„Das Schicksal Deutschlands hängt jetzt am Bundestag“

Mit seinem ESM-Urteil habe das Verfassungsgericht das Tor für die europäische Einigung weit aufgestoßen und dem Bundestag die Umsetzung überlassen. Es sei allerdings fraglich, ob die Abgeordneten dieser Aufgabe gewachsen seien, sagt der Verfassungsrechtler Hans Herbert von Arnim im Interview.

Geolitico: Herr von Arnim, das Ausland bewertet das ESM-Urteil des Bundesverfassungsgerichts als „Sieg der Kanzlerin“. Ist das gerechtfertigt?

Hans Herbert von Arnim: Politisch ist das gerechtfertigt. Die Kanzlerin hat sich ja für den ESM und den Fiskalpakt stark gemacht. Das Gericht wollte dem Gesetzgeber, der schließlich mit qualifizierten Mehrheiten entschieden hatte, die Verantwortung für die Krisenpolitik nicht abnehmen, weder für die Maßnahmen noch die dann möglicherweise drohende Abwicklung des Euro.

Geolitico: Es hat sich aber auch nicht auf die Seite der Kläger gestellt…

Arnim: …den Klägern, denen ein Ende mit Schrecken lieber wäre als ein Schrecken ohne Ende, hat das Gericht mit seinem Urteil entgegengehalten: Die Krise muss politisch gelöst werden.

Geolitico: Die Kanzlerin interpretiert das Urteil als „starkes Signal nach Europa“. Sehen Sie das auch so?

Arnim: Es ist ein Signal nach Europa, denn Bundespräsident Joachim Gauck kann jetzt das ESM-Gesetz unterschreiben. Er muss allerdings die im Urteil genannten Vorbehalte verbindlich mit erklären. Die Grundfrage jedoch, ob diese Politik auf Dauer funktionieren kann, die hat das Gericht nicht beantwortet. Das heißt, langfristig dürfte die Krise noch lange nicht ausgestanden sein. Das muss man den Kritikern einräumen.

Geolitico: Ist es eine Niederlage für die Kläger, dass ihre Klagen abgewiesen wurden?

Arnim: Nur teilweise. Denn die Klagen wurden zwar abgewiesen, aber mit gewissen Einschränkungen für die Politik. Dazu zählt etwa der Punkt, dass die deutsche Haftungsgrenze von 190 Milliarden Euro nicht mehr ohne Zustimmung des Bundestages ausgeweitet werden kann. Die wenigsten haben bisher bemerkt, dass das Gericht die Immunität der Mitarbeiter des ESM, die im ESM-Vertrag steht, zumindest teilweise aufgelockert hat.

Geolitico: Wie geschieht das?

Verfassungsrechtler Hans Herbert von Arnim

Arnim: Indem die Schweigepflicht, die den Mitarbeitern des ESM, dem Gouverneursrat und dem Direktorium vertraglich auferlegt wird, gegenüber dem Bundestag nicht mehr gilt. Sie müssen den Bundestag vollinhaltlich informieren, also über Akten, Dokumente und Protokolle. So wird wenigstens eine politische Verantwortlichkeit für mögliches Fehlverhalten realisiert.

Geolitico: Das setzt voraus, dass der Bundestag von diesen Rechten auch Gebrauch macht.

Arnim: In der Tat. Es hängt jetzt alles am Bundestag. Das Gericht hat alle Kompetenz in die Hände der Abgeordneten gelegt. Die Frage ist, ob sie dort in guten Händen ist. Da herrscht auch in Öffentlichkeit Skepsis, nicht zu Unrecht, wie ich finde. Ich fürchte, dass der Bundestag auch in Zukunft dazu tendiert, das abzusegnen, was die Bundesregierung ihm vorlegt.

Geolitico: Würden Sie sagen, das Gericht hat die Tür zur weiteren europäischen Integration weit aufgestoßen?

Arnim: Ja, jedenfalls, was die finanzielle Belastung Deutschlands anbelangt. Wenn es weiter in Richtung Bundesstaat ginge, ist da aber schon noch eine Grenze. Interessant ist noch etwas anderes, was das Gericht in seinem Haupturteil entscheiden wird, aber in seinem aktuellen Urteil bereits andeutet.

Geolitico: Was meinen Sie?

Arnim: Ich meine die Frage, ob die Europäische Zentralbank, wie in ihrem Grundlagenschluss vom 6. September 2012 angekündigt, tatsächlich Papiere von notleidenden Staaten am Finanzmarkt kaufen darf.

Geolitico: Was sagt das Gericht dazu?

Arnim: Es hat – in anderem Zusammenhang – die Begründung der EZB für den Kauf von Anleihen am Finanzmarkt für unzulässig erklärt. Die EZB umgehe auf diese Weise die Vorgaben des Artikels 123 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union. Das Gericht hat damit seine spätere Entscheidung präjudiziert.

Geolitico: Was bedeutet das konkret?

Arnim: Praktisch zunächst wenig. Bis zum Haupturteil des Verfassungsgerichts können Jahre vergehen, in denen die EZB weiterhin Anleihen kauft. Nun ist gegen diese EZB-Praxis bereits ein Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) anhängig. Selbst wenn das Verfassungsgericht vor dem EuGH entscheiden würde, müsste es diesem wohl vorlegen. Wir wissen aber, dass der EuGH fast immer sehr europafreundlich entscheidet. Er wird die EZB-Praxis also voraussichtlich absegnen.

Geolitico: Das heißt, die Verfassungsrichter gebrauchen hier starke Worte, wohl wissend, dass diese folgenlos bleiben?

Arnim: Kann sein. Die Umstände sind jedenfalls spektakulär.

Geolitico: Was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Punkte des Urteils?

Arnim: Die sind im Wesentlichen bereits genannt, ich meine die Aufhebung der Schweigepflicht der ESM-Mitarbeiter gegenüber dem Bundestag und die Begrenzung der deutschen Haftung auf 190 Milliarden Euro, sofern der Bundestag nicht anders entscheidet. Wichtig ist aber auch, dass es praktisch keine materielle Grenze für die finanzielle Belastung Deutschlands durch die Euro-Zone und die Rettungsmechanismen mehr gibt.

Geolitico: Da hat das Gericht früher aber anders geurteilt…

Arnim: Früher las man das in der Tat noch etwas anders. Nach dem heutigen Urteil gibt es faktisch keine finanzielle Grenze mehr. Damit räumt das Gericht Bollwerke gegen eine stärkere Belastung der deutschen Steuerzahler beiseite – im Interesse des Handlungsspielraums der Politik.

Geolitico: Sagt das Urteil irgendetwas darüber aus, wie die weitere europäische Integration politisch aussehen könnte?

Arnim: Kanzlerin Angela Merkel und Finanzminister Wolfgang Schäuble haben wiederholt gesagt, wir müsste mehr Kompetenzen auf Europa übertragen. Das zielt in Richtung eines Bundesstaates. Der aber kann nicht ohne eine neue , vom Volk durch Volksabstimmung abgesegnete Verfassungsänderung geschehen. Dahinter wiederum steht die Frage: Soll das Volk unmittelbar darüber entscheiden oder der Bundestag und der Bundesrat?

Geolitico: Was empfehlen Sie?

Arnim: Das hat das Grundgesetz –auch in der Auslegung des Bundesverfassungsgerichts – bereits entschieden. Das Volk muss entscheiden. Dann müsste die Politik endlich mal erklären, worum es ihr geht. Dann gäbe es endlich mal eine offene Pro- und Kontra-Diskussion. Das wäre ein ganz wichtiger Effekt, der derzeit fehlt, was wiederum Misstrauen schafft und das Vertrauen in die Regierung unterhöhlt.

Geolitico: Hat die Regierung in der Europapolitik bis hin zum ESM nicht bereits die Weichen so gestellt, dass ein Zurück kaum noch möglich erscheint?

Arnim: Selbst wenn das so aussieht, eine breite und auch von der Regierung offen geführte Diskussion würde die Menschen jedenfalls mit ins Boot holen. Diese psychologische Wirkung sollten wir nicht unterschätzen. Und selbst wenn das Volk mehrheitlich nein sagen sollte, wäre Europa noch lange nicht verloren.

Veröffentlicht am 13. September 2012 in „Die Welt

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Über Günther Lachmann

Der Publizist Günther Lachmann befasst sich in seinen Beiträgen unter anderem mit dem Wandel des demokratischen Kapitalismus. Er veröffentlichte mehrere Bücher, darunter gemeinsam mit Ralf Georg Reuth die Biografie über Angela Merkels Zeit in der DDR: "Das erste Leben der Angela M." Kontakt: Webseite | Twitter | Weitere Artikel

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