Unfassbar – Der deutsche 9/11-Terrorist Bahaji

Hier geht's zum Text auf Welt OnlineAm 3. September 2001verschwindet Said Bahaji für immer aus seinem bisherigen Leben. Zurück lässt er eine kaum 20 Jahre alte Ehefrau und seinen gerade mal fünf Monate alten Sohn Omar, der seinen Vater wohl nie kennenlernen wird. In zwei Tagen wird sich sein Freund Ramzi Binalshibhh über Spanien nach Pakistan absetzen. Und in acht Tagen werden ihre gemeinsamen Freunde um den Ägypter Mohammed Atta vier Passagierjets entführen, zwei davon in das New Yorker World Trade Center steuern, eine weitere Maschine auf das Pentagon stürzen und mit der Vierten über dem Ort Shanksville abstürzen. Über 3000 Menschen werden durch ihre wahnsinnige Tat sterben. Sie werden eine neue, bis dahin unvorstellbare Dimension des Terrors schaffen.

Bahaji ist zu diesem Zeitpunkt 26 Jahre alt. Er ist Deutscher, geboren 1975 als Sohn eines marokkanischen Bauern und einer deutschen Mode-Direktrice in Haselünne, einer Kleinstadt im Emsland. Bis gestern noch studierte er Informatik an der Technischen Universität Hamburg Harburg. Doch seit einiger Zeit interessiert ihn der radikale Islam mindestens so sehr wie die Welt der Computer. Er musste nicht lange suchen, um ihn in der al-Quds-Moschee am Steindamm zu finden.

Dort in der Teestube traf er Gleichgesinnte. Im Gebetsraum berauschten sie sich an den Tiraden des marokkanischen Predigers Mohammed Fazazi gegen die Welt der Ungläubigen. Und irgendwann ließ sie dieser Rausch, dieser Wahn nicht mehr los.

An diesem Montag, dem 3. September 2001, ist vom engen Kreis dieser fanatischen Gruppe nur noch der Jemenit Ramzi Binalshibhh in der Stadt. Die Flugzeug-Attentäter waren schon vor geraumer Zeit in die USA gereist. Und jetzt drängt offenbar die Zeit für Bahaji.

Gestern besuchten ihn seine Schwester Maryam und seine Schwiegerelter Ibrahim und Aise Scholz zum bevorstehenden Abschied. So jedenfalls schreibt es das „Wall Street Journal“ im November 2009. Demnach sagt er den Schwiegereltern und seiner Frau Nese, geschäftlich nach Pakistan zu müssen. Doch wie ein Geschäftsreisender sieht er nicht aus, als er am Morgen des 3. September dann von seinem letzten Moscheebesuch in Hamburg zu seiner Frau zurückkehrt: sein volles Haar ist plötzlich kurz geschoren. Nun verabschieden sich auch die beiden voneinander. Nele weiß nicht, dass es ein Abschied für immer sein wird. Dann fährt der Schwiegervater ihn zum Flughafen Fuhlsbüttel.

Auch Bahajis Eltern sind über die Reisepläne informiert. Vor wenigen Tagen erst hat er sie in Marokko angerufen. „Papa, ich gehe sechs Wochen nach Karachi“, wird er im Januar 2002 vom „Spiegel“ zitiert. „Ja, ist gut“, antwortete der Vater. „Pass auf, dass Leute dich nicht in etwas reinziehen.“ Seine Mutter Anneliese wollte ihm noch Geld für die weite Reise zukommen lassen. Doch ihr Sohn lehnte ab. Er bekomme das „vergütet“, sagte er. So wie die Mutter früher ihre vielen Reisen zu Modemessen vergütet bekam.

Bahaji reist keineswegs übereilt. Für diesen Tag hat er alles wohlgeordnet. Dazu zählen auch seine Besuche in Hessen. In Frankfurt, Mainz, Wiesbaden und Darmstadt traf er in den vergangenen Wochen Ägypter, Palästinenser, Iraker und Marokkaner, berichtet „Focus“ im Januar 2005. Außerdem kaufte er bei seinem Besuch in Frankfurt noch mit seiner Kundenkarte in einer „Quelle“-Filiale in der Zeil ein.

Jetzt steht er auf dem Hamburger Flughafen beim Check-in der Turkisch Airlines. Allerdings ist er nicht mehr allein. Mit ihm gehen mindestens vier Männer an Bord, die sich dem islamistisch-terroristischen Spektrum zurechnen lassen. Mit keiner Geste geben sie zu erkennen, dass sie miteinander bekannt sind. Zwei von ihnen weisen sich gegenüber den Zollbeamten als Abdellah Hosayni und Ammar Moula aus. Ihre Tickets haben sie am 14. August in Hamburg bar bezahlt. Das Einchecken verläuft problemlos. Wenige Minuten später hebt die Maschine mit Ziel Istanbul vom Rollfeld ab.

Bald schon werden Bahaji alle westlichen Geheimdienste auf den Fersen sein, von der CIA über den BND bis hin zum pakistanischen ISI. Er steht ganz oben auf den Fahndungslisten von FBI, Bundeskriminalamt und Interpol. Es gibt abgehörte Telefonate und abgefangene E-mails. Aber der junge Mann aus der Kleinstadt Haselünne im Emsland, der bis heute verdächtigt wird, die Terroranschläge des 11. September 2001 in Hamburg logistisch vorbereitet zu haben, scheint unauffindbar zu sein.

Wochen nach Bahajis Abflug finden die Sicherheitsbehörden heraus, dass die beiden mit ihm an Bord gegangenen Männer gar nicht Hosayni und Moula sind. Tatsächlich handelt es sich um die Algerier Ismail Ben Mrabete und Ahmet Taleb, die unter falschem Namen reisten. Ihre Ausweise wurden mit den Personalien zweier Asylbewerber gefälscht. Nun scheinen sich die ersten Teile eines großen Puzzles zusammenzufügen. Denn Bahaji war bereits einmal in Afghanistan, finden die Ermittler heraus. Dort soll er Mrabete und Taleb getroffen haben. Angeblich trainierten sie zusammen in derselben al-Qaida-Einheit.

Im Laufe ihrer Ermittlungen erfahren die Sicherheitsbehörden auch etwas über einen E-Mail-Kontakt zwischen Taleb und Abu Zubaydah, der in dieser Zeit als dritthöchstes al-Qaida-Führungsmitglied gilt.

Die beiden anderen Verdächtigen an Bord der Turkish Airlines sind laut der Passagierliste Mohammed Sarwar Joia und Patrick Joia. Wie Bahaji lebten die beiden Afghanen längere Zeit in Hamburg. Patrik Joia sitzt im Flugzeug direkt neben Said Bahaji.

In Istanbul checken sie alle für einen Weiterflug nach Pakistan ein. Außerdem gesellt sich ein weiterer al-Qaida-Verdächtiger zu ihnen, ohne jedoch direkt mit den Hamburgern in Kontakt zu treten.  Er heißt Mohammed Belfatmi. Der Algerier ist mit einem Flugzeug aus Spanien gekommen, wo er zuletzt lebte. Dort soll er zwischen dem 9. und 17. Juli 2001 im katalanischen Tarragona einen dreitägigen Aufenthalt von Mohammed Atta und Ramzi Binalshibhh organisiert haben, ermitteln spanische Sicherheitsbehörden schon bald. Zwar wird Binhalshibh dieser Darstellung später in seinen Aussagen gegenüber US-Beamten im Gefangenenlager Guantánamo widersprechen und behaupten, er sei mit Atta in Reua bei Barcelona zusammengetroffen. Auch sei niemand anderes in dieses Treffen involviert gewesen. Doch die spanischen Ermittler sind sich sicher, dass auch Spaniens al-Qaida-Chef Imad Eddin Barakat Yarkas dabei gewesen sein muss.

Über den Syrer Barakat schließt sich dann auch wieder der Kreis nach Hamburg. Denn nach seiner Festnahme sagt er vor einem Richter aus, er kenn in Hamburg einen Mann namens Mohammed Joia. Barak wird im September 2005 von einem spanischen Gericht zu 27 Jahren Haft verurteilt.

Als Belfatmi an diesem Montag, dem 3. September 2001, in Instanbul die Maschine nach Karachi besteigt, hat er ein in Madrid ausgestelltes Visum für Pakistan in der Tasche. Er fällt dem Bordpersonal ebenso wenig auf wie die anderen al-Qaida-Mitglieder.

Bis heute können die Sicherheitsbehörden nicht zweifelsfrei sagen, zu welchem Zweck genau die Fünf nach Karachi unterwegs sind. Aber einiges spricht für die These eines vorher verabredeten vertraulichen Treffens.

Zu dieser Zeit sind nämlich auch der Chefplaner der Terroranschläge vom 11. September, Khalid Scheich Mohammed, und der Indonesier Nurjaman Riduan Isamuddin in Karachi, berichtet die Internetseite „Historycommons“. Der Indonesier ist besser bekannt als Hambali, er führt al-Qaida in Asien und ist ein Weggefährte von Ramzi Yousef, der 1993 das Attentat auf das World Trade Center verübte und dafür in US-Haft sitzt. „Es ist aller Wahrscheinlichkeit nach ein Treffen mit dem Ziel, vor dem Countdown der Anschläge am 11. September letzte lose Fäden zusammenzuknüpfen“, zitieren pakistanische Medien später einen ISI-Mitarbeiter.

Nach ihrer Landung in Pakistan steigen die aus Hamburg kommenden Bahaji, Ismail Ben Mrabete und Ahmet Taleb im Hotel „Embassy“ ab, schreibt die „Chicago Tribune“. Es ist, gemessen an europäischen Standards, ein mehr als einfaches Haus mit drei pakistanischen Sternen. Die neuen Gäste wählen übrigens nicht nur das gleiche Hotel, sondern übernachten sogar alle gemeinsam im Zimmer 318. Als die Sicherheitsdienste dies später feststellen, haben sie keinerlei Zweifel mehr an der engen Verbindung der Gruppe.

Auch Belfatmi fährt ins „Embassy“. Allerdings wählt er ein Einzelzimmer, eine Etage unter den anderen. Was die sechs an diesem Tag machen werden, liegt im Dunkeln. Sollte es jedoch zum Treffen mit Scheich Mohammed und Hambali kommen, dann muss es innerhalb weniger Stunden stattfinden, denn bereits am nächsten Morgen verlässt Belfatmi das Hotel in aller Frühe mit unbekanntem Ziel.

Die Gäste aus Zimmer 318 haben es ebenfalls eilig. Um 4 Uhr, also noch vor Sonnenaufgang, checken sie aus. Said Bahaji besteigt ein Flugzeug nach Quetta, seine Begleiter nehmen den Bus. Quetta ist zu dieser Zeit eine Art Sammellager für gewaltbereite Islamisten aus aller Welt, die von dort nach Afghanistan einsickern wollen, um sich al-Qaida anzuschließen.

Hier landen auch Ibrahim Diab und Bekim Ademi. Sie folgen Bahaji am 10. September aus Hamburg und werden am 5. Oktober zusammen mit Mamdouh Habib, der später nach Guantánamo gebracht wird, von pakistanischen Sicherheitsdiensten festgenommen, schreibt das Blog „Blogmocracy“. Der Terrorverdacht gegen sie bleibt jedoch vage, und es kommt zu keiner Anklage.

Vier Wochen nach den Anschlägen in den USA gibt es auch eine neue Spur Joia-Brüder. Der eine trifft am 5., der andere am 16. Oktober 2001 in Istanbul ein. Einige Zeit später sollen sie sogar kurz in Deutschland aufgetaucht sein, behaupten amerikanische Medien. Belege dafür gibt es nicht. Seither sind sie spurlos verschwunden.

Nicht ganz so verhält es sich mit Said Bahaji. Zwar weiß niemand so genau, wo er sich aufhält. Aber immer wieder gibt es Lebenszeichen. Zuerst sind es zahlreiche E-Mails, die er seiner Ehefrau Nese schreibt. Die erste schickt er gleich nach seiner Ankunft in Karachi. „Viele Grüße aus Pakistan. Friede sei mit Euch und Gottes Segen. Allah sei gelobt, mit geht es gut. Ich bin gesund angekommen. Leider werde ich nicht häufig anrufen können, weil es zu teuer ist. Bitte grüße alle in Deiner und meiner Familie von mir. Alles ist gut“, schreibt er.

Ein zweites Mal meldet er sich am 1. Oktober 2001 bei seiner Mutter Anneliese. Alles sei gut, versichert er auch ihr. Dann bricht das Gespräch ab. Doch der E-Mail-Kontakt steht. Offensichtlich macht sich Bahaji Gedanken darüber, wie er seine Familie wieder zusammenführen kann. „Ich bin überzeigt davon, dass meine Rückkehr ein großer Fehler sein würde. Glaub nicht, dass sie mir gegenüber gerecht sein werden“, teilt er seiner Ehefrau am 20. Juli 2004 mit heißt es 2004 im „Spiegel“. Als Muslim dürfe er sich den Ungläubigen nicht beugen. „Meine Sorge ist vielmehr, wie ich Dich und Omar aus Deutschland herausholen kann.“ Er rät seiner Frau, sie solle ihm lediglich einmal die Woche schreiben.

Anders als Diab und Ademi scheint Bahaji den Weg in die afghanischen Terrorlager der al-Qaida gefunden zu haben. Das Leben dort dürfte seiner ohnehin schwachen Gesundheit nicht zuträglich sein. Er ist Asthmatiker und leidet an einer Metall-Allergie. Deswegen war er in Deutschland schon bald wieder aus dem Wehrdienst entlassen worden.

In Hamburg stellt die Polizei inzwischen seine Wohnung auf den Kopf. Sie finden etwa ein Bündel Fotos mit der Aufschrift „Saids Hochzeit“. Auf den Bildern sind unter anderen Binalshibh oder auch die Todespiloten Ziad Jarrah und Marwan al-Shehhi zu sehen. Den Polizisten fällt auch das Video der Hochzeitsfeier vom Oktober 1999 in die Hände. Spätestens jetzt sind sie fest davon überzeugt, dass Bahaji die Terrorpläne in den USA gekannt haben könnte.

In den folgenden Jahren wird es still um ihn. Aus den weiteren Ermittlungen bekommen die Sicherheitsbehörden ein immer klareres Bild. Danach war Bahaji so etwas wie der Logistiker der Atta-Gruppe. Angeblich ruft er seine Frau erst 2007 wieder einmal an. Es ist ein kurzes Gespräch, in dem er eigentlich nur mitteilt, dass er noch lebt, schreibt die „New York Times“. Aber er bleibt verschollen. Und schließlich reicht seine Ehefrau die Scheidung ein.

Sie reagiert erstaunt und betrübt zugleich, als pakistanische Soldaten im Oktober 2009 völlig unerwartet auf den deutschen Reispass ihres geschiedenen Mannes stoßen. Sie finden das Dokument zusammen mit anderen Unterlagen in einer Lehmhütte in Waziristan. Der Pass trägt noch den pakistanischen Einreisestempel vom 4. September 2001. Bis dahin ist es das letzte Lebenszeichen von Said Bahaji, sofern man einen gefundenen Pass überhaupt als Lebenszeichen werten kann.

Erst in diesem Jahr wächst die Gewissheit, dass er tatsächlich noch lebt. Grund zu dieser Annahme seien übereinstimmende Aussagen der al-Qaida-Aussteiger Rami Makanesi und Ahmad Sidiqi, berichtet der „Spiegel“. Die beiden erzählen dem Bundeskriminalamt, Bahaji sei bei einem Bombenangriff der Amerikaner am Bein verletzt worden und hinke seitdem. Angeblich bespricht er die von al-Qaidas Medienabteilung al-Sahab produzierten Propagandavideos und kümmert sich um die Technik. „Bahaji ist einer, der respektiert wird, weil er so lange dabei ist“, soll Makanesi gesagt haben. Glaubt man ihnen, dann lebt er heute mit einer Spanierin zusammen und hat mehrere Kinder mit ihr. Wie der Pass sind diese Aussagen Zeugnisse eines neuen, selbstgewählten Lebens in einer fernen, unwirtlichen Welt voller Gewalt und Entbehrungen. Oder anders ausgedrückt: Es sind Zeugnisse einer niemals endenden Flucht.

Günther Lachmann am 9. September für Die Welt

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Über Günther Lachmann

Der Publizist Günther Lachmann befasst sich in seinen Beiträgen unter anderem mit dem Wandel des demokratischen Kapitalismus. Er veröffentlichte mehrere Bücher, darunter gemeinsam mit Ralf Georg Reuth die Biografie über Angela Merkels Zeit in der DDR: "Das erste Leben der Angela M." Kontakt: Webseite | Twitter | Weitere Artikel

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