Europa zwischen Aufschwung und Selbstmord
Völlig frei von solchen Ängsten sind die Vertreter der deutschen Wirtschaft und der Politik. Sie verströmen größte Zuversicht.
Auf wundersame Weise unbeeindruckt von den katastrophalen Wirtschaftsdaten Südeuropas, vom Zerfall der Regierungen in den Niederlanden und Tschechien sowie dem Rückschlag für Frankreichs Präsident Nicholas Sarkozy in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen prophezeien Ökonomen, Politik und Wirtschaftsverbände in Deutschland für dieses Jahr einen Aufschwung.
„Die Auswirkungen der europäischen Schuldenkrise auf die deutsche Wirtschaft bleiben begrenzt“, doziert der Konjunktur-Experte vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, Ferdinand Fichtner und sagt für das laufende Jahr ein Wachstum von einem Prozent voraus.
Im kommenden Jahr soll es dann sogar rund 2,4 Prozent nach oben gehen. „2013 wird es sogar einen kleinen Boom geben“, freut sich auch der parlamentarische Geschäftsführer der CDU-Bundestagfraktion, Peter Altmaier. „Und ich möchte betonen, dass diese Regierung daran maßgeblichen Anteil hat.“ Deutschland, Insel der Glückseligen?
Ins gleiche Horn stößt der Präsident des Bundesverbandes der Industrie (BDI), Hans-Peter Keitel. Er rechnet in diesem Jahr mit einem Wirtschaftswachstum von „etwas über einem Prozent“.
Ein Rätsel bleibt allerdings, woher Keitel, Fichtner, Altmaier und Co. ihren Optimismus nehmen. Denn die realen Zahlen sagen etwas anderes.
So bricht die Nachfrage der Industrie gerade weg. Von Aufschwung ist keine Spur (http://www.ftd.de/finanzen/:einkaufsmanagerindex-europas-industrie-schwaechelt-massiv/70026323.html ). Der Einkaufsmanagerindex fiel im April um 1,7 auf 46,0 Zähler und landet damit auf dem tiefsten Stand seit 33 Monaten. Erst ab der 50-Punkte-Marke signalisiert der Index potenzielles Wachstum. Auch im Dienstleistungssektor fiel der Index um 1,3 auf 47,9 Punkte.
Die britische „Financial Times“ titelt denn auch „Rückschlag durch die Sparpolitik für Europas Regierungschefs“ und folgert: „Die Eurozone rutscht in eine tiefere Rezession.“
Auch hierfür gibt es handfeste Belege. Standard & Poor`s senkt die Kreditwürdigkeit Spaniens um zwei Stufen auf BBB+. Spaniens Staatsfinanzen sind inzwischen desolat. In diesem Jahr wird die Wirtschaftsleistung vermutlich um 1,5 Prozent schrumpfen. So fing es auch in Griechenland und Portugal an.
Italiens Wirtschaft dürfte in diesem Jahr ebenfalls um 1,2 Prozent schrumpfen. Erwartet wurde allenfalls ein Minus von 0,4 Prozent. Damit haben sich die auf die undemokratische „Expertenregierung“ von Präsident Mario Monti gesetzten Hoffnungen nicht erfüllt.
Und nach einigen Jahren brutaler Sparpolitik nähert sich auch Irland wieder dem Abgrund. Finanzminister Michael Noonan senkt die Wachstumsprognose von 1,3 auf 0,75 Prozent, nachdem die Wirtschaft Ende des vergangenen Jahres bereits wieder geschrumpft war. „Das Volk akzeptiert die Radikalkur wie einen Ablass für die Sünden vor dem Zusammenbruch“, schreibt die „Zeit“ über die darbenden Iren, die den Südeuropäern gern als Beispiel vor Augen geführt werden, weil diese für einen solchen „Ablasshandel“ nur wenig empfänglich sind.
Woher also sollte ein deutscher Aufschwung kommen? Wem sollen die Unternehmen ihre Waren künftig verkaufen? Den Griechen, den Portugiesen, den Iren oder den Spaniern, die allesamt kaum genug zum Leben haben? In der Vergangenheit bezahlten diese Länder den deutschen Exportboom mit Schulden. Das ist vorbei. Jetzt wird gespart.
Unter anderem deshalb sind heute so viele Menschen in Europa arbeitslos wie nie zuvor. Es sind fast 25 Millionen.
Weil also Europa selbst keine Wachstumskräfte mehr besitzt, wäre ein Konjunkturimpuls aus anderen Teilen der Welt dringend vonnöten. Aber sogar der weltweite Wachstumsmotor China bremst überraschend stark ab. Und in den USA, eines der wichtigen Absatzländer für deutsche Produkte, liegt die Wirtschaft nach wie vor am Boden. Von dort kommen sogar schlechte Nachrichten für die deutsche Wirtschaft. Der US-Autobauer General Motors will das Opel-Werk in Bochum mit 3300 Beschäftigten schließen. Ford beantragt für 4000 Arbeitnehmer Kurzarbeit in seinem Kölner Werk. Und gerade heute kündigt das Traditions-Versandhaus Neckermann Massenentlassungen an. Es will 2500 Mitarbeitern kündigen.
All das deutet nicht auf einen Aufschwung und nachhaltiges Wachstum, sondern eher auf eine heraufziehende Katastrophe hin. Wer immer etwas anders zu sehen meint, muss Anhänger einer mysteriösen Glaubensgemeinschaft sein – oder ein Scharlatan.
Günther Lachmann am 27. April 2012 für Welt Online