Deutschland soll der Sündenbock sein

Link to The Economist: Start the engines, Angela

Leitartikel im britischen Magazin "The Economist".

Mit aller Macht wird das gewaltige Vorhaben der weiteren politischen Einigung, sprich die Zentralisierung Europas vorangetrieben. Bislang galt als Maßstab der Fünf-Punkte-Plan der Vizepräsidentin der EU-Kommission, Viviane Reding, in dem sie eine institutionelle Erneuerung der EU bis zum Jahr 2020 vorschlug. Im kommenden Jahr sollte eine breit angelegte Diskussion mit den Bürgern die Voraussetzungen ausloten, schlug sie vor. Nun sieht es so aus, als müsse alles Hals über Kopf geschehen. Warum nur?

Nach den französischen Parlamentswahlen am am 17. Juni will Ratspräsident Herman Van Rompuy auf dem EU-Gipfel am 28. Und 29. Juni die Eckpunkte bekanntgeben. Ende des Jahres soll der Fahrplan bereits unter Dach und Fach sein. Das Europäische Parlament ist an die Planungen übrigens nicht beteiligt.

Begründet wird die Eilbedürftigkeit der politischen Einheit mit der Finanzkrise. Dabei galt sie kurzzeitig doch sogar schon als überwunden. Italiens nichtgewählter Regierungschef Mario Monti hatte noch zu Beginn des Jahres behauptet: „Europa ist durch eine schwere Krise gegangen. Ich glaube aber, jetzt ist die Krise fast überstanden.“ „Das Schlimmstes ist vorbei“, pflichtete ihm der Präsident der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, bei.

Auch Deutschland war voller Optimisten. „Deutsche Konjunktur im Aufwind“, verkündete die Bundesregierung, gestützt auf das Frühjahrsgutachten der führenden Wirtschaftsforschungsinstitute  noch im April.

Von der Realität eingeholt

Hier geht's zu den Außenhandelsdaten auf dem Blog "Querschüsse"

Entwicklung des Außenhandels. Quelle: www.querschuesse.de

Kaum zwei Monate später werden sie von der Realität eingeholt. Die Weltkonjunktur taumelt, und der deutsche Export knickt um 1,7 Prozent ein. Wegen der schwachen Auslandsnachfrage gehen auch die Auftragseingänge der Industrie inzwischen um 3,6 Prozent zurück. Griechenland ist noch keinen Schritt weiter, und Spaniens Banken müssen mit Milliardenhilfen gerettet werden, damit die viertgrößte Volkswirtschaft der EU nicht das ganze europäische Haus zum Einsturz bringt.

Also schaltet die Politik von der Alles-Wird-Gut-Haltung wieder auf den Krisenmodus um. Aber irgendetwas ist anders als zuvor, etwas Grundsätzliches hat sich verändert. Es geht nicht mehr nur um Rettungsszenarien. Es geht um ein gänzlich neues Europa und ganz zentral um die Rolle, die Deutschland nach dem Willen der anderen jetzt und später darin übernehmen soll. Und dazu gehört auch die des Sündenbocks.

Schon fangen angelsächsische Politiker und Medien an, den Deutschen diese Rolle auf den Leib zu schreiben. Bei ihnen ist die Stimmung so tief gesunken wie der Tanker auf dem Titel des britischen „Economist“, aus dem eine Sprechblase mit den Worten aufsteigt: „Können wir jetzt bitte die Maschinen starten, Frau Merkel?“ Im dazu gehörgien Leitartikel schreibt das Blatt: „Es ist allerhöchste Zeit, dass die europäischen Politiker eine abschließende und dauerhafte Lösung für den Euro finden.“ Und weiter: „Es liegt an Ihnen, Frau Merkel.“

Die Leiden der US-Wirtschaft

Ins gleiche Horn stoßen die „Financial Times“, US-Präsident Brarack Obama und Großbritanniens Premier David Cameron. „Warten auf Angela Merkel“, schreibt die „FT“. Und in einem Telefonat mit Cameron fordert Obama, es müsse „einen sofortigen Plan zur Lösung der Krise und zur Wiederherstellung des Vertrauens an den Märkten“ geben.

[youtube http://www.youtube.com/watch?v=90OUqO6foIw&w=560&h=315]Gemeinhin werden Telefonate mit dem US-Präsidenten nicht öffentlich gemacht, da muss schon ein gewichtiger Anlass vorliegen. Die Begründung dafür, warum es in diesem Fall geschah, liefert tags darauf die „Washington Post“ und gibt den Blick frei auf eine angeschlagene Weltmacht. US-Unternehmen aus allen Branchen würden durch die europäische Misere in Mitleidenschaft gezogen, schreibt das Blatt. Betroffen seien die Nahrungsmittelproduzenten, die Bekleidungsindustrie, aber auch Hotels und die Technologiesparte.

Will heißen, wenn die Europäer ihre Krise nicht bald in den Griff bekommen, könnte die ohnehin fragile US-Wirtschaft vollständig wegbrechen. Das hätte fatale Folgen für die Gesellschaft, aber auch für das politische Amerika. Die Wiederwahl von Obamas zum US-Präsidenten in diesem Jahr jedenfalls wäre massiv gefährdet.

„Das europäische Haus in Flammen“

Wie stark der Wille ist, die Deutschen zum Projekt der Europäischen Einigung zu drängen, belegt zudem ein alarmistischer Zeitungs-Beitrag von Ex-Außenminister Joschka Fischer, der enge Beziehungen in die USA unterhält und dort etwa die Albright Group LLC  der früheren US-Außenministerin Madeleine Albright berät. „Das europäische Haus steht in Flammen“, schreibt er in der „Süddeutschen Zeitung“. „Europa steht heute am Abgrund und wird in eben diesen in den kommenden Monaten hineinfallen, wenn jetzt nicht Deutschland und Frankreich gemeinsam das Steuer herumreißen und den Mut zu einer Fiskalunion und politischen Union der Euro-Gruppe aufbringen.“ Es gehe um Tage und Wochen, Monate vielleicht, aber nicht mehr um Jahre.

Hier geht's zum Welt-Online-ericht über den Beitrag Joschka Fischers

Bericht auf Welt Online

Fischer benennt aber nicht nur den Zeitplan für das gewaltige Vorhaben der weiteren politischen Einigung, sprich die Zentralisierung Europas vor und benennt die wichtigsten Punkte. Der von ihm gezogene historische Vergleich ist noch bemerkenswerter.

„Im 20. Jahrhundert hat Deutschland zweimal mit Krieg bis hin zum Verbrechen und Völkermord sich selbst und die europäische Ordnung zerstört, um den Kontinent zu unterjochen“, so Fischer. „Es wäre eine Tragödie und Ironie zugleich, wenn jetzt, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, das wiedervereinigte Deutschland, diesmal friedlich und mit den besten Absichten, die europäische Ordnung ein drittes Mal zugrunde richten würde.“

Fischers Vergleich mit dem Holocaust

Fischer nutzt die Erinnerung an Weltkriege und Holocaust, um die Bewertung des aktuellen Handelns in der Finanzkrise mit all ihren Implikationen in eine moralische Kategorie zu verschieben. Aus dieser Perspektive betrachtet, geht es nicht mehr um immense Schulden, sondern um sittliche Schuld. Um nationale Schuld. Und sie rückt Deutschland ins Zentrum.

Was sagen all diese Reaktionen und Drohungen letztlich aus? Sie sind in erster Linie Belege der Angst.  Anscheinend weiß niemand einen Ausweg aus der Krise. Weit und breit ist kein Politiker, kein Ökonom oder Finanzwissenschaftler zu sehen, der eine Perspektive anzubieten hätte. Offensichtlich flüchten sie sich gerade aus diesem Grund  in das europäische Großprojekt.

Motive der Eliten

„Die politischen und wirtschaftlichen Eliten hänge von der Weiterexistenz der Währungsunion ab“, sagt der Chefvolkswirt der Commerzbank, Jörg Krämer, der „FAS“. Um sie zu erhalten, würden sie fast alles tun.

Angst aber war noch nie ein guter Ratgeber. Sie sollte schon gar nicht dazu verleiten, sich Hals über Kopf in eine dann vielleicht mehr schlecht als recht gestaltete politische Union zu flüchten.

Und das gilt erst recht für ein Land wie Deutschland, das für die von den Politikern anderer Länder gemachten Schulden nicht verantwortlich ist und nun gar noch durch Schuldzuweisungen gedrängt werden soll. Deshalb, Frau Merkel, lassen Sie sich nicht beirren und bleiben sie eine kühle Physikerin der Macht!

Günther Lachmann am 10. Juni 2012 für Welt Online

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Über Günther Lachmann

Der Publizist Günther Lachmann befasst sich in seinen Beiträgen unter anderem mit dem Wandel des demokratischen Kapitalismus. Er veröffentlichte mehrere Bücher, darunter gemeinsam mit Ralf Georg Reuth die Biografie über Angela Merkels Zeit in der DDR: "Das erste Leben der Angela M." Kontakt: Webseite | Twitter | Weitere Artikel

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