Die Krise ist Terror für die Seele

Arbeitslosen-Demonstration in Spanien

Arbeitslosen-Demonstration in Spanien

Das Nachrichtengeschäft dieser Tage ist eine einzige Pleite! Morgens, mittags, abends – immer nur Berichte vom Bankrott, vom Versagen demokratischer Sicherungen, von der nahenden Katastrophe. Tagtäglich droht sie ein bisschen mehr, mit jedem neuen Staat, der seinen Schulden-Gau eingestehen muss. Gestern waren es Griechenland, Portugal und Irland. Heute ist es Italien, das Bunga-Bunga-System von Silvio Berlusconi, dessen Sparminister Guilio Tremonti wegen einer Korruptionsaffäre auf der Flucht vor den Staatsanwälten ist. Morgen ist es vielleicht Spanien, das Land, in dem gerade zigtausende Familien wegen Arbeitslosigkeit ihr Dach über dem Kopf verlieren, obwohl in dem Land Millionen Wohnungen leerstehen.

So geht es in einem fort. Und eigentlich mag es schon niemand mehr hören. In ihrer Allgegenwärtigkeit in EU-Gipfeln, Schuldendebatten und immer neuen Hilfspaketen ist die Krise den Menschen alltäglich geworden. Sie ist wie ein Schatten, der sie überall hin begleitet und der irgendwann lästig wird, weil sie ihn nicht abschütteln können und der unentwegt an die stille Furcht vor dem Krisen-Ungeheuer erinnert, die irgendwo tief drinnen an ihnen nagt wie ein schlechtes Gewissen, das beständig Fragen stellt:

Ernährt sich das Tier nicht schon seit vier Jahren von den Steuergroschen der kleinen Leute und wächst dabei prächtig? Wird es nicht immerzu gefräßiger und zerstörerischer? Warum sollte das Monster also plötzlich eingehen und der Spuk eine Ende haben? Jeder Gedanke daran ist pure Illusion, und das Heute ist viel zu real, das wissen die Menschen nur zu genau.

Sie wissen von den Alten in Griechenland, die seit einem Jahr auf ihre Rente warten. Sie wissen um deren Familien, die zur Monatsmitte schon nicht mehr über die Runden kommen. Da ist das stetig anwachsende Heer von jungen Arbeits- und Wohnungslosen in den Pleiteländern. „An diesen jungen Leuten wird geradezu Gewalt verübt“, sagt ihnen nicht nur die innere Stimme.

„Ich möchte das in aller Schärfe betonen: Arbeitslosigkeit ist ein Gewaltakt, ein Anschlag auf die körperliche und seelisch-geistige Integrität, auf die Unversehrtheit der davon betroffenen Menschen“, sagt der Soziologe Oskar Negt. Er spricht von „Raub und Enteignung jener Fähigkeiten und Eigenschaften“ die in der Familie und er Schule erworben wurden. Und er erinnert an den Maler Heinrich Zille, der beim Anblick des Elends im Berliner Arbeitermilieu Ende des 19. Jahrhunderts einmal sinngemäß feststellte, man könne einen Menschen mit einer Wohnung oder auch dem Verlust derselben genauso töten wie mit einer Axt.

Aus der Sicht ihrer Opfer ist die Krise purer Terror. Sie spüren ihn an Leib und Leben. Aber wer sieht das schon? Vom Leid der Opfer des Terrors gibt es keine Bilder. Es gibt keine Schlachtfelder, keine zerstörten Gebäude, keine Leichenteile. Und auch der Terror selbst hat kein Gesicht. Er versteckt sich hinter Zahlen und Grafiken, hinter komplizierten Begriffen für noch unverständlichere Finanzprodukte. Er bleibt abstrakt.

Auch deshalb wohl würde niemand mehr in Panik verfallen, wenn heute eine Bank wie Lehmann zusammenbräche. Ach, ginge es doch nur um eine Bank! Heute geht es um Staaten. Und nicht einmal die Pleite der Griechen und der drohende Bankrott Portugals führten zu einer solch lähmenden Konfusion wie sie damals der erste Schock über das vermeintlich Unmögliche und Unfassbare im Jahr 2008 auslöste.

Dennoch hat die schattenhafte Anwesenheit des Finanzmarkt-Terrors die Menschen verändert. Zwar verkroch sich das anfängliche Entsetzen und Grausen angesichts nicht enden wollender Grausamkeiten immer tiefer in der Seele, tauchte ganz tief ab. Aber dort schmerzt es, da kann der Blick auf die Nachrichten noch so stumpf geworden sein. Und bei einigen besonders Sensiblen oder Vorsichtigen führt dies bereits zu konkreten Handlungen. Die einen horten Lebensmittel für den Fall der Fälle. Überall im Internet gibt es Anleitungen, wie genau so eine Reserve für vier, sechs oder mehr Wochen aussehen muss. Andere kaufen Ackerland, das sie im Fall des Falles selbst bewirtschaften können. Vermögende legen ihr ganzes Geld in Gold an oder kaufen Immobilien. Nichts hat die Immobilienpreise in Berlin seit Monaten so sehr in die Höhe getrieben wie die Schuldenkrise.

Vor drohenden Kriegen verhalten sich die Menschen nicht anders, wenn sie den Verhältnissen nicht mehr trauen. Einerseits sind sie der endlos trüben Botschaften überdrüssig, andererseits erscheint ihnen nichts mehr sicher. Sie taumeln in einer haltlosen Schwerelosigkeit.

Tatsächlich trägt die Krise, wie jeder Terror, Züge eines Krieges. Mit den USA und Europa stehen sich mächtige Gegner gegenüber. Die USA beschuldigen Europa, die Schuldenkrise gefährde die US-Wirtschaft. Europa beschuldigt die USA, deren Ratingagenturen würden die Schuldenkrise befeuern.

Aber auch innerhalb Europas verlaufen die Fronten. Deutschland beschuldigt die Griechen, nicht ordentlich gewirtschaftet zu haben. Die Griechen werfen Deutschland vor, alles nur noch schlimmer zu machen. Die Franzosen bezichtigen die Deutschen der Zögerlichkeit bei allen bisherigen Rettungsversuchen. Deutschland unterstellt den Franzosen Voreiligkeit.

In diesem Krieg geht es nicht um Sieg oder Niederlage, es geht allein darum, beim Ausbruch der Katastrophe nicht der Schuldige zu sein. Aber kann es in solchen Zeiten einen Unschuldigen geben?

Alle miteinander haben sie das angerichtet, was von Tag zu Tag beständig und unaufhaltsam auf ein Finale zuläuft, vor dem keiner flüchten kann und über das sich die Staats- und Parteichefs offenbar keine anderen Gedanken machen als jenen, auf wen sie anschließend mit dem Finger zeigen können. Darüber vergessen sie ihre ureigenste Pflicht, nämlich den Menschen eine Perspektive für die Zukunft aufzuzeigen.

Günther Lachmann am 13. Juli 2011 für Welt Online

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Über Günther Lachmann

Der Publizist Günther Lachmann befasst sich in seinen Beiträgen unter anderem mit dem Wandel des demokratischen Kapitalismus. Er veröffentlichte mehrere Bücher, darunter gemeinsam mit Ralf Georg Reuth die Biografie über Angela Merkels Zeit in der DDR: "Das erste Leben der Angela M." Kontakt: Webseite | Twitter | Weitere Artikel

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