Politik zwischen Panik und kalkulierter Erpressung

Hier geht's zum Phoenix-Video über das Euro-Rettungsschirm-UrteilAls die Titanic der Kollision mit dem Eisberg bereits gefährlich nahe war, spielte noch die Musik und der Kapitän wog sich selbst, seine Mannschaft und die Passagiere in Sicherheit. Sie hatten nicht die geringste Ahnung, wie ihre Reise enden würde. Im Gegensatz dazu herrscht auf der Brücke der Europäischen Union bereits Panik und nackte Angst vor dem Untergang.

Derzeit kursieren die schrecklichsten Szenarien darüber, was alles geschehen könnte, wenn die Eurozone kollabiert. BMW-Chef Norbert Reithofer warnt, das Auseinanderbrechen des Euros „wäre eine Katastrophe“, deren drohende Folgen er sich „am liebsten gar nicht ausmalen“ möchte. Das muss er auch gar nicht, denn das können Investoren und Politiker bereits in eilig erstellten Studien lesen. Die niederländische Bank ING etwa sagt den Ländern der Euro-Zone einen Verlust von über einer Billion Euro allein in den ersten beiden Jahren nach dem Zusammenbruch der gemeinsamen Währung voraus.

„Dagegen erscheint die Rezession nach der Pleite der Investmentbank Lehman-Brothers  fast wie ein vernachlässigbarer Betriebsunfall“ schreibt der „Spiegel“. Noch düsterer sei eine Prognose des Bundesfinanzministeriums. Es rechne mit über fünf Millionen Arbeitslosen: „Schlagartig wäre es vorbei mit dem Beschäftigungswunder, stattdessen würden Banken und Unternehmen reihenweise zusammenbrechen, weil sie Forderungen und Beteiligungen abschreiben müssten.“

Kurs ins Verderben

Unbegründet ist die Furcht vor der Katastrophe ganz sicher nicht. Denn so wie die Titanic zielstrebig auf den Eisberg zusteuerte, hat der Kontinent wohl inzwischen jenen kritischen Punkt erreicht, an dem sich die Dinge radikal verändern. Auch Europa ist am Eisberg angekommen.

Spätestens als mit Spanien die viertgrößte Volkswirtschaft der Europäischen Union ihren Offenbarungseid leistete und mit Italien möglicherweise ein echter Industrieriese kurz davorsteht, zeigt sich, dass der bisherige Kurs der selbst ernannten Rettungspolitiker geradezu ins Verderben führte. Seit ihrem Ausbruch im Frühjahr 2010 hat sich die Krise immer weiter ausgebreitet.

Konsequenzen aus dem Katastrophenkurs

Interessant ist nun, welche Konsequenz jene Rettungspolitiker aus ihrem bisherigen Katastrophenkurs ableiten: Unter der dem Eindruck einer unmittelbar bevorstehenden Apokalypse wollen sie mit aller Macht und in aller Eile das sturmreife Schiff Europa ohne Segel und Masten in einen unbekannten Hafen mit gefährlichen Untiefen manövrieren. Ihre Versuche muten in etwa so an, als hätte der Kapitän der Titanic im Angesicht der tödlichen Gefahr, als unmittelbar vor der Kollison und bei voller Fahrt den Befehl zum Ankern gegeben.

Und mit welchen Mitteln genau will die politische und finanzpolitische Elite das neue Europa in dem noch fernen Hafen bugsieren? Sie wollen Risiken und Schulden vergemeinschaften und eine europäische Haushaltsaufsicht über nationale Budgets schaffen. Sie planen eine Schuldenagentur, für die alle Mitglieder haften, und eine Bankenunion mit einem einheitlichen Einlagensicherungsfonds für die Sparguthaben in allen Euro-Staaten. Das Fundament dieses neuen Europas sehen sie im Fiskalpakt und dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM).

Nachtsitzung – an einem Freitag!

Sie scheuen keinen Aufwand, damit all das Wirklichkeit wird. Für die Verabschiedung von ESM und Stabilitäspakt in Bundestag und Bundesrat wurde sogar eigens eine Nachtsitzung angesetzt – an einem Freitag!

[youtube http://www.youtube.com/watch?v=DHmcRAmsWb4&w=560&h=315]Nur das Verfassungsgericht gebot dieser Nacht- und Nebelaktion Einhalt, indem es den Bundespräsidenten bat, das ESM-Gesetz vorerst nicht zu unterzeichnen. Das Gericht schritt offenbar ein, weil es als Folge dieser Politik einen „Identitätswechsel der Bundesrepublik Deutschland“ nicht ausschließt. Über einen solchen Identitätswechsel müssten die Bürger gemäß Artikel 146, also per Volksabstimmung entscheiden, stellte es bereits in einem Urteil zum EU-Vertrag von Lissabon fest.

„Kalter Putsch gegen das Grundgesetz“

Neben den Verfassungsrichtern fürchtete einzig die Linken-Politikerin Sarah Wagenknecht einen „kalten Putsch gegen das Grundgesetz“. „Der Fiskalpakt hebelt die Mitbestimmungsrechte des Parlaments aus und schränkt den Spielraum aller künftigen Regierungen entscheidend ein“, sagte sie im „Focus“ und forderte: „Wenn der Geist der Verfassung geändert wird, dann kann das nur in einer Volksabstimmung geschehen.

Wer meint, diese Reaktionen seien übertrieben, der hat ein „Spiegel“-Interview mit Wolfgang Schäuble über die Pläne für ein neues Europa nicht richtig gelesen. „Wenn (…) man zu dem Schluss kommt, dass die Grenzen des Grundgesetzes erreicht sind, dann sagt das Verfassungsgericht zu Recht: Man kann gern mehr Rechte nach Brüssel übertragen, aber darüber muss das deutsche Volk entscheiden“, sagt der Finanzminister und räumt damit ein, dass Deutschland sich womöglich von seinem Grundgesetz verabschieden müsse.

Krise als Mittel zum Zweck?

Auch auf die Frage, wie die Politik die Deutschen zu diesem Schritt bringen will, hat Schäuble eine Antwort. „Je mehr die Menschen sehen, was auf dem Spiel steht, desto mehr sind sie bereit, die richtigen Konsequenzen zu ziehen“, sagt er auf die Frage, ob er die Krise herbeigesehnt habe, um die Geburtsfehler des Euro auszumerzen. Oder anders ausgedrückt, je größer die Not der Menschen ist, desto schneller sind sie bereit, dieser Politik zu folgen.

Eine solche Politik braucht weder Kurs noch Kompass, sie braucht keine Argumente. Sie operiert allein mit der Angst.

Günther Lachmann am 26. Juni 2012 für Welt Online

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Über Günther Lachmann

Der Publizist Günther Lachmann befasst sich in seinen Beiträgen unter anderem mit dem Wandel des demokratischen Kapitalismus. Er veröffentlichte mehrere Bücher, darunter gemeinsam mit Ralf Georg Reuth die Biografie über Angela Merkels Zeit in der DDR: "Das erste Leben der Angela M." Kontakt: Webseite | Twitter | Weitere Artikel

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