprachen sich in der TAVAK-Umfrage 34 Prozent für eine EU-Mitgliedschaft ihres Landes aus. Im Jahr 2004 waren es noch 78 Prozent. „Ich fürchte, im kommenden Jahr werden weniger als zehn Prozent für einen EU-Beitritt sein, wenn sich die Rahmenbedingungen nicht ändern“, sagt Şen.

Er macht vier Punkte für den Meinungswandel verantwortlich. Der erste ist eine kumulative Wachstumsrate der türkischen Wirtschaft in den vergangenen zehn Jahren von 59 Prozent. „Das ist für viele ein Argument zu sagen, wir wollen lieber ohne die EU weitermachen“, sagt Şen.

 

Anworten auf die Frage: Glauben Sie noch an einen EU-Beitritt der Türkei? Quelle: TAVAK

Zweitens seien die Entwicklungen in Griechenland, Portugal und Spanien von den Türken sehr aufmerksam verfolgt worden. „Vielen sagen heute: Gott sei dank sind wir nicht in der EU“, sagt Şen. Drittens hätten die Aussagen von Bundeskanzlerin Angela Merkel zur EU-Mitgliedschaft der Türkei zu einer Abwehrhaltung in der türkischen Bevölkerung geführt. Und viertens nähmen die Türken eine Islamophobie in Europa wahr, die nicht zu einer Mitgliedschaft einlade. „Das hat eine Wirkung“, sagt Şen.

 

 

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Über Günther Lachmann

Der Publizist Günther Lachmann befasst sich in seinen Beiträgen unter anderem mit dem Wandel des demokratischen Kapitalismus. Er veröffentlichte mehrere Bücher, darunter gemeinsam mit Ralf Georg Reuth die Biografie über Angela Merkels Zeit in der DDR: "Das erste Leben der Angela M." Kontakt: Webseite | Twitter | Weitere Artikel

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