Das neue Europa kommt quasi als Notverordnung

Alle Welt spricht derzeit über eine Reform der Europäischen Union. Von einer „politischen Union“ ist die Rede, auchHier geht's zum YouTube-Video "Weg zur Fiskalunion unwiderruflich eingeschlagen" von einer „Bankenunion“, also einer zentralisierten Kontrolle aller europäischen Banken, was letztlich auch die Haftung des deutschen Steuerzahlers für Spareinlagen in ganz Europa zur Folge hätte. Grundlage für beides soll der Fiskalpakt sein. Und am Ende dieses Veränderungsprozesses könnte ein völlig neues Europa stehen. Bereits bis zum Jahresende sollen die Grundpfeiler gesetzt sein. Aber was genau ist eigentlich eine politische Union? Und: Geht es bei dieser EU-Reform eigentlich auch noch um ein Mehr an Demokratie?

„Die Demokratie ist so kompliziert wie Europa“, sagt Finanzminister Wolfgang Schäuble dieser Tage vor vielleicht Tausend begeisterten Unternehmern und Managern beim CDU-Wirtschaftsrat.  „Und Europa ist wahnsinnig kompliziert.“ Schäuble sagt aber auch: „Wir brauchen mehr Europa.“

Deshalb hat Kanzlerin Angela Merkel vier Männer beauftragt, das neue Europa zu entwerfen. Die Planung liegt in den Händen von José Manuel Barroso, Präsident der Europäischen Kommission, Herman Van Rompuy, EU-Ratspräsident, Mario Draghi, Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB) und Jean Claude Juncker, Chef der Euro-Gruppe. Seit sie den Auftrag erhielten, telefonieren die Vier angeblich täglich miteinander. In der kommenden Woche wollen sie sich dann endgültig auf ein gemeinsames Konzept einigen und dieses an die Regierungen der Mitgliedsländer verschicken, schreibt der „Spiegel“.

Bisher galt, dass demokratische Reformen ohne ausgiebige Debatten undenkbar und folglich überaus zeitraubend seien. Schon gar nicht seien sie von Heute auf Morgen zu machen. Schließlich müssen Verträge verhandelt, Parlamente gehört und demokratische Beschlüsse möglicherweise bis hin zur Volksabstimmung organisiert und gefasst werden.

Bei der Verwandlung Europas in eine politische Union scheinen diese Gesetzmäßigkeiten außer Kraft gesetzt. Jedenfalls reden weder Schäuble, noch van Rompuy oder Juncker einer breit angelegten europäischen Debatte das Wort. Die Planungen werden unter dem Eindruck vollzogen, sie seien der einzige Weg den Zusammenbruch des Euros und damit Europas zu verhindern. Demnach würde die politische Union von den Staats- und Regierungschefs dem Bürger quasi notverordnet.

[youtube http://www.youtube.com/watch?v=kLRFEAN9dRs&w=560&h=315]An der Not der Euro-Staaten kann es wahrlich keinen Zweifel geben. Aber gerade die aktuelle Notlage sollte Anlass genug sein, bei der politischen Reform der EU genau hinzusehen und sorgsam vorzugehen, damit dieses Europa am Ende dann auch tatsächlich ein demokratisches, sprich von seinen Bürgern legitimiertes Gebilde ist.

Zentraler Baustein des neuen Europas ist derzeit die geplante Fiskalunion, in der die Mitgliedstaaten nur noch mit Zustimmung aus Brüssel neue Schulden machen dürfen. Das heißt, sie geben mit der finanziellen Souveränität  eines der vornehmsten demokratischen Rechte auf. Das ist nur dann demokratisch vertretbar, wenn dieser Rechtsverlust auf europäischer Ebene ausgeglichen wird.

Aber sehen die Pläne das vor? Künftig müssten die Mitgliedsländer ihren Finanzbedarf zur Genehmigung der Gruppe der EU-Finanzminister melden, aus der einer von ihnen übrigens zum Europäischen Finanzminister aufsteigen soll. Die Ministerrunde wird dann gemeinsam über die Schuldenwünsche entscheiden und diese gegebenenfalls mit Euro-Anleihen (Euro-Bonds) finanzieren. Das heißt, die finanzielle Haftung für alle neuen Schulden wird vergemeinschaftet.

[youtube http://www.youtube.com/watch?v=d6JKlbbvcu0&w=560&h=315]Diese Praxis soll nach den Vorstellungen von Barroso, van Rompuy, Draghi und Juncker angeblich NICHT vom Europäischen Parlament kontrolliert werden. Sie empfehlen demnach eine kleine Gruppe aus Vertretern nationaler Parlamente als Kontrollinstanz. Wenn das so stimmt, dann schlagen sie wieder den alten europapolitischen Weg ein, der echten demokratischen Ansprüchen nie gerecht geworden ist.

Nötig ist etwas anders. In einer wahrhaft demokratisch legitimierten politischen Union muss die Beamten-Herrschaft der Kommission endlich durch eine gewählte Regierung ersetzt werden, die wiederum vom europäischen Parlament kontrolliert wird.

Oder um es mit Jürgen Habermas zu sagen: „Die Europäische Union wird sich langfristig nur stabilisieren können, wenn sie die unter dem Zwang ökonomischer Imperative fälligen Schritte zu einer Koordinierung der relevanten Politiken nicht im bisher üblichen gubernativ-bürokratischen Stil, sondern auf dem Weg einer hinreichend demokratischen Verrechtlichung vollzieht.“

Eine „Notverordnung“ kann das ganz sicher nicht leisten. In einer aktuellen Studie für die Friedrich-Ebert-Stiftung mit dem Titel „Vom Euro-Krisenmanagement zu einer neuen politischen Architektur in der EU?“ schreibt der Politikwissenschaftler Hans-Wolfgang Platzer: „Auch wenn Krisen  notwendigerweise die Stunden der Exekutive sein mögen, hat das reale Euro-Krisenmanagement innerhalb der Machtarchitektur der EU technokratische, hegemoniale und intergouvermentale Politikmuster zu Lasten demokratisch-parlamentarischer Prinzipien und zu Lasten der Gemeinschaftsmethode verstärkt.“

Er schreibt auch: „Wohl in keiner Phase der bisherigen Integrationsgeschichte war somit eine Debatte über eine Reform der Kompetenzordnung und der politischen Entscheidungsstrukturen der EU so dringlich wie zum gegenwärtigen Zeitpunkt.“

Leider geschieht genau das nicht. Vorerst entsteht das neue Europa in den Telefonkonferenzen eines exklusiven Vierer-Klubs. Aber niemand ruft den in diesen Fragen unverzichtbaren Konvent ein, „der losgelöst vom tagesaktuellen Krisenmanagement, aber doch unter Verarbeitung der während der Beratungszeit gemachten Problemlösungserfahrungen eine neue Kompetenz- und Entscheidungsarchitektur der EU vorbereitet“, wie Platzer vollkommen zu Recht fordert.

Seiner Ansicht nach sollte das Kernziel der Reform eine „supranationale Wirtschaftsregierung unter Kontrolle eines gestärkten europäischen Parlaments“ sein. Die seinerzeit noch von Angela Merkel und Nicolas Sarkozy angedeuteten Vorstellungen einer europäischen Wirtschaftsregierung entzogen sich allerdings der Kontrolle des europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente.

Es ist nicht so, dass die Regierenden das demokratische Defizit ihrer Pläne nicht sähen. EU-Kommissionspräsident Barroso räumt ein, dass die politische Integration wohl doch noch irgendwie legitimiert werden müsse. Dazu schlägt er etwa die Direktwahl des Kommissionspräsidenten durch die Bürger vor.

Das ist sicher kein schlechter Vorschlag. Aber er sichert nicht das, was derzeit am Nötigsten ist, nämlich den Zugriff der Bürger auf die Macht und damit die Möglichkeit, Regierende abzuwählen und über die Parlamente Entscheidungen zu korrigieren.

Hier geht's zum ZDF-Interview mit Euro-Gruppenchef Jean Claude Juncker

Plant das neue Europa: Euro-Gruppen-Chef Jean-Claude Juncker. Quelle: ZDF

Nur zur Erinnerung: Erst das Bundesverfassungsgericht stellte sicher, dass die Kontrollrechte des Bundestages beim Europäischen Stabilitätsmechanismus gewahrt blieben. Ursprünglich sollte ein geheim tagendes Gremium des Bundestags-Haushaltsausschusses den aus den Finanzministern der Länder gebildeten Gouverneursrat beaufsichtigen. Eine irrige Vorstellung. Ob allerdings ein einziges nationales Parlament gegen den massiven Druck der Gemeinschaft letztlich den Gouverneursrat wird korrigieren können, darf zumindest angezweifelt werden.

Dennoch macht die Politik Druck. Gerade für Deutschland sei dieses neue Europa unheimlich wichtig, sagt Schäuble: „Wir hätten nicht annähernd die heutige wirtschaftliche, soziale und politische Situation in Deutschland, wenn wir vor Jahrzehnten nicht Europa gemacht hätten.“ Darum gelte: „Gut für Deutschland ist, was gut ist für Europa.“

Aber was ist gut für Europa? Ganz einfach: Wenn die Bürger darin die Hauptrolle spielen. Das ist die Maxime, an der sich alle Politik ausrichten muss. Europa braucht ein Mehr an Demokratie. Leider sieht es nicht so aus, als ob es dazu kommen würde.

Günther Lachmann am 14. Juni 2012 für Welt Online

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Über Günther Lachmann

Der Publizist Günther Lachmann befasst sich in seinen Beiträgen unter anderem mit dem Wandel des demokratischen Kapitalismus. Er veröffentlichte mehrere Bücher, darunter gemeinsam mit Ralf Georg Reuth die Biografie über Angela Merkels Zeit in der DDR: "Das erste Leben der Angela M." Kontakt: Webseite | Twitter | Weitere Artikel

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